Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch der Herrenknecht AG am 7. Oktober 2019 in Schwanau

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Sehr geehrter Herr Herrenknecht,
sehr geehrte Familie Herrenknecht ‑ in allen Generationen hier anwesend ‑,
sehr geehrter Herr Minister und Gast aus Ägypten,
sehr geehrter Herr Landrat,
sehr geehrte Bürgermeister und Oberbürgermeister ‑ ich habe heute am Beispiel von Sinsheim und anderen schon gelernt, ab wann man Oberbürgermeister ist und wann nicht ‑,
meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr, hier heute - sozusagen am Heimatstandort der Firma Herrenknecht - zu sein; denn wir haben, wie Herr Herrenknecht es gesagt hat, schon viele Reisen miteinander gemacht. Er hat mich als Bundeskanzlerin begleitet. Wenn man dann wie jüngst in Wuhan am Jangtse-Fluss steht und Herr Herrenknecht sagt: „Na ja, dreimal untertunnelt!“ ‑ ich weiß nicht, es waren vielleicht sogar viermal ‑ und man diesen breiten Strom sieht, dann bekommt man natürlich Hochachtung für die Technologie, die hier in der Firma vorhanden ist, und für das, was aus dem sehr spröden Material Stahl gemacht werden kann.

Herr Herrenknecht hat die Projekte schon aufgezählt. Es sind wirklich Projekte, die in die Geschichte eingehen. Darauf, dass aus einer Familie, in der der Vater Handwerker war, so ein Weltprojekt entsteht, kann man, denke ich, stolz sein. Dass, Herr Betriebsratsvorsitzender, über 2000 Menschen allein hier in der Region Arbeit haben, Qualifizierungsmöglichkeiten haben, und dass Sie fast schon nach jungen Leuten suchen müssen, die sich im gewerblichen Bereich ausbilden lassen wollen, weil das Angebot schon knapp wird, zeigt ja auch, dass die Firma und die Lebensqualität hier in der Region eng miteinander verknüpft sind. Insofern sind Sie das klassische Beispiel für das, was man die „hidden champions“ nennt, die aber nun gar keine hidden champions mehr sind ‑ „well-known hidden champions“ könnte man sagen ‑, sondern eben die Familienunternehmen in Deutschland ausmachen.

Ich habe eben gefragt: Gibt es auch Deutschland noch ein paar Projekte? Dann wurde auf Stuttgart 21 und auf die U-Bahn in Berlin-Mitte verwiesen, die eines Tages vielleicht auch fertig wird. Herr Herrenknecht hat seine Arbeit mit seinen Maschinen dort schon geleistet, hat er mir gesagt.

In diesem Zusammenhang sind wir auch auf ein weiteres Thema gekommen, das wichtig ist, und das ist die Tatsache, dass wir in unseren Planungen eher schneller werden müssen. Wir haben es beim Gotthardtunnel gesehen: Die Zubringerstrecken durch Deutschland sind weit im Rückstand. Ich habe mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder gesprochen. Auch die Zubringerstrecken für den Brenner-Basistunnel, die durch Deutschland führen, sind weit im Rückstand. Wir müssen deshalb schauen ‑ das ist eine klassische Aufgabe der Politik ‑, dass wir das schneller hinbekommen. Wir können uns auch nicht einfach hinter europäischen Regeln verstecken. Denn anderswo geht es schneller. Wir sehen natürlich, dass in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel auch in Ägypten, die Projekte sehr schnell realisiert werden. Das ist wichtig. Denn in diesen Ländern, zum Beispiel in Ägypten, aber auch in anderen Ländern, ist einfach eine Jugend da, die unbedingt Chancen haben möchte, die lernen möchte, die sich ausbilden lassen möchte und die Arbeitsplätze braucht.

Deshalb ‑ darüber haben Herr Herrenknecht und ich oft gesprochen ‑ müssen wir eben immer vorn mit dabei sein, wenn es um Technologieentwicklungen und wenn es um Innovationen geht. Auf dem Rundgang konnte ich mir auch anschauen, dass Sie jetzt auch in neue Felder neben der klassischen Tunnelbohrmaschine einsteigen. Abwasser ist ein interessantes Projekt, aber vor allen Dingen auch die großen Stromleitungen, die Sie bis zu fast 1000 Meter Länge unter der Erde verlegen können. Das ist eine ganz neue Entwicklung, die sich in relativ kurzer Zeit vollzogen hat. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, Akzeptanz für die Verlegung neuer Stromstrecken zu bekommen ‑ jeder möchte erneuerbare Energien haben, aber keiner möchte eine Leitung vor der Haustür haben ‑, dann kann man daran auch sehen, wie Sie auch sehr schnell auf die neue Nachfrage reagiert haben.

