Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung "60 Jahre Hessischer Kreis e. V." am 5. Juni 2019 in Frankfurt

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Meine Damen und Herren,
lieber Herr de Maizière,
lieber Herr Quandt,
lieber Herr Corts,
liebe ehemalige Kollegen aus dem Kabinett,

es hört sich vielleicht komisch an, aber ich habe von jedem viel gelernt – natürlich insbesondere vom gestrengen Fritz Bohl; das muss man sagen. Ich weiß nicht, ob Fritz Bohl gerne früh um 7 Uhr den ersten Termin gemacht hat, aber auf jeden Fall waren wir Ostdeutsche damals noch so getrimmt, dass wir immer so früh anfingen zu arbeiten. Da konnte er, bevor die damaligen westdeutschen Abgeordneten aus den Federn kamen, mit uns schon mal über das Sachenrechtsbereinigungsgesetz und lauter solche schönen Sachen diskutieren. Das war total animierend.

Es sind einige Weggefährten hier. Man muss ja auch bei Roland Koch sagen: Auch wir haben schon viele Jahre miteinander verbracht, in ganz unterschiedlichen Konstellationen. Das gilt auch für Tanja Gönner. Aber wenn ich jetzt anfange, einzelne Leute zu erwähnen, komme ich in Teufels Küche. Das will ich dann vielleicht doch nicht tun.

Meine Damen und Herren, ich freue mich, heute hier zu sein, und sage: herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag des Hessischen Kreises. Sie sind ein sehr ordentlicher Verein. Ich habe die Zusammenfassung meiner Ausführungen von 2003 übersandt bekommen. Offensichtlich ist Christian Schwarz-Schilling daran beteiligt. Ich bereue nichts von dem, was ich damals gesagt habe. Ich weiß aber nicht, ob wir alles eingelöst haben, was man aus der Oppositionsperspektive heraus in Aussicht gestellt hat. Wenn ich die gestrige BDI-Veranstaltung Revue passieren lasse, würde ich sagen, es gibt Zweifel, aber es ist auch manches gut gelungen. Ich glaube, dass es Deutschland über viele Jahre doch recht gut ging.

Ich komme in der Tat von der Veranstaltung zum 75. Jahrestag des D-Day. Das war in der Tat sehr, sehr bewegend, muss ich sagen. Anwesend waren 300 Veteranen, die damals dabei waren. Mit einigen konnte ich sprechen. Sie haben erzählt, wie sie über Frankreich und Belgien oder die Niederlande in Norddeutschland landeten. Sie konnten sich immer noch Osnabrück und Kiel und alles, was darum herum ist, gut in Erinnerung rufen. Dass wir heute zusammen sind, dass wir heute internationale Aufgaben gemeinsam wahrnehmen, das empfinde ich nach wie vor als ein Geschenk der Geschichte, das wir pflegen und hegen müssen.

Dies bringt mich auch dazu, zu sagen: Es war eine weise Tat, dass 1959 der Hessische Kreis gegründet wurde – auch als eine Institution, die auf die Gefahren des Kalten Kriegs und der Konfrontation hinweisen sollte, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehr schnell herausbildete zwischen dem, was man das sowjetische Imperium nannte, und dem, was der freie Westen war. Es war auch bewegend, als der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki heute darüber gesprochen hat, dass ein Land wie Polen nach all dem Leid, das Deutschland im Zweiten Weltkrieg über Polen gebracht hatte, anschließend durch die Sowjetunion und die Zugehörigkeit zum sowjetischen System wieder in Unfreiheit geraten war und dass daraus sogar Jahrzehnte der Abwesenheit von Freiheit wurden. Deutschland war zwar in die Bundesrepublik Deutschland und die DDR geteilt, aber das hatte etwas mit der Geschichte zu tun. Ein Land wie Polen, das doppelt gelitten hat, hat natürlich eine ganz andere Perspektive auf die Zeit des Kalten Kriegs.

