Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 70. Jubiläum des
Bundes der Steuerzahler e. V. am 10. September 2019 in Berlin     

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Sehr geehrter Herr Präsident Holznagel,
sehr geehrte Landesvorsitzende und Mitglieder des Vorstands,
liebe Fraktionsvorsitzende und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
liebe Kollegen aus den Parlamenten,
lieber Herr stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, lieber Lorenz Caffier,
meine Damen und Herren,

der Bund der Steuerzahler wird 70 – und er hat passenderweise seine Festveranstaltung in die Haushaltswoche gelegt, in der auch wir morgen wieder über Steuereinnahmen und -ausgaben diskutieren werden. Sieben Jahrzehnte des Wirkens als Anwalt, Sprachrohr und Interessenvertreter von Steuerzahlern – das ist etwas, worauf alle, die hier engagiert sind, wirklich stolz sein können und worüber sich letztlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, Millionen von Menschen, freuen können. Daher möchte ich aus ganzem Herzen gratulieren und alles Gute wünschen.

Soweit bekannt, gab es erste Ideen zu einer Steuerzahlerinitiative in Deutschland schon in den 1920er Jahren. Dies war auch die Zeit des Sturms der Moselwinzer auf Finanzamt, Finanzkasse und Zollamt in Bernkastel-Kues im Jahre 1926. Auslöser der Verzweiflungstat war bittere wirtschaftliche Not. Die französische und spanische Konkurrenz war schier erdrückend. Hinzu kam eine ungewöhnlich hohe Weinsteuer. Die Moselwinzer sahen sich daher in ihrer Existenz bedroht. Sie forderten Steuern zurück und bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Aktion endete in einem deutschlandweit beachteten Prozess; und sie führte auch zu einem politischen Erfolg, nämlich dazu, dass die Weinsteuer wegfiel. In der Folge besserte sich auch die wirtschaftliche Situation der Moselwinzer wieder.

Ob die Finanzamtsstürmer von Bernkastel auch Einfluss auf die Idee hatten, eine Steuerzahlerinitiative für ganz Deutschland zu starten, ist nicht belegt. Jedenfalls reifte die Idee erst einmal viele Jahre. Seinen Abschluss fand dieser Reifungsprozess mit der Gründung des Bundes der Steuerzahler im Jahre 1949 – dem Jahr, in dem auch das Grundgesetz in Kraft getreten ist. Als erste Steuerzahlerinitiative in Deutschland überhaupt gehört der Bund der Steuerzahler also gleichsam zum Gründungsinventar der Bundesrepublik; und so soll es auch bleiben. Auch der Föderalismus-Gedanke ist dem Steuerzahlerbund nicht fern, wie an seinen Landesverbänden unschwer zu erkennen ist. Als ausschlaggebend für die Gründung gelten die Forschungen des Finanzwissenschaftlers Günter Schmölders auf dem Gebiet der Finanz- und Steuerpolitik – speziell zu Verhalten, Einstellungen und Motivationen der Steuerzahler gegenüber Besteuerungen.

Es sind wohl die wenigsten, die wirklich gerne Steuern zahlen. Aber die allermeisten dürften sich bewusst sein, dass ohne Steuern kein Staat zu machen ist. Steuereinnahmen ermöglichen es, unser Gemeinwesen zu finanzieren und staatliche Leistungen bereitzustellen – Leistungen, die der Allgemeinheit dienen und ohne Steuern ausbleiben würden. – Sie haben ja die guten Seiten des Steuerzahlens auch hier vorhin in Ihrem Film angeführt. – Dabei geht es vor allem um Infrastrukturen, die das Leben, Wohnen und Arbeiten erleichtern, um Mobilität und soziale Daseinsvorsorge, um Bildung und Kultur. Wir Steuerzahler wissen, dass unser Rechts- und Sozialstaat etwas kostet und daher auskömmlich finanziert werden muss. Das aber entbindet die Politik nicht von der Aufgabe, die Staatsfinanzierung mit den legitimen Interessen der Steuerzahler in Einklang zu bringen. Der Steuerbeitrag sollte als angemessen und gerecht empfunden werden.

