Sat1-Sommerinterview mit Bundeskanzlerin Merkel

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Das Interview im Wortlaut:

Sat1: Guten Tag auch meinerseits. Frau Bundeskanzlerin, gehen wir gleich zu den wichtigen Themen. Der Nato-Gipfel in der vergangenen Woche in Wales - die Botschaft war ziemlich eindeutig, nämlich die Nato bereitet sich vor auf neue Herausforderungen, neue Gefährdungen möglicherweise aus dem Osten. Heißt das nicht mit anderen Worten, wir marschieren direkt in einen Kalten Krieg?

Angela Merkel: Nein, das heißt es nicht. Wir sind vorbereitet. Wir haben Dinge erlebt, auf die wir reagieren mussten, und das hängt zusammen mit der Ukraine, mit dem, was wir in diesen Tagen erleben in Donezk, in Lugansk, mit der Annexion der Krim - wirklich harte Verletzungen des Völkerrechts, Nichtakzeptanz der territorialen Integrität eines Landes.

Und das bedeutet für die Nato, dass sie sich darauf vorbereiten muss, deutlich zu machen, wir schützen die Mitgliedstaaten der Nato, zum Beispiel die Baltischen Staaten oder auch Polen, aber genau so Rumänien und Bulgarien. Das haben wir getan, gleichzeitig aber auch gesagt, die Tür für Gespräche bleibt offen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Nato-Russland-Akte nicht aufgehoben wird, sondern dass wir deutlich machen, wir halten uns an unsere Versprechen und Grundsätze.

Sat1: Aber noch einmal nachgefragt. Wir als Nato-Mitglied Deutschland - was ist Russland für uns jetzt? Ist Russland noch ein Partner? Die Partnerschaft wurde ja einseitig durch Russland aufgekündigt. Ist Russland ein Feind, ist Russland ein Gegner? Wie würden Sie ihn bezeichnen?

Merkel: Wir haben tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten mit Russland. Russland kann jederzeit wieder ein guter Partner sein. Im Augenblick stehen die Meinungsverschiedenheiten im Vordergrund, aber Sie wissen: Neben all den Maßnahmen von Sanktionen und auch von Verbesserung der militärischen Präsenz sagen wir, die Tür für Gespräche bleibt weiter offen.

Sat1: Frau Bundeskanzlerin, Europa hat versucht, Putin mit Sanktionen, mit zum Teil erheblichen Sanktionen massiv unter Druck zu setzen. Reichen diese Strafmaßnahmen aus, auch mit Blick auf die Zukunft, um Wladimir Putin langfristig an die Leine legen zu können?

Merkel: Schauen Sie, wir haben von Anfang an gesagt, es gibt keine militärische Lösung des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Dazu stehen wir. Das leitet uns. Wenn das so ist und wir trotzdem sehen, dass Grundprinzipien unserer Nachkriegsordnung nicht eingehalten werden wie zum Beispiel die Akzeptanz von Grenzen, dann brauchen wir natürlich trotzdem ein Mittel, um auch deutlich zu machen, dass wir nicht einverstanden sind.
Ich glaube, dass Sanktionen ein geeignetes Mittel sind. Sie können manchmal mit ihrer Wirkung auch eine gewisse Zeit brauchen, das ist gar keine Frage, aber es ist das Mittel, wenn man sagt, militärische Mittel kommen nicht in Frage - und davon bin ich zutiefst überzeugt.

Sat1: Putin spricht ja ganz offiziell von Neurussland, wenn er über die Ostukraine unter anderem spricht. In der Ostukraine, so hören wir von Korrespondenten, wird heutzutage nur noch mit Rubel bezahlt. Es wird nur noch Russisch gesprochen. Ist die Ostukraine schon für Kiew eindeutig verloren?

