Rede von Staatsministerin Grütters anlässlich der 2. und 3. Lesung eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer oder eines SED-Opferbeauftragten

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Im Wortlaut Rede von Staatsministerin Grütters anlässlich der 2. und 3. Lesung eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer oder eines SED-Opferbeauftragten

"Die Stasi-Unterlagen bleiben unverzichtbar für die umfassende Aufarbeitung des SED-Unrechts", so die Stsstaministerin für Kultur und Medien. "Nicht minder wichtig als die vorgesehenen Neuregelungen ist der breite politische und gesellschaftliche Konsens, der diese Neuregelungen trägt" unterstrich sie in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag.

Donnerstag, 19. November 2020

Am 15. Januar 1990 stürmten Bürgerinnen und Bürger die Zentrale der Staatssicherheit der ehemaligen DDR in der Berliner Normannenstraße und bewahrten damit unzählige Stasi-Akten vor der Vernichtung. Zwei Jahre später öffnete der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ – kurz: BStU – seine Pforten. Weltweit zum ersten Mal hatten Menschen damit die Möglichkeit, nach dem Sturz einer Diktatur nachzuvollziehen, welche Informationen die Geheimpolizei über sie gesammelt hatte und wer die Spitzel waren. Die rechtsstaatliche Grundlage dafür hatte der Deutsche Bundestag Ende 1991 mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes geschaffen.

Wenn wir heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die Eingliederung der Stasi-Akten in die Verantwortung des Bundesarchivs und die Einsetzung einer oder eines SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag beschließen, ist dies keinesfalls der Schlusspunkt, sondern im Gegenteil: die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschen Vorzeichen – eine „späte deutsch-deutsche Vereinigung“, wie es vor ein paar Tagen in einer Sonntagszeitung treffend formuliert war. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat der BStU im Umgang mit den Schicksalen der Stasi-Opfer und den gesammelten Informationen stets ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Dafür danke ich insbesondere den Bundesbeauftragten Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn.

Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir die Stasi-Unterlagen dauerhaft und für künftige Generationen bewahren: als Teil unseres gesamtstaatlichen Gedächtnisses unter dem Dach des Bundesarchivs und im Kontext weiterer Archivbestände, die einen Bezug zur ehemaligen DDR und zur Zeit der deutschen Teilung haben. Wir führen die Kompetenzen und Erfahrungen des Bundesarchivs und des Stasi-Unterlagen-Archivs zusammen, deren Beschäftigte künftig in einer Behörde tätig sein werden. Die Zugänglichkeit der Stasi-Akten an den jetzigen Standorten und die besonderen gesetzlichen Regelungen zur Akteneinsicht bleiben unverändert weiter bestehen. Dabei muss im Übrigen niemand befürchten, höhere Gebühren bezahlen zu müssen. Zugleich verbessert sich der Zugang zu den Akten, die künftig deutschlandweit auch an sämtlichen Standorten des Bundesarchivs und digital eingesehen werden können. Die im Gesetz vorgesehene Ombudsperson für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag wird sich für die Belange dieser Menschen einsetzen. 

Nicht minder wichtig als die vorgesehenen Neuregelungen ist der breite politische und gesellschaftliche Konsens, der diese Neuregelungen trägt. Sie sind das Ergebnis eines langen Prozesses politischer und gesellschaftlicher Verständigung mit kontroversen, durchaus auch emotional geführten Debatten. Konflikte zuzulassen und auszutragen, ist Teil der Aufarbeitung leidvoller Diktaturerfahrungen in einer Demokratie. Das ist mühsam, das kann gerade für die Betroffenen auch schmerzhaft sein. Umso mehr freue ich mich über das breite Bündnis für die Zukunft der Aufarbeitung der SED-Diktatur, das heute hinter diesem Gesetz steht. Es ist auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzepts des BStU und des Bundesarchivs entstanden, das der Bundestag 2019 mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und Grünen gebilligt hat. Es wurde aus der Mitte des Bundestages eingebracht. Es wurde unter anderem mit den Opferverbänden beraten und wird von ihnen unterstützt. Und heute können wir es hoffentlich mit breiter Mehrheit verabschieden, meine Damen und Herren.

Die Stasi-Unterlagen bleiben unverzichtbar für die umfassende Aufarbeitung des SED-Unrechts. Sie können uns helfen, das Bewusstsein für den Wert eines demokratischen Rechtsstaats auch in künftigen Generationen lebendig zu halten. Denn sie dokumentieren, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Menschen, die man bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, wurden zermürbt durch Schikanen im Alltag, durch willkürliche Inhaftierungen, durch Verunsicherung und Isolation. Sie wurden gedemütigt, entwürdigt, misshandelt oder kamen gar zu Tode. Lebenswege wurden verhindert, Familien zerstört. Die Denunzianten waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde. Mit diesem engmaschigen Netz der Beobachtung, unter dem Misstrauen und Angst gediehen, unterhöhlte der Staatssicherheitsdienst das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft.

Die Stasi-Akten offenbaren aber auch den unbeugsamen Widerstandsgeist der Gegnerinnen und Gegner des SED-Regimes und die Zivilcourage vieler Menschen in der DDR, die den Machthabern im Streben nach Freiheit und Demokratie die Stirn boten. Der Schriftsteller Reiner Kunze hat die knapp 3.500 Seiten seiner Stasi-Akte zu einer Dokumentation mit dem Titel „Deckname Lyrik“ verarbeitet und in seinem „Vers zur Jahrtausendwende“ die Haltung formuliert, mit der er selbst dem SED-Regime bis zu seiner Ausbürgerung standhielt: „Wir haben immer eine wahl, / und sei’s, uns denen nicht zu beugen, / die sie uns nahmen.“

Im Gegensatz zu einer Diktatur ist Demokratie korrektur- und lernfähig und eröffnet Handlungs- und Mitgestaltungsspielräume. Meine Hoffnung ist, dass die Auseinandersetzung mit den Stasi-Unterlagen den Blick eben dafür schärft und auf diese Weise die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen totalitäre Ideologien und gegen populistische Demokratieverächter stärkt. In diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Eingliederung des Stasi-Unterlagen-Archivs in die Verantwortung des Bundesarchivs.

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