Genau hier setzt der Bund der Steuerzahler an. Seit jeher verfolgt er mit Argusaugen das haushalts- und finanzpolitische Geschehen und bezieht Stellung hierzu. Er ist sozusagen der Garant eines lebendigen Austauschs zwischen Steuerzahlern und Politik. Er hinterfragt und drängt auf Vereinfachung und Entlastung. Er steht Bürgern und Betrieben mit Infos und Rat und Tat zur Seite. Er unterstützt Musterklageverfahren. Nicht zuletzt überwacht er das Handeln von Politik und Verwaltung und mahnt eine vernünftige Verwendung von Steuergeldern an.

Natürlich kann dieser Disput mitunter recht unbequem sein. So wurde der Bund der Steuerzahler vor allem in den ersten Jahren seines Bestehens sehr skeptisch von Politik und Verwaltung betrachtet. Im Zeitverlauf aber konnte sich der Steuerzahlerbund als hartnäckiger Wächter der Haushalts- und Finanzpolitik etablieren. Dahinter stehen die Einsicht und Erfahrung, dass ein kritischer Austausch vonnöten und oft auch lohnend ist, um im Ergebnis einen Weg zu finden, der im Sinne des Gemeinwohls akzeptabel und vertretbar ist. Die große Zahl an Gratulanten zeigt ja auch, dass das parteiübergreifend so gesehen wird.

Einer der ersten Erfolge dieser Hartnäckigkeit – man glaubt es kaum, dass man darum kämpfen musste – war, die Haushaltspläne der öffentlichen Hand transparent zu machen. Denn in den Anfangsjahren der Bundesrepublik war die Neigung zur Veröffentlichung der Haushaltspläne eher gering. Transparenz, wie wir sie heute als Demokratiegebot kennen, mussten Politik und Verwaltung erst lernen.

Außerdem gab es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst sehr hohe Steuerbelastungen – mit einem Spitzensatz bei der Einkommensteuer von 95 Prozent, einem Körperschaftsteuersatz von 60 Prozent und mit hohen Vermögensteuern. Bis zur Währungsreform 1948 gab es nur geringe Entlastungen. Wissenschaft, Wirtschaft und Verbände aber drängten weiter darauf, mehr Anreize für Leistung und Vermögensaufbau zu setzen. Erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden Wege gesucht, die Steuerbelastung zu senken. Da aber die damaligen Besatzungsmächte hohe Steuersätze bevorzugten, musste ein kleiner Trick angewendet werden. Statt sich mit dem Steuertarif auseinanderzusetzen, wurde verstärkt die Steuerbemessungsgrundlage in den Blick genommen, um mit ihrer Kürzung die Steuerbelastung erträglicher zu gestalten. Man weiß ja auch, dass es damals gar nicht so einfach für Ludwig Erhard war, die Soziale Marktwirtschaft einzuführen. Diese beiden Dinge korrespondieren, glaube ich, sehr gut miteinander.

Die ersten Steuerreformmaßnahmen – von Konrad Adenauer bereits 1949 angekündigt – erfolgten schließlich in den Jahren zwischen 1953 und 1955. Das lange Bohren dicker Bretter machte sich bezahlt. Es wurde nicht nur die steuerliche Bemessungsgrundlage gekürzt, sondern auch der Tarif wurde gesenkt. Es gab zudem strukturelle Änderungen. Das sollten beileibe nicht die letzten Steuerreformen bleiben, wie wir wissen. Weitere folgten, natürlich mit aufmerksamer Begleitung durch den Bund der Steuerzahler. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Tarifreformen bei der Einkommensteuer, die 1958 mit der Einführung des Splittingtarifs ihren Anfang nahmen, die Unternehmensteuerreformen von 1977, 2000 und 2008 sowie die Festlegung des Deutschen Bundestags im Jahr 2012, zukünftig regelmäßig Berichte zur kalten Progression vorzulegen.

Rund 65 Jahre seit der ersten großen Steuerreform und nach einer Vielzahl von Gesetzesänderungen stehen heute noch immer Steuerstruktur und Steuertarif im Mittelpunkt vieler Diskussionen. Da Ihnen ja auch der Verband der Steuerberater gratuliert hat, will ich nicht verhehlen, dass es manchmal ein gewisses Spannungsfeld gibt: Je einfacher das Steuerrecht, umso schlechter vielleicht die Karten der Steuerberater. Aber hier sind vielleicht viele, die sich auch nach einem einfachen Steuersystem sehnen.

