Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zur Ausstellungseröffnung „London 1938. Mit Kandinsky Liebermann und Nolde gegen Hitler“

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Art is about sharing“, beschrieb der berühmte britische Künstler David Hockney einmal das Ansinnen seiner Kunst, mit der er den Menschen etwas näher bringen möchte.

Vermutlich würden manche Künstlerinnen und Künstler ihr Selbstverständnis anders formulieren, denn was sie uns nahe bringen und mit uns teilen wollen, ihre Beweggründe, Anliegen und Botschaften sind so individuell und so vielfältig wie sie selbst und wie auch ihre Kunst. Dass ihnen in ihren Ausdrucksformen dabei keine Grenzen gesetzt werden, gehört zu den bedeutendsten Errungenschaften unserer demokratischen Grundordnung im heutigen Deutschland. Doch nicht immer war die Kunst so frei - daran erinnert uns die Ausstellung „London 1938. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler“. Ich freue mich, dass wir heute deren Eröffnung hier in der wunderbaren, mir sehr vertrauten Liebermann-Villa am Wannsee feiern!

Die Ausstellung ist die Rekonstruktion einer Kunstschau, die im Sommer 1938 großes Aufsehen erregte: Unter dem Titel „Twentieth Century German Art“ zeigte die Londoner New Burlington Gallery rund 300 Kunstwerke, deren Schöpferinnen und Schöpfer von den Nationalsozialisten verfemt und verfolgt wurden, deren Kunst als „entartet“ diffamiert worden war. So war die Londoner Schau eine großartige Ehrenrettung dieser deutschen Künstlerinnen und Künstler, deren Namen das gesamte Spektrum der Kunst des 20. Jahrhunderts repräsentierten. Und sie war noch weit mehr als eine Ehrenrettung; die Schau, die ursprünglich den Titel „Banned Art“ tragen sollte, war ein Licht der Hoffnung in der dunkelsten Zeit der europäischen Geschichte. Sie war ein ermutigendes Bekenntnis zur Freiheit der Kunst und ein Akt der Solidarität über Ländergrenzen hinweg. Als unmittelbare und international größte Antwort auf die unsägliche Propagandaschau des NS-Regimes unter der verächtlichen Bezeichnung „Entartete Kunst“ setzte sie dieser als ausdrückliche Protestaktion eine Würdigung der deutschen Moderne in der Kunst entgegen.

Nicht nur die Ausstellung als solche, auch ihre Initiatoren und Kuratoren verkörperten einen Akt der Solidarität über Ländergrenzen hinweg: so war es eine internationale Gruppe aus Kunsthistorikern, Kritikern und Galeristen - viele davon Emigranten - die die logistische Meisterleistung vollbrachten, Werke, die in ganz Europa verstreut waren, zusammenzuführen. Max Liebermann war mit 22 Werken einer der prominentesten unter den ausgestellten 64 Künstlern. Es ist das Verdienst der Wiener Library in London - in der im Sommer bereits eine Dokumentation der historischen Ausstellung zu sehen war - sowie der Liebermann-Villa am Wannsee, die nach 80 Jahren nahezu verblasste Erinnerung an die historische Ausstellung wieder zu erwecken und deren nachhaltige Bedeutung zu würdigen. Dieses Verdienst ist umso höher zu bewerten, wenn man bedenkt, dass Unterhalt und Betrieb dieses Liebermann-Hauses ausschließlich durch bürgerschaftliches Engagement der Max-Liebermann-Gesellschaft ermöglicht werden.

Ich danke allen Beteiligten, die diese wunderbare und wichtige, in deutsch-britischer Zusammenarbeit entstandene Rekonstruktion, ermöglicht haben!

Stellvertretend für alle Beteiligten der Wiener Library und der Liebermann-Villa, danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Fass und Ihnen, lieber Herr Barkow, sehr herzlich für Ihre großartige Arbeit, mit der sie nicht zuletzt auch eine Lücke der deutsch-britischen Kunstgeschichte schließen. Vor allem aber danke ich Ihnen, liebe Frau Wasensteiner, als ausgewiesene Expertin des Themas sind Sie für die Ausstellung ein echter Glücksfall!

Ich freue mich, dass die mit Mitteln aus meinem Kulturetat finanzierte Kulturstiftung des Bundes maßgeblich zur Realisierung dieser Ausstellung beitragen konnte. Und ich bin sicher: Viele Kunstliebhaber werden die Freude teilen, die ich eben beim Rundgang durch die Ausstellung, beim Anblick großartiger Werke von Wassily Kandinsky, Max Liebermann, Emil Nolde oder Paula Modersohn-Becker empfunden habe.