Heute sind wir zu unserem Glück vereint, wie wir anlässlich eines Jahrestags der Römischen Verträge einmal gesagt haben. Trotzdem haben wir eine Vielzahl von Aufgaben. Wir haben heute auch beim Mittagessen mit dem amerikanischen Präsidenten, mit der britischen Premierministerin, mit dem französischen Präsidenten und anderen darüber gesprochen: Was ist eigentlich passiert, dass diese Nachkriegsordnung – alles, was wir als internationale Institutionen kennen und als multilaterale Zusammenarbeit erleben, ist ja im Grunde das Ergebnis der Nachkriegsordnung; die Vereinten Nationen, die internationalen Organisationen, die Europäische Union – jetzt unter Druck kommt? Ich persönlich frage mich, ob das etwas damit zu tun hat, dass die Zeitzeugen immer weniger werden, dass wir vielleicht leichtfertig werden, dass wir sagen: es ist ja alles unperfekt; vielleicht könnten wir es viel einfacher haben, wenn wir die Dinge wieder für uns alleine lösen. – Ich glaube, das ist wirklich eine Gefahr unserer Zeit. Auf diese Gefahr müssen wir versuchen Antworten zu finden; und zwar möglichst gemeinsame Antworten.

Es ist an der Zeit, in der wir Position beziehen müssen in grundsätzlichen Fragen. Wollen wir die Dinge national lösen oder glauben wir, dass Kooperation die bessere Methode ist? Sind wir fähig, auch einmal in die Schuhe des anderen zu schlüpfen, die Welt einmal aus der Perspektive des anderen zu sehen? Halten wir Kompromisse für eine akzeptable Möglichkeit, miteinander Lösungen zu finden? Oder ist ein Kompromiss an sich immer schon etwas Schlechtes? All diese Fragen müssen beantwortet werden. Da gibt es wenige Grauzonen, da gibt es nur grundsätzliche Weichenstellungen.

Deshalb glaube ich, dass die Politik da gefragt ist. Aber ich glaube auch, dass die Zivilgesellschaft gefragt ist und dass gerade für ein Gremium wie den Hessischen Kreis jetzt auch wieder Zeit ist, Stellung zu beziehen, zu diskutieren und sich einzusetzen für das, was ich jedenfalls für einen Glücksfall der Geschichte halte, nämlich für ein gemeinsames Europa, eine transatlantische Gemeinschaft, ein gemeinsames Verteidigungsbündnis wie die NATO und für die Vereinten Nationen. Diese sind alles andere als perfekt, sie müssen auch erneuert werden – die Systeme dürfen nicht erstarren; das ist ganz wichtig –, aber für sie sollten wir auch eintreten.

In diesem Kontext will ich auch einiges zur Europäischen Union sagen. Ich gebe Ihnen jetzt einfach ein paar Ansatzpunkte für die anschließende Diskussion. Ich will auch nicht zu lange sprechen, damit wir noch ein bisschen Zeit haben, das zu bearbeiten, was Sie für am interessantesten halten.

Wir haben kürzlich die europäischen Wahlen gehabt. Wir haben im Übrigen seit langem zum ersten Mal wieder einen aussichtsreichen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission. Seit Hallstein ist kein Deutscher mehr Präsident der Europäischen Kommission gewesen. Man kann also nicht sagen, dass wir da zu oft an der Spitze vertreten waren. Aber ich will jetzt nicht über Personalentscheidungen sprechen, sondern darüber, was die Aufgabe der Europäischen Union ist.

Ich glaube, gerade unsere mittel- und osteuropäischen Partner, die ja noch nicht so lange Mitglieder der Europäischen Union sind, mit denen wir auch zum Teil sehr schwierige rechtsstaatliche Fragestellungen diskutieren, haben einen sehr guten Sinn dafür, was in Europa zur Debatte steht. Es steht vor allem auch zur Debatte: Wie werden wir künftig ökonomisch, wirtschaftlich stark sein? Wie werden wir mit disruptiven Innovationen klarkommen? Welche Antwort haben wir darauf? Wie halten wir mit den großen Spielern mit, auf der einen Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika und auf der anderen Seite einem immer stärker werdenden China?

Deshalb liegt die Aufgabe in der neuen Periode, in die wir mit der Europäischen Union eintreten, darin, unseren Vorteil, den größten Binnenmarkt der Welt zu haben, auf die Digitalisierung auszuweiten. Wir haben die Aufgabe, mehr für Innovation zu tun. Wir haben die Aufgabe, im Bereich der Künstlichen Intelligenz besser zusammenzuarbeiten und damit Rückstände aufzuholen, die wir zweifelsohne haben, und vor allen Dingen – das ist für mich das schwierigste Kapitel – in unseren Entscheidungen schneller zu werden. Ich glaube, was uns in Deutschland hemmt und beschwert und was uns auch in Europa zum Teil beschwert, das sind die sehr langen Prozesse, die wir uns im rechtsstaatlichen Rahmen angewöhnt haben und die zu der Schnelligkeit des Wandels unserer Zeit nicht mehr passen.