Das Thema Abbau der kalten Progression ist genauso alt wie aktuell. Bereits in den 60er Jahren hat sich der Bund der Steuerzahler für eine Tarifreform bei der Einkommensteuer ausgesprochen, um der kalten Progression entgegenzuwirken. Entsprechende Korrekturen gab es in der Vergangenheit aber immer nur sporadisch. Erst im Jahr 2012 hat, wie gesagt, ein Bundestagsbeschluss den Weg für ein festes und verlässliches Verfahren geebnet. 2015 wurde der erste Steuerprogressionsbericht vorgelegt. Die an den Bericht anknüpfende Tarifkorrektur wurde gesetzlich verabschiedet. So konnten 2016 entsprechende Entlastungen in Kraft treten. Auf der Basis der Berichte, die im Zweijahresrhythmus vorgelegt werden, hat der Gesetzgeber inzwischen schon dreimal hintereinander die kalte Progression ausgeglichen.

Mehr steuerliche Gerechtigkeit durch regelmäßige Tarifanpassungen – das dürfte im Sinne des Steuerzahlerbundes sein. Der leise, aber doch hörbare Beifall hat es gezeigt. Aber ich weiß natürlich auch, dass nach der Reform schon wieder vor der Reform ist. Denn es gibt immer etwas, das wir noch besser machen können. Die Arbeit wird dem Steuerzahlerbund deshalb nicht ausgehen; das darf ich Ihnen schon versprechen.

Richtig ist, dass unser Steuerrecht für den Regelfall zwar gut handhabbar ist. Richtig ist aber auch, dass es durchaus ziemlich kompliziert werden kann. Denn es ist regelrecht ein Kunststück, ein einfaches Steuerrecht mit einem komplexen Wirtschaftssystem und der unendlichen Vielfalt des Lebens in Einklang zu bringen. Die Globalisierung stellt uns natürlich vor völlig neue Herausforderungen, genauso wie die Digitalisierung. Es wird also noch viel Diskussionsstoff geben, wenn die internationale Steuerarchitektur grundsätzlich modernisiert wird. Die OECD arbeitet daran; und wir wollen im nächsten Jahr ja schon Ergebnisse sehen. Wir wissen, wie kompliziert vor allem die Diskussion über eine angemessene Besteuerung der global aktiven Digitalwirtschaft ist. Aber wir werden uns in den nächsten Jahren auch damit auseinandersetzen müssen, welche Steueranteile wir als Exportnation bei uns behalten können und welche in den Ländern verbleiben, in denen auch Wertschöpfung stattfindet. Auch das wird ein ständiges Ringen sein.

In welchem Wirtschaftsbereich auch immer – um Steuervermeidung oder Doppelbesteuerung zu verhindern, kommen wir angesichts weltweiter Wertschöpfungsketten nicht umhin, das Steuerrecht eben international mehr und besser miteinander zu verknüpfen. Das ist in der Praxis nicht einfach. Aber wir müssen die Möglichkeit nutzen und das dann möglichst auch auf eine einfache, verständliche Grundlage stellen, damit die Bürgerinnen und Bürger verstehen, was da vonstattengeht.

Das Stichwort Vereinfachung ist sozusagen das Zauberwort und eine regelmäßige Forderung mit Blick auf den bürokratischen Aufwand. Der Bund der Steuerzahler pocht darauf zu Recht und auch mit Erfolg. Den beiden Bürokratieabbaugesetzen aus vergangenen Legislaturperioden wollen wir jetzt ein drittes folgen lassen, um Bürger und Unternehmen noch einmal zu entlasten. Die Entlastung sollte wirklich spürbar sein. Deshalb sind im politischen Handeln die Dinge vom Steuerzahler her zu denken. Wir binden deshalb die Bürgerinnen und Bürger bei der Suche nach Wegen der Vereinfachung direkt ein – zum Beispiel mit dem sogenannten Formularlabor zur Einkommensteuer. Hier werden Formulare einem Praxistest unterzogen, was die Benutzerfreundlichkeit anbelangt. Das haben wir zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Familienentlastungsgesetz gemacht; und damit sind deutliche Verbesserungen für Steuerbürger und Familien gelungen.

