"Wir müssen aufklären und aufarbeiten"

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Im Wortlaut: von der Leyen "Wir müssen aufklären und aufarbeiten"

Verteidigungsministerin von der Leyen will die rechtsextremen Vorfälle in der Bundeswehr systematisch aufklären. Das kündigt sie in einem Interview an. Sie spricht auch über eigene Fehler. So hätte sie früher eingreifen müssen. Zugleich betont sie, die große Mehrheit der Truppe leiste einen anständigen und tadellosen Dienst.

  • Interview mit Ursula von der Leyen
  • Stern
Ursula von der Leyen, Bundesverteidigungsministerin

Von der Leyen: Ich bin jetzt gefordert, in aller Härte aufzuklären

Foto: Bundeswehr/Hannemann

Das Interview im Wortlaut:

Stern: Frau Ministerin, wenn Sie in diesen Tagen in der Truppe unterwegs sind, welches Gefühl überkommt Sie dann: Erstaunen? Entsetzen? Oder sogar Ekel?

Ursula von der Leyen: Nein, Ekel trifft es nicht. Das, was in den vergangenen Tagen und Wochen ans Licht gekommen ist, hat uns allerdings mit Wucht getroffen. Vor allem der Fall des Soldaten Franco A.: Ein Rechtsextremist, der sich eine zweite Identität als syrischer Flüchtling aufgebaut und gleichzeitig in der Bundeswehr Karriere gemacht hat - da ist man erst mal fassungslos.

Stern: Sie haben sich in Illkirch den "Traditionsraum" zeigen lassen. Darin das verherrlichende Bild eines Wehrmachtslandsers. Was denken Sie in so einem Moment?

Von der Leyen: Ich frage mich wie viele andere auch: Was ist da los? Wie ist so etwas möglich? Der Raum war monothematisch hergerichtet. Man glaubt das kaum, wenn man es sieht.

Stern: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Von der Leyen: Ich suche noch nach Antworten. Es gibt gefährliche Initiatoren, aber sicher auch viel Gedankenlosigkeit. Es könnte eine Rolle spielen, dass junge Soldaten heute Eltern und Großeltern haben, die nicht mehr persönlich der Erfahrung von Krieg und Nazidiktatur ausgesetzt waren. Das Grauen von damals vermittelt sich nicht mehr durch Gespräche in den Familien. Das bedeutet für uns als Bundeswehr, dass wir mit den jungen Leuten über diese dunkle Zeit sprechen und immer wieder aufs Neue erklären müssen, warum sie auf keinen Fall traditionsstiftend für die Bundeswehr sein kann. Immerhin kommen jedes Jahr 30.000 Menschen neu zur Bundeswehr.

Stern: Müssen Sie sich selbst Vorwürfe machen, das Thema Rechtsextremismus nicht früher konsequent angegangen zu sein?

Von der Leyen: Ich werfe mir selber vor, nicht früher und tiefer gegraben zu haben. Heute weiß ich, das war ein Fehler.

Stern: Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Von der Leyen: Wir müssen uns einem systematischen, sehr schmerzhaften Prozess der Aufklärung und Aufarbeitung stellen. Der Militärische Abschirmdienst untersucht derzeit 280 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus. Gleichzeitig steigt die Zahl der Meldungen und Zuschriften aus der Truppe. Viele sind nach den jüngsten Ereignissen sensibilisiert.

Stern: Was genau muss aufgeklärt werden?

Von der Leyen: Ich will vor allem die Verhaltensmuster offenlegen, die hinter den empörenden Fällen liegen, vom Rechtsextremismus über Schikane in der Ausbildung bis hin zur sexuellen Herabwürdigung. Welche Ursachen gibt es dafür? Warum konnte das zum Teil über Jahre geschehen? Warum ist das nicht gemeldet worden?

Stern: Was verbindet diese Fälle?

Von der Leyen: Es wurde weggeguckt und verharmlost. Es gab in diesen Fällen schweres Führungsversagen. Wie kann eine Masterarbeit wie die von Soldat A., die von der ersten bis zur letzten Zeile völkisches und rassistisches Denken enthält, von zwei Vorgesetzten so unter den Teppich gekehrt werden, dass der Verfasser nicht nur mit Auszeichnung seine Karriere in der Bundeswehr fortsetzen kann, sondern auch noch als Berufssoldat übernommen wird? Und das, obwohl es ein Gutachten einer anderen Bundeswehrstelle gab, das die Arbeit als eindeutig rechtsextremistisch bewertet? Wie kann es sein, dass sich Soldatinnen und Soldaten an einem anderen Standort ausziehen und dann eine Untersuchung im Genital- und Analbereich über sich ergehen lassen mussten? Dass davon auch noch Videoaufnahmen gemacht wurden, unter dem Deckmantel, das gehöre zur Ausbildung?