Wir haben zum Beispiel seitens der Bundesregierung, von außen relativ unbeachtet, für die Infrastrukturmaßnahmen noch einmal ein Planungsbeschleunigungsgesetz verabschiedet, vergleichbar mit dem, das wir im Zusammenhang mit den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit hatten. Wir haben mit den Ländern einen Pakt für den Rechtsstaat geschmiedet, um zu versuchen, die Digitalisierung schneller Eingang finden zu lassen in die Gerichte und in sämtliche Justizbehörden. Man muss sich fragen: Wie erlebe ich den Rechtsstaat, wenn meine Verfahren ziemlich lange dauern? Was wird eigentlich daraus, wenn eine Elbvertiefung zehn oder elf oder zwölf Jahre dauert? Drei verschiedene panamaische Präsidenten haben mich gefragt, ob ich eigentlich wüsste, dass der Ausbau des Panamakanals fertig ist. Die Containerschiffe werden immer größer; und wir haben mit den Vorhaben als Reaktion darauf immer noch nicht angefangen. Das sind Fragen, die uns umtreiben müssen und die wir natürlich demokratisch lösen müssen – nicht durch die Abschaffung von Beteiligungsmöglichkeiten, aber schneller. Ich glaube nicht, dass unsere heutigen Prozeduren sozusagen konstitutiv für Demokratien sind, sondern dass sie sich herausgebildet haben und dass wir auf die neuen Zeiten auch neue Antworten geben müssen.

Wir versuchen seitens der Bundesregierung an vielen Stellen, das Thema Digitalisierung besser umzusetzen. Ich könnte jetzt unter den gestrengen Augen von Roland Koch etwas über den Ausbau der Breitbandinfrastruktur sagen. Darüber können wir, wenn es passt, auch nochmals diskutieren. Wir müssen aber vor allen Dingen verstehen, was mit der Digitalisierung passiert. Ganz Europa muss verstehen, dass das eine Disruption ist, die unsere gesamte Gesellschaft erfasst und völlig verändern wird. Wir erleben das im Augenblick in den Medien sehr stark; und wir werden das in allen Bereichen des Arbeitens, des Steuersystems, des Rechtssystems, des Regierungshandelns erleben.

Angesichts des ziemlich guten Wohlstands, den wir in Deutschland haben, wird die Notwendigkeit von revolutionären Veränderungen in unseren Bürokratien, in unseren Unternehmen und anderswo längst nicht so dramatisch gesehen, wie es vielleicht in China gesehen wird, wo man erst mal Anschluss an die Weltspitze finden muss. Insofern muss eine gewisse Resistenz, ein gewisser Widerstand immer wieder überwunden werden, wie wir das zum Beispiel bei der Frage erleben, wie wir endlich alle staatlichen Leistungen digitalisieren.

Es soll 575 Funktionen geben, die der Bürger beim Staat digital abrufen kann. Sie sind auf der kommunalen Ebene, sie sind auf der Landesebene, sie sind auf der Bundesebene. Auf Bundesebene haben wir ungefähr 150, die restlichen sind bei den Ländern und Kommunen. Der Bürger möchte natürlich nicht jedes Mal ein unterschiedliches Verfahren haben, wenn er sich Zugang verschafft, sondern er möchte mit einem Zugang an alle seine staatlichen Leistungen herankommen. Dazu mussten wir erst einmal das Grundgesetz ändern. Das ist sozusagen fast unter dem Radarschirm erfolgt. Die Länder wollten gerne über den Bund-Länder-Finanzausgleich Geld. Da haben wir gesagt: Wir brauchen noch eine Grundgesetzänderung. Daraufhin haben sie gesagt: Okay, wenn die Kasse stimmt, dann gibt es auch eine Grundgesetzänderung. So haben wir sie erst mal hinbekommen; und so gibt es jetzt eine Zusammenarbeit mit den Bundesländern und Kommunen. Aber auch die Tendenz, dass jeder mit seiner Regelung schon mal angefangen hat und glaubt, sie sei das Beste, ist in einigen Bereichen ganz stark.