Sie haben vielleicht sowieso einen Vorteil: Aufgrund der Tatsache, dass Sie unter der Erde arbeiten, sind Sie eigentlich erst einmal schon ein Guter; denn mit Blick auf verkehrslärmgeplagte Anwohner, auf Verkehrsteilnehmer und auch auf die Frage, wie man Staus vermeiden kann, sind Tunnel eigentlich immer eine ganz gute Infrastrukturmöglichkeit. Wir wissen, dass Sie in diesem Bereich weltweit sehr viele Projekte realisieren, obwohl Sie auch nicht ohne Wettbewerber sind. Das heißt, auch hier muss immer wieder neu entwickelt werden.

Tunnelprojekte haben auch noch andere kleine Vorteile gegenüber anderen Projekten. Sie bieten mehrfach Gelegenheit, Baufortschritte gebührend zu feiern: beim Spatenstich, beim Tunneldurchschlag und dann bei der Eröffnung. Ich habe gehört, dass Ihre Kunden durchschnittlich vier Durchbrüche pro Woche feiern. Insofern ist hier also viel los ‑ sagen wir es einmal so.

Wir haben uns hier also einen Überblick verschaffen können. Ganz toll sind natürlich Ihre knapp 200 Auszubildenden, die auch die Zukunft dieses Unternehmens verkörpern.

Nun sind Sie ein Aushängeschild dessen, was Deutschlands Stärke ausmacht ‑ ein starker Mittelstand. Aber Sie sind auch auf Rahmenbedingungen politischer Art angewiesen, die Ihnen das Arbeiten ermöglichen. Da ist das Thema Forschung und Innovation, wie ich schon sagte, ganz wichtig.

Deutschland steht bei Patentanmeldungen weltweit auf Platz zwei. Aber wir sehen, dass jetzt zum Beispiel auch aus China viele Patente kommen. Erst haben wir über den Schutz von „intellectual property“ gesprochen. Jetzt gibt es aber auch sehr viele Patentanmeldungen von dort.

Wir haben versucht ‑ ich habe das seit meiner ersten Amtszeit, seit 2005, eigentlich sehr beständig getan ‑, die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung vernünftig zu gestalten. Wir haben uns das 3-Prozent-Ziel zu Herzen genommen, das sich die Europäische Union schon 2000 vorgenommen hat, also 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Aber man muss sagen, dass wir eines der wenigen Länder in Europa sind, die das tun. Wir bewegen uns jetzt in die Richtung von 3,5 Prozent. Denn wir wissen, Südkorea, Israel und andere ‑ Japan, die Vereinigten Staaten von Amerika und China schon gar nicht ‑ schlafen nicht, um immer wieder vorn dabei zu sein.

Ein Thema, das für uns in Deutschland von großer Wichtigkeit ist, sind die Universitäten. Wir haben eine gute universitäre Situation. Es ist auch gut, mittelständische Firmen zu haben, die die Universitäten unterstützen. Wir haben eine langfristige Planbarkeit in unseren außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Bis 2030 haben wir jedes Jahr eine Steigerung der finanziellen Zuweisung um 3 Prozent zugesagt, was natürlich eine große Sicherheit für Professoren an den Universitäten oder an den Forschungseinrichtungen mit sich bringt. Man kann hierherkommen und hat dauerhaft gute Forschungsbedingungen.

Aber wir haben dann noch das ganze Thema der Umsetzung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in die Praxis. Hier sind die bipolaren oder binären Ausbildungswege sehr interessant, also praktisch hier zu arbeiten und gleichzeitig zu studieren und damit sozusagen das Knowhow und die Kenntnisse sofort wieder in die Entwicklung hineinzubringen. Nicht von ungefähr ist die Region hier um Karlsruhe herum und ganz Baden-Württemberg von größter Bedeutung für den Maschinenbau.

