Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Fertigstellung und Eröffnung des Humboldt Forums

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

- Es gilt das gesprochene Wort -

„Der Augenblick, da man zum ersten Mal von Europa scheidet, hat etwas Ergreifendes“, notierte Alexander von Humboldt am 5. Juni 1799 in sein Reisetagebuch, als er zu seiner lang ersehnten und über Jahre vorbereiteten Südamerikareise aufbrach. „Etwas Ergreifendes“ hätte auch der Augenblick haben können, auf den wir so lange gewartet und hingearbeitet haben: der Augenblick, in dem das Humboldt Forum zum ersten Mal seine Pforten öffnet – in dem Museumsbesucherinnen und -besucher hier „von Europa scheiden“ und sich auf Weltreise begeben können.

Mir war wichtig, dass wir der Bevölkerung so bald wie möglich zeigen können, was die Weltreisenden im Geiste hier erwartet – und sei es (die Pandemie lässt uns keine andere Wahl) vorerst auch nur im virtuellen Raum. Doch das Schloss für die Welt und die am Bau Beteiligten hätten zweifellos eine feierliche Eröffnung mit viel Publikum und festlichem Programm verdient. Denn so wie Alexander von Humboldts Expeditionen, so erforderte auch der Weg vom Beschluss des Deutschen Bundestages für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses 2002 bis zur Fertigstellung 2020 einen langen Atem, unermüdlichen Einsatz, visionäre Kraft und auch ein Quäntchen Kühnheit.

Dafür danke ich insbesondere dem Architekten Franco Stella und seinem Team, der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss und ihrer Schlossbauhütte und dem Förderverein Berliner Schloss, der mit seiner erfolgreichen Spendenkampagne maßgeblich dazu beigetragen hat, dass dieser Bau kein Luftschloss blieb. „Danke“ sage ich aber auch allen Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern, die auf Deutschlands größter Kulturbaustelle unermüdlich im Einsatz waren, und dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung sowie dem Land Berlin, das für die Außenanlagen zuständig ist. Nicht zuletzt danke ich den großzügigen Spenderinnen und Spendern, die die Rekonstruktion der historischen Fassaden und der baulichen Optionen, der Innenportale und der Kuppel, möglich gemacht haben – wahre Meisterwerke der Handwerk- und Bildhauerkunst!

Hinter den barocken Fassaden wartet ein modernes Haus für Kultur, Wissenschaft und Bildung, warten 42.000 Quadratmeter darauf, im Geiste der Humboldt-Brüder sukzessive mit Leben gefüllt zu werden: im Geiste der Aufklärung, der Weltoffenheit und der Toleranz. Wilhelm von Humboldt kam in der Auseinandersetzung mit fremden Sprachen zu der Überzeugung, dass es auch andere hochentwickelte, an Tradition und Bedeutung mit unserem Kulturraum vergleichbare Kulturräume gibt – damals ein revolutionärer Gedanke in den Ländern des heutigen Europas, in denen man sich selbst für den Nabel der Welt hielt. Alexander von Humboldt brach zu Orten auf, an denen kein Europäer vor ihm war, und revolutionierte das menschliche Weltverständnis nicht nur mit seinen Entdeckungen, sondern auch mit seinen wissenschaftlichen Prinzipien und Praktiken. Beide sind für die Annäherung an das Fremde Vorbilder und Vordenker: mit ihrer Lust, die Welt an-zuschauen, über die Grenzen der eigenen Weltanschauung hinweg; mit ihrer Neugier, dem Fremden zu begegnen statt es abzuwehren und abzuwerten.

Dieses Vermächtnis ist aktuell wie eh und je, auch angesichts rassistischer und nationalistischer Ab- und Ausgrenzung, und es ist zukunftsweisend für die Annäherung der Völker und das Ideal eines gleichberechtigten Dialogs der Kulturen. Dafür schafft das Humboldt Forum Raum im Herzen der deutschen Hauptstadt, und ich denke, es sagt eine Menge über das Selbstverständnis Deutschlands im 21. Jahrhundert, dass wir hier nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern den Kulturen Afrikas, Amerikas, Asien, Ozeaniens und ihren unterschiedlichen Weltanschauungen eine Bühne bieten, und zwar im engen Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsgesellschaften. Für den Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten – für die Darstellung der Herkunftsgeschichten, für den Zugang zu den Objekten und für das Miteinander in der Aufarbeitung der Sammlungen – sollte das Humboldt Forum in Deutschland Maßstab und Vorbild sein.

Den künftigen Betrachtern dieser unterschiedlichen Kulturen und Weltanschauungen im Humboldt Forum geht es vielleicht wie jenem berühmten Forschungsreisenden, der Europa knapp vier Jahrzehnte vor Alexander von Humboldts Südamerikareise hinter sich ließ und sechs Jahre lang die Länder des arabischen und vorderasiatischen Raums erkundete – wie dem Mathematiker und Kartografen Carsten Niebuhr. „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder. (…) Wir glotzen nach oben und erfinden große Gestalten und hängen sie in den Himmel. (…) Und dann gibt es Streit. Es ist zum Erbarmen!“ Dieser Seufzer der Erkenntnis wurde Carsten Niebuhr von der Schriftstellerin Christine Wunnicke in den Mund gelegt. In ihrem wunderbaren (2020 für den Deutschen Buchpreis nominierten) Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ erzählt sie, wie auf der Insel Elephanta vor Bombay Welten aufeinanderprallen – in Gestalt des deutschen Mathematikers Carsten Niebuhr und des persischen Astronomen Musa al-Lahuri, die beide zufällig dort gestrandet sind und sich bis zu ihrer Rettung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg irgendwie verständigen müssen.

„Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder“: Wenn am Ende eines Besuchs im Humboldt Forum die Erkenntnis steht, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen mehr verbindet als uns trennt – dass wir alle in denselben Himmel schauen, auch wenn wir verschiedene Sternbilder sehen –, dann ist für Demokratie und Verständigung in Deutschland und in der Welt viel gewonnen. In diesem Sinne wünsche ich dem Humboldt Forum, dass es mit seinen Ausstellungen und Veranstaltungen dazu beiträgt, in der Vielfalt der Bilder auch den Himmel sichtbar zu machen. Ich freue mich auf einen Ort inspirierender Kulturerlebnisse, kontroverser Debatten und interkultureller Verständigung, wenn dieses Haus in den kommenden Monaten nach und nach zum Leben erwacht!