Stern: Viele Lehrgänge haben diese "Ausbildung" durchlaufen. Konsequenzen? Keine.

Von der Leyen: Doch, nur viel zu spät. Erst als nach Monaten eine beherzte Soldatin ihren Protest bis zu mir und dem Wehrbeauftragten getragen hat, sind die Verantwortlichen abgelöst worden. Zuvor wurden Verletzungen der Menschenwürde von vorgesetzter Ebene kleingeredet.

Stern: Es kommen beinahe täglich neue Widerwärtigkeiten ans Licht: Verherrlichung der Wehrmacht, Hakenkreuze, ausländerfeindliche Sprüche. Hätten Sie all das vor Wochen für möglich gehalten?

Von der Leyen: Zum Teil sind die Vorfälle schon lange bekannt und hart bestraft worden - bis hin zur Entlassung. Da hat die innere Führung gegriffen. Im Gegensatz zum Fall Franco A.

Stern: Dennoch sagen Sie, all das sei nicht repräsentativ für die Bundeswehr. Klingt nicht überzeugend.

Von der Leyen: Wenn wir über die gesamte Bundeswehr reden, reden wir über eine Viertelmillion Menschen. Sie leisten Dienst für unser Land in Afghanistan, im Irak, dem Mittelmeer, in Mali und an mehr als 300 Standorten bundesweit. Die übergroße Mehrheit macht das tagtäglich anständig und tadellos. Jeden Tag werden auch Dutzende kleinere und größere Vergehen durch Vorgesetzte korrekt geahndet. Dafür gebührt ihnen Dank und Anerkennung. Deswegen tut es mir auch leid, dass ich diese Botschaft vor meiner Kritik am Rechtsextremismus nicht ebenso deutlich formuliert habe.

Stern: Ist die Bundeswehr eine rechte Truppe?

Von der Leyen: Nein, sie ist keine rechte Truppe.

Stern: Sind 280 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus nur 280 Einzelfälle? Liegt dahinter nicht ein strukturelles Problem?

Von der Leyen: Die Bundeswehr ist Teil der Gesellschaft. Insofern finden Sie dort leider Einstellungsmuster und Verhaltensweisen, die Sie auch außerhalb antreffen.

Stern: Also alles nicht so schlimm?

Von der Leyen: Im Gegenteil. Auch wenn die Zahlen seit Jahren eher sinken, müssen wir an uns höhere Maßstäbe anlegen. Denn wir bilden Menschen an Waffen aus, bis zum Einzelkämpfer. Deswegen null Toleranz im Umgang mit Rechtsextremismus.

Stern: Wie stark leidet der Ruf der Bundeswehr unter den Vorfällen?

Von der Leyen: Das beeinflusst das Bild der Bundeswehr, gar keine Frage. Aber jetzt hängt auch viel davon ab, wie entschlossen wir die Fälle aufarbeiten. Auch unter den Soldatinnen und Soldaten ist die Betroffenheit groß.

Stern: Für Rechte und Rechtsextreme ist die Bundeswehr attraktiv. Sie treffen hier auf Gleichgesinnte, erhalten militärische Ausbildung, kommen an Waffen, an Munition. Wie groß ist die Gefahr, dass die Armee von rechts unterwandert wird?

Von der Leyen: Das Interesse gibt es wohl, deswegen müssen wir sehr wachsam sein. Ab 1. Juli gibt es eine Sicherheits- Überprüfung jedes Rekruten.

Stern: Existieren in der Bundeswehr rechtsextreme Netzwerke?

Von der Leyen: Die Ermittlungen dazu dauern an. Aber Franco A. war mit großer Wahrscheinlichkeit kein "einsamer Wolf": Wenn man sich anschaut, dass der Mann ein Leben als syrischer Flüchtling in einer Flüchtlingsunterkunft geführt und gleichzeitig Karriere in der Bundeswehr gemacht hat - das kann er unmöglich ohne Unterstützung von anderen hingekriegt haben.

Stern: Wenn Sie zum Truppenbesuch erscheinen, führt man Ihnen eine blank geputzte Bundeswehr vor. Sie wissen nicht, was in den Köpfen der Soldaten vor sich geht. Macht Ihnen diese Vorstellung manchmal Angst?