Es wird ja demnächst, ab 2021 – was aber selbstverständlich auch wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen ist –, einen ersten großen Schritt der Entlastung beim Solidaritätszuschlag geben. Sie aber wollen den Zeitpunkt für die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlags bereits festschreiben. Ich halte dennoch den beschlossenen Einstieg in den Ausstieg aus dem Solidaritätszuschlag – da sind wir uns ja sogar einig – für einen wichtigen steuerpolitischen Schritt. Ein erster Schritt ist erst einmal wichtig; und das heißt ja nicht, dass wir bei diesem Schritt stehen bleiben. Ich sage ganz ausdrücklich: Es bleibt das Ziel, den Soli ganz abzuschaffen. Der Bund der Steuerzahler wird gewiss dafür sorgen, dass wir dieses Ziel nicht aus dem Blick verlieren werden.

Im steten Kampf um Entlastung und Sparsamkeit führen Sie manchmal auch ziemlich schwere Geschütze ins Feld. Das ist ja auch legitim. Öffentlichkeitswirksame Beispiele sind die jährliche Aktion Frühjahrsputz, mit der Sie Einsparvorschläge zum jeweils neuen Haushalt machen, das Schwarzbuch, in dem Sie Fälle von aus Ihrer Sicht grober Steuerverschwendung bei Bund, Ländern und Kommunen auflisten, und der Steuerzahlergedenktag, der daran erinnern soll, ab wann Steuer- und Beitragszahler nicht mehr für den Staat und die Sozialversicherungen, sondern für sich arbeiten.

Der Bund der Steuerzahler sorgt auch dafür, dass die Öffentlichkeit die Entwicklung der Staatsverschuldung genau vor Augen hat. Dafür wird das Ist des Schuldenstands geschätzt und sekundengenau auf der sogenannten Schuldenuhr abgebildet. Diese Schuldenuhr ist ein berechtigter Appell an die Politik, sich mit den Staatsschulden intensiv auseinanderzusetzen – nicht zuletzt mit Blick auf kommende Generationen, die die Schuldenlasten erben werden. Ich sage immer wieder auch in internationalen Gesprächen: Angesichts unserer demografischen Situation ist dieses Thema bei uns auch sehr viel virulenter und wichtiger als in anderen Ländern mit einer anderen demografischen Entwicklung und mehr jungen Menschen.

Schön war natürlich, dass die Schuldenuhr besondere Aufmerksamkeit bekam, als feststand, dass sie ab 2018 rückwärts läuft. Eigentlich müssten ja die rot leuchtenden Ziffern nunmehr gegen schwarze ausgetauscht werden; aber das ist dann vielleicht von der Sichtbarkeit her nicht so gut. Dass im Übrigen der Rückwärtsgang technisch überhaupt möglich ist, ist der Erneuerung der Uhr Ende 2016 zu verdanken. Vorher hätte sie den Schuldenabbau gar nicht anzeigen können. Aber die Hauptsache ist natürlich, dass die staatliche Gesamtverschuldung zurückgeht. Und so wird die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote dieses Jahr unter den Wert von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sinken. Damit wird Deutschland erstmals seit dem Jahr 2002 wieder die entsprechende Obergrenze des Maastricht-Vertrags einhalten.

Bei aller Kritik, für die wir natürlich offen sind, zeigt diese Entwicklung aber auch, dass wir die Verantwortung für eine solide Haushaltspolitik als Bundesregierung ernst nehmen. Ich darf Ihnen versichern: An dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts – beim Bundeshaushalt – halten wir fest; eben nicht aus Gründen des Selbstzwecks, wie es uns oft vorgeworfen wird, sondern weil handfeste ökonomische Gründe und Gerechtigkeitsaspekte dafür sprechen.

Meine Damen und Herren, in einer Demokratie braucht die Politik wachsame und konstruktive Partner. Wir schätzen das. Deshalb bin ich heute Abend hier und gratuliere aus vollem Herzen. Es ist gut, dass die Politik auch in Zukunft mit Stellungnahmen und Empfehlungen des Steuerzahlerbundes rechnen kann und muss. Dass der Bund der Steuerzahler eine der mitgliederstärksten Steuerzahlerorganisationen der Welt ist, spricht für sich und seine Bindung an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Die große Zahl der Gäste heute in diesen Bolle Festsälen spricht dafür, dass der Verein wirklich einen festen Platz in unserer Gesellschaft hat. Sie scheuen keinen Aufwand, um vielen Menschen unnötigen Steueraufwand zu ersparen. Das ehrt Sie und den Steuerzahlerbund als Jubilar.

Deshalb noch einmal herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg. Seien Sie ein unbequemer Partner. Bleiben Sie fair in der Berichterstattung. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit.

Herzlichen Dank.