Merkel: Also wir müssen jetzt aufpassen, was ist die Ostukraine. Es gibt jetzt zwei Gebiete, das sind Donezk und Lugansk. In denen gibt es eine Präsenz der sogenannten Separatisten, die ganz offensichtlich ja von Russland gelenkt werden. Als jetzt der Friedensplan unterschrieben wurde, war ja ganz wesentlich Russland an der Ausarbeitung beteiligt. Die Separatisten haben es einfach abgezeichnet. Da sieht man die enge Verbindung.
Und dann gibt es in der Ostukraine viele Städte von Odessa über Saporoschje nach Charkiw - also wir dürfen nicht so tun, als ob das die ganze Ostukraine ist. Und es gibt - daran muss noch einmal erinnert werden - doch eine deutliche Zustimmung auch zu dem Präsidenten Poroschenko in diesen Gebieten. Denn der Präsident Poroschenko, als er im Mai gewählt wurde, hatte in allen Distrikten, die wählen konnten, eine Mehrheit vor allen anderen Kandidaten. Deshalb geht es darum, sehr viel für die Einheit der Ukraine zu tun und auch zu den östlichen Gebieten - und die sind mehr als Lugansk und Donezk.

Sat1: Ich möchte noch einmal auf Wladimir Putin zurückkommen. Man sagt Ihnen ja nach, Sie hätten einen guten Draht zum russischen Präsidenten angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate. Gibt es diesen Draht überhaupt noch zwischen Ihnen, und wenn ja, wie belastet ist er jetzt?

Merkel: Es gibt eine Gesprächsfähigkeit. Ich finde, das ist auch wichtig. Die gab es selbst im Kalten Krieg immer, und die sollten wir uns unbedingt erhalten. Aber das zeigt ja nicht darüber hinweg, dass es deutliche Meinungsunterschiede gibt.
Es gibt zum Beispiel Gebiete, in denen versuchen wir jetzt auch, Einigungen zu erreichen - zum Beispiel das Thema Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Hier gibt es etliche Vorbehalte von Russland. Es wird in diesen Tagen verhandelt, ob man diese Vorbehalte auch mit aufnehmen kann und eine vernünftige Regelung findet.
Die Europäische Kommission war in Minsk vertreten, das heißt die Gesprächskanäle sind da und sollen auch weiter da sein. Insofern glaube ich, kann man immer sagen, dass Gesprächsbereitschaft besteht, aber Meinungsverschiedenheiten können nicht unter den Tisch gekehrt werden.

Sat1: Sie kennen offenbar Putin ganz gut. Können Sie uns einmal erklären, was diesen Mann antreibt? Ist es möglicherweise die Sucht, das Streben nach Macht, nach mehr Einfluss, oder was treibt diesen Mann an?

Merkel: Ich bin deutsche Bundeskanzlerin und muss erst einmal die Interessen Deutschlands vertreten. Ich bin jetzt keine Interpretatorin anderer Regierungschefs.
Was ich feststelle und was alle feststellen, ist, dass wir aus vielen Reden auch von Militärs wissen, dass doch die Nato, dass alle Nato-Mitgliedstaaten in gewisser Weise auch als Gegner betrachtet werden einer anderen Einflusssphäre. Der russische Präsident sucht seine Einflusssphäre abzustecken auch unter Verletzung und Zerstörung der territorialen Integrität anderer Länder. Das ist der Befund.
Wir sind der Überzeugung, ein Land auch wie die Ukraine muss die Möglichkeit haben, sich frei zu entscheiden, wie sie sich orientieren wollen. Wenn die Ukraine mit der Mehrheit ihrer Bevölkerung sagen würde, wir möchten uns gerne Russland zuwenden, zur Eurasischen Wirtschaftsunion stoßen - kein Mensch in Europa würde ihnen deshalb einen Vorwurf machen.
Nun haben sie aber gesagt, sie möchten sich näher an die Europäische Union binden. Das ist offensichtlich eine Verletzung dessen, was der russische Präsident als seine Einflusssphäre sieht.
Im übrigen hat die Ukraine deutlich gemacht, sie will auf absehbare Zeit zum Beispiel gar nicht Nato-Mitglied werden; zumindest wurde das vor vielen Wochen immer wieder so gesagt. Also es gibt hier eine unterschiedliche Wahrnehmung, und das muss ausgetragen werden, und zwar mit friedlichen Mitteln.