Von der Leyen: Nein, das ist in anderen Berufen nicht anders. Aber genau aus diesem Grund haben wir den Kriminologen Christian Pfeffer gebeten, für uns eine Dunkelfeldstudie zu machen, breit angelegt und anonymisiert. Das gehört zum Aufarbeitungsprozess dazu. Wir wissen nicht, ob mehr Soldaten gemobbt oder herabgewürdigt wurden und ob man denen vielleicht jahrelang kein Gehör geschenkt hat. Diese Menschen müssen die Chance bekommen, sich zu äußern. Viele melden sich bereits jetzt über die neue Anlaufstelle. Deshalb bereite ich die Truppe darauf vor, dass noch mehr Unangenehmes hochkommen kann.

Stern: Wussten Sie eigentlich, dass die Fallschirmjäger heute noch gern das "Kreta"-Lied singen? Es erinnert an die Eroberung Kretas durch deutsche Fallschirmjäger während des Zweiten Weltkriegs.

Von der Leyen: Der Generalinspekteur hat mir vor Kurzem davon erzählt.

Stern: Im Zusammenhang mit den aktuellen Fällen?

Von der Leyen: Ja. Der Generalinspekteur hat deswegen alle Inspekteure der Bundeswehr angewiesen, die Einhaltung der Regeln zum Traditionsverständnis in Bezug auf Nationalsozialismus und die Wehrmacht in allen Kasernen zu untersuchen.

Stern: Fängt Führungsschwäche nicht an der Spitze des Verteidigungsministeriums an? Also bei Ihnen als IBuK, als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt?

Von der Leyen: Ich trage die Gesamtverantwortung für die Bundeswehr. Ich scheue diese Verantwortung nicht. Sie können mir ankreiden, nicht früher und energischer eingegriffen zu haben. Das kreide ich mir selbst auch an. Aber einen Fall wie Franco A. habe ich mir nicht ausmalen können. Das überstieg meine Fantasie.

Stern: Müssen Sie zurücktreten, Frau Ministerin?

Von der Leyen: Nein.

Stern: Wann wäre der Punkt gekommen?

Von der Leyen: Das ist eine hypothetische Frage. Der Punkt ist nicht da. Ich bin jetzt gefordert, in aller Härte aufzuklären. Niemand, vom General bis zum Rekruten, darf zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen einen Prozess in Gang setzen, damit wir in den Bereichen Ausbildung und demokratische Erziehung, Traditionsverständnis sowie Einhaltung unserer Werte und Regeln besser werden bis in die letzten Verästelungen der Truppe hinein.

Stern: Was bedeutet das konkret?

Von der Leyen: Es muss in Zukunft klar sein: Was ist notwendige Härte in der militärischen Ausbildung und wo fängt Schikane an? Was unterliegt der Meinungsvielfalt in der Bundeswehr und wann verlässt jemand die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Dieser Prozess wird in den kommenden ein, zwei Jahren breiten Raum einnehmen.

Stern: In der Truppe werden Sie "Eisprinzessin" genannt. Klingt nicht nach einem innigen Verhältnis zwischen der Ministerin und ihren Soldaten.

Von der Leyen: Habe ich noch nie gehört. Vergessen Sie das.

Stern: Sie kämpfen um Ihr politisches Überleben. Der Vorwurf: Sie inszenieren sich als unbarmherzige Aufklärerin und Sauberfrau, um selber heil aus der Sache rauszukommen - auf Kosten der Soldaten.

Von der Leyen: Sie zeichnen da ein sehr einseitiges Bild, auch was die Stimmung in der Truppe betrifft. Ich bekomme viel Zustimmung für die Aufklärung von Mobbing, herabwürdigenden Praktiken in der Ausbildung sowie Fällen von Rechtsextremismus und falschem Traditionsverständnis.

Stern: Der Chef des Bundeswehr-Verbandes sagt: "Das kann keiner nachvollziehen, wie sich eine Ministerin jetzt sozusagen auf die Tribüne verabschiedet und über ihre Mannschaft urteilt.“

Von der Leyen: Es gibt in einer solchen Situation keine Tribüne, ich bin mittendrin.

Stern: Sie sind durch und durch Zivilistin. Spüren Sie eine kulturelle Fremdheit gegenüber dieser waffenstarrenden, immer noch von Männern dominierten Welt mit ihren seltsamen Ritualen, den Uniformen, dem Tschingderassabum?