In einer seiner berüchtigten, demagogischen Hetzreden bei der Jahrestagung der Reichskulturkammer 1937 in Berlin forderte der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels den Ausschluss der Juden aus dem deutschen Kulturleben. Er sprach in diesem Zusammenhang auch über die Ausstellung „Entartete Kunst“, die einige Monate zuvor in München eröffnet worden war. „Bedeutet das nun“, so Goebbels’ rhetorische Frage, „eine Einengung der so viel beredeten künstlerischen Freiheit? Doch nur dann“, fuhr er fort, „wenn der Künstler das Recht hätte, sich der Zeit und ihrer Forderungen zu entziehen und außerhalb der Gemeinschaft seines Volkes ein eigenbrötlerisches Sonderleben zu führen. Das aber kann und darf nicht der Fall sein. (...) die Kunst ist nicht ein Lebensbezirk für sich, in den einzudringen dem Volke verwehrt sein müsste. Sie ist eine Funktion des Volkslebens und der Künstler ihr begnadeter Sinngeber.“

Eine der berühmtesten Stellungnahmen gegen diese ideologische Vereinnahmung und Kulturbarbarei der Nationalsozialisten ist der Vortrag „Über meine Malerei“ von Max Beckmann, den er 1938 im Rahmen der Ausstellung „Twentieth Century German Art“ in der New Burlington Gallery hielt. Der Kollektivismus sei die „größte Gefahr, die uns Menschen allen droht“, erklärte er darin, und ich zitiere weiter: „Überall wird versucht, das Glück oder die Lebensmöglichkeiten der Menschen auf das Niveau eines Termitenstaates herabzuschrauben. Dem widersetze ich mich mit der ganzen Kraft meiner Seele.“

Diese Kraft, meine Damen und Herren, wünsche ich auch unseren Demokratien. Gott sei Dank haben wir in Deutschland aus unserer Geschichte gelernt. Aus zwei Diktaturen in einem Jahrhundert - der Nazi-und der DDR-Zeit - haben wir eine Lehre gezogen: In Artikel 5 unseres Grundgesetzes, mit einem hohen, noblen Verfassungsrang also heißt es: „Kultur und Wissenschaft sind frei.“ Wir wissen, dass wir die Künstler, die Kreativen, die Vor- und Querdenker als kritisches Korrektiv unserer Gesellschaft brauchen, als Stachel im Fleisch der Demokratie. Sie sind es, die Grenzen ausloten, die provozieren, die hinterfragen und die damit verhindern, dass intellektuelle Trägheit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit und Vielfalt der Kunst und Kultur zu sichern und so jedem neuerlichen Totalitarismus vorzubeugen, das ist deshalb oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik.

Meine Damen und Herren, diese zivilisatorische Errungenschaft unserer so freiheitlichen Verfassung, die sich nicht zuletzt in der Kunstfreiheit ausdrückt, haben wir auch Großbritannien zu verdanken. Auch Großbritannien half, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch geistig und moralisch verwüstete Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine kam. Das werden wir Ihnen, den Briten, niemals vergessen!

Heute sieht sich Deutschland als Partner in Europa und der Welt. Die bittere Entscheidung des britischen Volkes, die Europäische Union verlassen zu wollen, müssen wir wohl respektieren; umso mehr hoffen wir doch, dass unsere guten Verbindungen im Kultur- und Medienbereich nicht abreißen werden und Ihr Land mit seiner langen Tradition der Demokratie und der Freiheit den Kulturraum Europa auch künftig bereichert.

In diesem Sinne setzt die Ausstellung „London 1938. Mit Kandinsky Liebermann und Nolde gegen Hitler“ nicht nur ein Zeichen für den Wert der Kunstfreiheit, sondern erinnert auch an die verbindende Kraft der Kultur in Europa. Sie steht exemplarisch für die zahlreichen exzellenten Kulturkooperationen, die Großbritannien und Deutschland – zum Glück! - auch in diesen heutigen nicht einfachen Zeiten des Umbruchs in der Europäischen Union verbinden.

Art is about sharing.“ Und so lässt uns Kunst auf das blicken, was wir teilen und nicht auf das, was uns trennt. Sie ermöglicht uns Lernerfahrungen, die ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen immer wieder aufs Neue erfordert.

Möge die Ausstellung all ihren Besucherinnen und Besuchern nahe bringen, wie kostbar die Kunstfreiheit, wie kostbar die Solidarität in Europa ist!