Sat1: Es ist nicht nur die Ukraine, die die Nachrichtensendungen, die die Schlagzeilen derzeit bestimmt, es ist auch der Terror des IS, der aus Teilen Syriens und dem Irak ein Kalifat machen möchte, errichten möchte. Deutschland liefert Waffen und militärische Technologie. Gab es Momente, in denen Sie vielleicht unsicher gewesen sind, ob diese Entscheidung die richtige ist?

Merkel: Wir haben es hier mit einer wirklich extremen terroristischen Gruppe zu tun, die, wie Sie schon sagten, einen übergreifenden Anspruch auf einen islamistischen Staat hat, die alle Andersdenkenden nicht nur benachteiligt, sondern tötet, verschleppt und unfassbare Gewalt anwendet. Und wir haben es mit einer Situation zu tun, wo ein Teil der Kämpfer dieser IS auch aus Deutschland oder anderen europäischen Staaten kommen; das heißt, es ist auch eine Verbindung zu uns da, denn diese Menschen können auch zurückkehren und auch sozusagen bei uns die Sicherheit in Frage stellen.
Und deshalb haben wir uns entschieden, dass wir Waffen an die kurdische Regionalarmee liefern, mit Einverständnis der Zentralregierung im Irak, weil wir glauben, dass eine politische Lösung des Konflikts, die wir auch hier brauchen, nur möglich ist, wenn erst einmal militärisch verhindert wird, dass die Menschen, für die wir eintreten wollen, alle ermordet sind oder verschleppt. Es gab, um das klar zu sagen, eine sorgsame Abwägung. In den Medien wurde ja manchmal gesagt, warum braucht ihr ein paar Tage? So etwas muss man sorgsam abwägen. Aber die Argumente für eine solche Waffenlieferung haben zum Schluss stärker gewogen als die Risiken, von denen wir durchaus auch gesprochen haben, aber von denen wir glauben, dass sie beherrschbar sind.

Sat1: Frage: Wie groß ist die Terrorgefahr in Deutschland jetzt? Denn dass eine solche tatsächlich existiert, auch angesichts aktueller Ereignisse, können Sie ja nicht verneinen.Sat1: Frage: Wie groß ist die Terrorgefahr in Deutschland jetzt? Denn dass eine solche tatsächlich existiert, auch angesichts aktueller Ereignisse, können Sie ja nicht verneinen.

Merkel: Wir haben jetzt keine spezifischen Hinweise auf eine terroristische Bedrohung. Dass wir insgesamt zu kämpfen haben, dass wir eine Reihe von Salafisten haben, dass wir immer wieder achten müssen und darauf bedacht sein müssen, dass allen terroristischen Bedrohungen nachgegangen wird, das ist seit geraumer Zeit so und hat sich durch die Existenz der Gruppe IS nicht verringert. Aber die Menschen brauchen jetzt vor einer spezifischen Gefahr auch keine Angst zu haben. Da haben wir keine Anzeichen.

Sat1: Nach Deutschland: In Wuppertal patrouilliert nachts eine selbsternannte Scharia-Polizei. Sie hält Jugendliche an, möglicherweise vom Alkoholkonsum Abstand zu nehmen, junge Frauen werden gebeten, etwas züchtiger zu erscheinen, möglicherweise mit Kopftuch rum zu laufen, und gegebenenfalls auch werden sie animiert, die jungen Leute, zu konvertieren zum Islam. Beunruhigt Sie so etwas?

Merkel: Ja, das ist natürlich absolut nicht in Ordnung, und deshalb war es richtig, dass sowohl der Bundesinnenminister als auch der Landesinnenminister von Nordrhein-Westfalen sehr deutlich gemacht haben, es gibt ein Gewaltmonopol des Staates; niemand anders ist befugt, sich in die Rolle der Polizei hinein zu schleichen. Und deshalb muss hier den Anfängen gewehrt werden. Und es ist richtig, wie reagiert wurde.