Über Estland sagen wir, dass es ein tolles System habe, aber so etwas in Deutschland sehr viel schwieriger herzustellen sei, weil wir auf einer schon gebauten Substanz aufsetzen. Trotzdem müssen wir dafür kämpfen. Auch die estnische Präsidentin war gestern bei der Jahrestagung des BDI. Meine Bitte ist, dass Sie auch vonseiten der Wirtschaft uns in der Politik fordern. Zum Beispiel ist in Estland die Digitalisierung aller staatlichen Leistungen auch dadurch in Gang gekommen, dass die Banken erklärt haben, dass sie Überweisungen oberhalb von 100 Euro nur noch mit dem persönlichen Zugangscode jedes Bürgers nach einem einheitlichen Verfahren ausführen. Dies ist das Verfahren, das dann auch der Staat übernommen hat, um seine Dienstleistungen anzubieten. Wir brauchen also, glaube ich, eine Partnerschaft von Wirtschaft und Politik, die deutlich macht, dass sich das grundsätzlich ändern muss. Wir wollen diese 575 Verwaltungsdienstleistungen übrigens bis Ende 2022 digital anbieten können. Sie können also heute schon anfangen zu üben. Es muss dann auch noch so sein, dass es für jeden Bürger einen Zugang gibt, der auf der einen Seite sicher ist, der auf der anderen Seite aber nicht so kompliziert ist, dass wir überhaupt nicht vorankommen.

Ich sage das an dieser Stelle so ausführlich, weil ich glaube, dass wir in allem neu denken müssen. Heutige Prozeduren der Antragstellung dürfen nicht einfach eine Überführung auf das Digitale erfahren. Beantragungen müssen aus dem Digitalen heraus völlig neu gedacht werden; und zwar aus der Perspektive des Bürgers, damit er das auch annehmen kann.

Wenn ich mir die wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland anschaue, dann glaube ich, dass wir gemeinsam Wege finden müssen, wie wir zum Beispiel die Plattformen noch besser entwickeln können. Aber vor allem im mittelständischen Bereich, wenn ich das vor diesem Publikum sagen darf, wird angesichts der heute vollen Auftragsbücher die Dringlichkeit, mit der Daten gespeichert werden müssen und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden müssen, nicht so gesehen. Es geht dabei nicht nur um den eigenen Sektor, in dem ich arbeite, sondern ich muss die Daten so aufbereiten, dass daraus beliebig viele andere Anwendungen gemacht werden können. Da hinken wir in Deutschland noch viel zu sehr hinterher – auch bei unserem Wettbewerbsrecht. Wie viel darf ich auf einer Plattform tun, damit ich dann auch wirklich vorankomme? Diese Frage muss auch wettbewerbsrechtlich beantwortet werden. Genauso müssen wir auf europäischer Ebene über das Wettbewerbsrecht nachdenken. Das heißt also, wir müssen alle unsere Strukturen – ich habe das jetzt nur an diesem einen Beispiel gezeigt – erneuern.

Wir haben über die gesamte Zeit, in der ich Bundeskanzlerin bin, verzweifelt versucht, die Patientengesundheitskarte als digitales Tool zu implementieren. Der Gesundheitsminister hat jetzt gesagt: Ich habe die Geduld verloren. Es sind ja Journalisten im Nachbarraum; sonst hätte ich gesagt: die Faxen dicke. Er sagte also: Ich habe die Geduld verloren; und ich übernehme jetzt für den Bund 51 Prozent der Beteiligung an dieser Gesundheitskarte, damit die Entscheidungsmöglichkeiten beim Bund liegen, weil die so gelobten Partner des Gesundheitssystems sich in keiner Weise darauf einigen konnten, wie sich die Sache in die Breite entwickeln sollte. Das ist eigentlich kein gutes Beispiel, weil wir ja im Grunde auf die Selbstverwaltung setzen, weil wir im Grunde sagen: Die Partner, sowohl im Tarifbereich als auch im Bereich der Sozialsysteme, sollen die richtigen Lösungen finden. Es stellt sich allerdings heraus, dass das dann oft sehr lange dauert. Digitalisierung bringt Transparenz. Und im Gesundheitssystem ist Transparenz nicht für jeden ein Vorteil, weil dann nämlich etwa auch herauskommt, wie viele Internisten man bei freier Arztwahl wegen ein und derselben Frage hintereinander besucht hat. Und dies bringt natürlich Probleme mit sich.

Wir haben also unglaublich viel zu tun; und ich weiß nicht, ob wir schon den ausreichenden Sinn für die Dringlichkeit haben. Auf jeden Fall haben wir keinerlei Zeit mehr zu verlieren.

Ich möchte jetzt etwas zu den Herausforderungen sagen, vor denen Europa steht. Helmut Kohl war auch zu Gast beim Hessischen Kreis. Wir haben in seiner Zeit zwei große Entscheidungen getroffen, die für die Europäische Union wegweisend waren und die wir jetzt – ich sage es mal in meiner Sprache – vollenden müssen.