Von der Leyen: Wieso? Aus gutem Grund sind Minister immer Zivilisten. Und gute Rituale stiften etwas Gemeinsames, Verbindendes. Militärmusik, das Gedenken an gefallene Soldaten, das Ehrenmal am Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums, der "Wald der Erinnerung" nahe Potsdam, der einen Ort für persönliche Trauer schafft - all das hat einen hohen Wert. Die Bundeswehr steht in schweren Einsätzen, es geht dabei immer auch um Leben und Tod. Das ist doch aber nichts Fremdes. Der Umgang mit dem Tod berührt auch Menschen wie mich, die keine Uniform tragen.

Stern: 41-Stunden-Woche, Kinderbetreuung, Flachbildfernseher in den Kasernen: Sie erwecken manchmal den Eindruck, Sie arbeiteten wie der CEO eines Unternehmens, das Sicherheit produziert. Da prallen Welten aufeinander: das raue Militär - und Ihre McKinsey-hafte Herangehensweise.

Von der Leyen: Warum ist es ein Problem, wenn wir im Soldaten, in der Soldatin auch den Menschen und seine Bedürfnisse sehen? Und was ist falsch an mehr Transparenz und Effizienz im Rüstungsbereich?

Stern: Soldat ist kein Beruf wie jeder andere. Es geht im Ernstfall ums Töten und Getötet-Werden.

Von der Leyen: Im Grundbetrieb der Bundeswehr geht es nicht um Töten und Getötet-Werden. Da arbeiten 250.000 Menschen. Das sind Väter und Mütter mit Kindern wie Sie und ich auch. Sie sollen Familie und Beruf genauso gut unter einen Hut bringen können wie alle anderen auch. Gerade weil sie in gefährlichen Einsätzen bereit sind, das Kostbarste für unser Land zu geben, nämlich ihr Leben, haben sie das Recht, hier zu Hause mindestens so gut wie alle anderen behandelt zu werden.

Stern: Jede Armee braucht aber auch einen eigenen Mythos und identitätsstiftende Traditionen. Offenbar ist die Bundeswehr in dieser Hinsicht unterversorgt. Einige in der Truppe beklagen, sie sei eine unromantische Veranstaltung.

Von der Leyen: Das sehe ich nicht so. Es gibt kein Vakuum im Traditionsverständnis. 60 Jahre Bundeswehr begründen eine Geschichte, auf die wir stolz sein können. Zum Beispiel Maik Mutschke, ein Mannschaftssoldat, der in Afghanistan unter Einsatz seines Lebens Kameraden gerettet hat und dabei selbst schwer verwundet wurde - ist er kein Vorbild für unsere Soldaten, an dem man sich orientieren kann?

Stern: Wenn eine Armee nicht mitten in der Gesellschaft steht und deren Anerkennung spürt, suchen sich Soldaten ihre Anerkennung dann in seltsamen Ritualen und im Rückgriff auf eine angeblich heldenhafte Vergangenheit zu Zeiten der Wehrmacht?

Von der Leyen: Aber unsere Armee ist doch Teil unserer Gesellschaft! Hoffentlich führt das klärende Gewitter jetzt stärker zu dem Bewusstsein, dass die Militäreinsätze der Bundeswehr in den letzten Jahren identitätsstiftend sind. Für viele, viele Soldaten speist sich daraus heute schon ihr Selbstverständnis. Vielleicht müssen wir das noch stärker herausarbeiten. Wir können stolz sein auf 60 Jahre Bundeswehr und viele mutige Taten, wir müssen sie nicht verstecken.

Stern: War es ein Fehler, in Deutschland die Wehrpflicht auszusetzen?

Von der Leyen: Nein. Die Wehrpflicht war am Ende ungerecht, auf sechs Monate beschränkt und nur mit einem riesigen Aufwand an Personal und Infrastruktur aufrechtzuerhalten.

Stern: Machotum, Homophobie, Soldatentümmelei, Wehrmachtsseligkeit all das hat in einer Wehrpflichtarmee, die die Breite unserer Gesellschaft widerspiegelt, weniger Chancen.

Von der Leyen: Das ist eine steile These.

Stern: Warum?

Von der Leyen: Die Täter in all den Fällen, über die wir aktuell reden, sind zu Zeiten der Wehrpflichtarmee zur Bundeswehr gekommen. Die Wehrpflicht dient der Verteidigung des Landes. Die richtige Haltung der Truppe müssen und können wir mit anderen Mitteln sicherstellen.

Das Interview führten Tilman Gerwien und Jens König für den

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