Sat1: Ein weiteres Thema..., die geplante Pkw-Maut auf unseren Straßen. Auf welchen genau, werden wir hoffentlich bald erfahren. Horst Seehofer scheint extrem verärgert. Er hat von Sabotage gesprochen, er hat Minister Schäuble angesprochen - der Vorwurf, er wolle die Maut verhindern. Wo bleibt denn jetzt eigentlich Ihr Machtwort?

Merkel: Es geht gar nicht um Machtworte, sondern es geht um die Einhaltung der Koalitionsvereinbarung. Die Maut ist dort niedergelegt als ein Projekt, das auch gerade aus der CSU eingebracht wurde in die Koalitionsverhandlungen. Und dieses Projekt werden wir umsetzen. Da gibt es natürlich Diskussionen, die man führen muss, weil es ja auch etwas ist, was wir bisher noch nicht so gemacht hatten. Aber ich darf Ihnen versichern, dass alle Ressorts konstruktiv daran mitarbeiten, die Themen, die man diskutieren muss, auch zu diskutieren. Der Bundesverkehrsminister wird einen Gesetzentwurf erstellen. Und auf der Basis der Eckpunkte und des Gesetzentwurfes werden dann alle Fragen geklärt.

Sat1: Aber es gibt schon einen Kompromiss...?

Merkel: Nein, das ist ja auch ganz normal. Wir arbeiten an allen Gesetzgebungsvorhaben und gerade auch an denen, die komplexer sind, ja über viele Monate. Und dass hier auch die Argumente hin und her gewogen werden, ist richtig. Ich habe immer gesagt, es muss europarechtlich geprüft werden, es muss verfassungsrechtlich geprüft werden. Aber der Gesetzgebungsprozess wird wie bei allen anderen fortgesetzt.

Sat1: Ein anderes Thema scheint ausdiskutiert zu sein, nämlich Hartz IV, die Erhöhung der Regelsätze; zumindest ist das zu hören? Können Sie das bestätigen, dass die Regelsätze erhöht werden sollen?

Merkel: Ich kann Ihnen bestätigen, dass wir demnächst im Kabinett darüber entscheiden. Die Entscheidung kann ich nicht vorher bekannt geben, aber ich darf sagen, dass die Erhöhung von Hartz-IV-Sätzen nach einem ganz festen Rhythmus erfolgt. Das ist uns vorgegeben, auch durch das Bundesverfassungsgericht. Zu etwa 70 Prozent hängt es ab von den Teuerungsraten, also von der Inflationsrage, und der andere Anteil hat etwas zu tun mit der Lohnentwicklung, der gesamten. Und aus dieser Kombination setzt sich dann die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes zusammen. Und wir hoch das genau sein wird, werden Sie in Kürze erfahren.

Sat1: Wir haben noch Zeit für eine Zuschauerfrage...: Wieso gibt es immer mehr Armut in Deutschland? Warum wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer - und vor allem -, warum müssen in unserem Land so viele Kinder in Armut leben?

Merkel: Wenn man sich die letzten Jahre anschaut, so ist die Schere zwischen Arm und Reich nicht signifikant größer geworden. Aber es gibt zu viele arme Kinder, daran gibt es gar keinen Zweifel. Das hängt sehr häufig damit zusammen, dass die Eltern arbeitslos sind. Und deshalb war es sehr wichtig, dass wir in den letzten Jahren schon mehr Arbeitsplätze haben, deutlich mehr, deutlich weniger Langzeitarbeitslose, aber immer noch zu viele. Und deshalb müssen wir vor allen Dingen bei der Langzeitarbeitslosigkeit ansetzen.
Die Sozialministerin hat ein Programm zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit aufgelegt, wo wir uns genau solche Elternhäuser anschauen. Und wenn die Eltern Arbeit haben, geht es den Kindern dann auch besser. Und der Mindestlohn ist ja auch ein Beitrag dazu, dass die, die sehr wenig verdient haben und vielleicht noch aufstocken mussten, das in Zukunft nicht mehr müssen.

Das Interview führten für Sat1 Anchor Marc Bator und Hans-Peter Hagemes