Wir haben inzwischen eher einen Mangel ‑ ich habe es schon am Beispiel der Auszubildenden gesagt ‑ an Fachkräften. Deshalb ist das politische Projekt des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ein sehr wichtiges. Wir sind jetzt mit der Umsetzung beschäftigt. Denn was nützt es, wenn anschließend die infrage kommenden Personen rund um den Globus kein Visum bekommen und diese Dinge zu lange dauern? Wir haben als Bundesrepublik Deutschland einen tendenziellen Nachteil, weil nicht die ganze Welt Deutsch spricht, sondern ein paar mehr Menschen auf der Welt Englisch sprechen. Das heißt also, dass gerade Sprachenfragen eine noch größere Rolle spielen. Wir haben aber inzwischen eine hohe Zahl ausländischer Studentinnen und Studenten bei uns, was eine sehr erfreuliche Sache ist.

Wir wollen jetzt auch im mittelständischen Bereich die steuerliche Forschungsförderung voranbringen, auch noch einmal ein Umsetzungsinstrument, um schneller von der Grundlagenforschung in die angewandte Forschung zu kommen.

Aber insgesamt stellen wir fest ‑ Sie merken das natürlich auch ‑, dass die Weltwirtschaft im Augenblick in einer nicht ganz einfachen Lage ist. Gerade eine Nation wie Deutschland, die so stark auf Exporte orientiert ist, spürt das unmittelbar. Das hat einmal mit den normalen Konjunkturzyklen zu tun. Wir haben jetzt eine sehr lange Wachstumsphase hinter uns. Deshalb ist es hier ganz wichtig, dass wir schnell wieder mit neuen Produkten und mit neuen Ideen auf den Weltmarkt gehen. Ich habe es hier ja auch gesehen: Das Thema Digitalisierung hängt nicht als Oberüberschrift hinter jedem Produkt. Aber faktisch ist es so: Die Steuerung, die Handhabung der Maschinen ist von der Digitalisierung schon sehr klar gezeichnet.

Zweitens ist die deutsche Wirtschaft immer sehr sensibel, wenn es anderswo Handelsstreitigkeiten gibt. Wir sehen leider, dass die protektionistischen Maßnahmen zugenommen haben. Wir alle wünschen uns, dass es bald einen Abschluss in dem großen Handelsthema der Vereinigten Staaten von Amerika und Chinas gibt. Für Sie als eine Firma, die in beiden Weltmärkten tätig ist, ist das schon eine Herausforderung. Wir treten politisch ‑ ich glaube, das tun wir gemeinsam ‑ für einen multilateralen Ansatz und für einen fairen Wettbewerb ein. Sie haben vollkommen Recht: Dumpingpreise, Subventionen, Nichtachtung des Schutzes des geistigen Eigentums ‑ das alles sind Dinge, die den Wettbewerb unfair machen.

Wir sind für einen offenen Wettbewerb, in dem das beste Produkt eine gute Chance hat. Dazu gehören zunehmend auch ökologische Fragen. Dazu gehören auch soziale Fragen. Weder auf Dumpinglöhne noch auf Dumpingpreise soll der Wettbewerb ausgerichtet sein. Das zeigt sich auch in den moderneren Handelsabkommen, die man abschließt. Aber wir sehen, wenn es zu einer neuen Bipolarität zwischen den Vereinigten Staaten und China käme und sich jeder Anbieter auf der Welt entscheiden müsste, mit wem er noch Handel treiben will, wenn also dieser offene, vernetzte Handel nicht mehr funktionieren würde, dann würde das niemandem auf der Welt guttun und gerade auch Entwicklungsländern, die einen dynamischen Aufstieg brauchen, sehr viele Knüppel zwischen die Beine werfen. Insofern werden wir uns weiterhin ganz energisch für Multilateralismus und fairen Welthandel einsetzen.

Dazu gehört natürlich auch die Frage der Modernisierung der Welthandelsorganisation. Es ist bedauerlich, dass uns jetzt von der Welthandelsorganisation im Zusammenhang mit Airbus bestimmte Strafen verordnet wurden, aber insgesamt wollen wir die Stärkung dieser Organisation.

Meine Damen und Herren, das bedeutet dann auch, dass wir in Deutschland und Europa schauen müssen, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. Gute Löhne sind wichtig, aber Forschung, Innovation, Schnelligkeit, Planungsbeschleunigung ‑ ich habe davon gesprochen ‑ braucht man heute auf der Welt eben auch, um mithalten zu können. Insofern sind auch der Zusammenhalt Europas - gerade hier, wo die deutsch-französische Grenze so nah ist - und die Nutzung unseres großen Marktes von großer Wichtigkeit.

Sie haben darüber gesprochen, dass über uns auch noch die Unsicherheit des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union liegt. Wir schreiben schon den Monat Oktober und sind in den Verhandlungen immer noch nicht so weit, wie wir es eigentlich sein müssten. Wir hoffen wirklich auf gute Vorschläge aus Großbritannien. Denn wir müssen praktisch die Quadratur des Kreises schaffen. Ein Land tritt aus. Der Binnenmarkt muss natürlich eine Grenze haben. Wenn Großbritannien nicht mehr zum europäischen Binnenmarkt gehören will, dann muss klar sein, wo er endet und wo der Drittstaat beginnt. Gleichzeitig gibt es einen Teil Großbritanniens, nämlich Nordirland, der an die Republik Irland grenzt und der sich im Good Friday Agreement dazu verpflichtet hat, dass es keine Grenzkontrollen gibt. Also: Wie kontrolliert man einen Binnenmarkt, wenn es keine Kontrollen geben darf? Das ist die Aufgabe, und sie erfordert zugegebenermaßen sehr viel Kreativität. Denn weder wollen wir, dass wieder gewaltsame Auseinandersetzungen auf der irischen Insel ausbrechen, noch wollen wir einen ungeregelten Austritt Großbritanniens. Denn dieser würde sehr viele Unsicherheiten mit sich bringen und gleichzeitig auch erfordern, dass man die Grenze des Binnenmarktes kontrolliert. Insofern hätte man damit nichts gewonnen. Ich hoffe, dass wir alle uns zusammenreißen und noch eine gute Lösung finden. Ich werde jedenfalls bis zum letzten Tag dafür arbeiten.

Meine Damen und Herren, zum Schluss sage ich danke: danke all denen, die bei Herrenknecht direkt oder indirekt arbeiten, tätig sind, mit dem Unternehmen mitfiebern und Qualitätsprodukte herstellen. Grüßen Sie bitte Ihre über 2200 Beschäftigen hier an diesem Ort und weltweit noch sehr viele mehr, Herr Betriebsratsvorsitzender, und sagen Sie jedem ‑ das sage ich aus voller Überzeugung ‑: „Wir alle müssen heute lebenslang lernen. Aber lebenslang zu lernen bereichert uns auch und bringt uns voran.“ Sicherlich gibt es manchmal auch Ängste, aber ich denke, die Motivation hier im Unternehmen ist gut.

Ich sage auch danke denen, die immer die Aufträge heranschleppen müssen. Natürlich ist das in einer sich verändernden Welt gar nicht so einfach. Wenn die kleinen Wölkchen am Konjunkturhimmel auftauchen, dann bedeutet das natürlich für eine solche Unternehmung sicherlich auch immer einmal wieder eine schlaflose Nacht oder zumindest eine Stunde angestrengten Nachdenkens. Aber, Herr Herrenknecht und die nächste Generation, Sie haben schon manches bewerkstelligt. Deshalb bin ich optimistisch, dass Sie auch die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gut gestalten können.

Wenn man noch einmal überdenkt, was Sie mir von Ihrem Vater und von Ihrer Mutter, die nie ein Flugzeug betreten hat, erzählt haben, dann wird einem deutlich, dass es schon gigantisch ist, was sich innerhalb einer Generation verändert hat. Das hat damit zu tun, dass es immer wieder Menschen gibt, die daran glauben, dass man die Welt verändern kann, dass es Menschen gibt, die unheimlich viele technologische Ideen haben, die tüfteln, es umsetzen und dann erkennen, dass es wirklich vorangeht. Egal welcher Konstellation, welchem Erdboden Sie begegnen, immer ist das rechte Schneidewerkzeug zu finden. Es geht unaufhörlich voran, manchmal nur 15 Meter am Tag, manchmal auch 25 Meter ‑ immerhin!

Danke für das, was Sie alle gemeinsam hier leisten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genauso wie die, die für die Führung des Unternehmens verantwortlich sind.

Den Bürgermeistern und Landräten kann ich nur sagen: Ich komme aus Vorpommern. Bei uns ist die Industriedichte erheblich geringer. Sie kommen manchmal gern zum Urlaub zu uns, wenn Sie einmal gar keine Facharbeiter finden. Aber bei uns sind sie inzwischen auch knapp, Herr Herrenknecht. Im Norden sind auch gute Menschen, die gern arbeiten. Aber es ist schon toll, was hier geschaffen wird. Davon profitieren auch die Gemeinden. Seien Sie sich dessen bewusst, dass es nicht überall so gut ist wie in der Umgebung von Herrn Herrenknecht.


Herzlichen Dank und alles Gute dem Unternehmen!