Das eine war die Entscheidung für eine gemeinsame Währung – auch eine Absicherung gegen die Gefahr, sich wieder in Kriege gegeneinander zu verwickeln. Das ist also etwas, das weit über die monetäre Aufgabe hinausgeht. Aber wir haben an den ersten Krisen gesehen, dass die Architektur des Euro eben doch nicht krisenfest war. Daher ist, unter anderem mit dem Stabilitätsmechanismus, vieles getan worden. Aber es gibt auch große Skepsis, ob die Eigenverantwortung jedes Teilnehmers am Eurosystem im nationalen Bereich ausreichend ausgeprägt ist und ob die Sanktionsmöglichkeiten, also die Möglichkeiten, die Einhaltung der gemeinsamen Regeln durchzusetzen, wirklich ausreichend gegeben sind.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir weiter daran arbeiten, die Bankenunion zu vollenden. Deshalb ist es so wichtig, eine Kapitalmarktunion in Europa zu entwickeln. Wir haben nach wie vor ein völlig zersplittertes, national ausgerichtetes Kreditvergabesystem. Aber wir müssen darauf achten, dass wir die Verantwortung dort lassen, wo sie ist, solange die Risiken nicht abgebaut sind. Das heißt, der Risikoabbau ist genauso wichtig wie die gemeinschaftlichen Entscheidungen. Ich hoffe, dass uns das gelingt. Ich weiß, dass das gerade in Deutschland sehr aufmerksam beobachtet wird – am Finanzplatz Frankfurt natürlich in ganz besonderer Weise.

Wir müssen den Euro so krisenfest machen, damit er als Währung auch weltweit an Bedeutung gewinnt. Angesichts der Handelskonflikte, die wir jetzt haben, angesichts der unterschiedlichen politischen Bewertungen von bestimmten internationalen Abkommen – ich denke zum Beispiel an den Iran – entfaltet die Frage, ob der Euro eines Tages auch eine Währung für die Fälle sein kann, in denen man sich unabhängiger vom Dollar machen möchte, natürlich ein eigenes Gewicht. Diese Frage ist für die nächsten Jahre durchaus von Relevanz. Da muss Europa aus meiner Sicht noch besser werden.

Eine weitere große Errungenschaft ist das sogenannte Schengen-System, also die Freizügigkeit und die Abschaffung von Grenzkontrollen. Ich weiß noch genau, als das Schengen-System eingeführt wurde. Wir standen am deutschen, polnischen und tschechischen Dreiländereck, wo endlich die Grenzpfosten weg waren. Sie alle haben das erlebt – etwa an der französisch-deutschen Grenze und an anderen Grenzen. Aber auch beim Schengen-System hat sich gezeigt, dass es auf Krisen nicht vorbereitet war und dass es nicht immer funktioniert. Daran hat Deutschland auch einen Anteil, weil wir in den Zeiten, als man über eine redliche Verteilung von Flüchtlingen sprechen wollte, die vielen Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder nach Hause haben gehen lassen können, weil dort wieder Frieden eingekehrt war. Wir glaubten, dass wir nunmehr für die nächsten Jahre und Jahrzehnte keinerlei große Verantwortung mehr tragen müssten. So haben wir im Grunde die gesamte Verantwortung an die Länder mit der europäischen Außengrenze gegeben. Bis heute haben wir kein vernünftiges Verteilungssystem in den Fällen, in denen Flüchtlinge ankommen, die ein Bleiberecht haben. Und wir tun uns auch mit dem Außengrenzenschutz noch immer sehr schwer.

Im Übrigen war von sehr vielen Menschen in Deutschland gedanklich noch gar nicht nachvollzogen worden, dass mit der Einführung des Schengen-Systems die nationale Grenze sozusagen zurückgetreten war und seitdem die eigentliche Grenze eine europäische ist. Wenn Sie sich mal die Landkarte vor Augen führen, dann reichen die europäischen Grenzen im Grunde vom Nordpol – Norwegen gehört ja auch zum Schengen-System – über Russland, die Ukraine – ich will jetzt nicht alle Länder aufzählen – und die Türkei bis Syrien. Dann kommen Sie an die Mittelmeerländer. Zypern liegt gegenüber von Syrien, Griechenland liegt gegenüber der Türkei. Das sind unsere Außengrenzen. Damit haben wir eine gemeinsame Verantwortung übernommen, die wir längst noch nicht exekutieren können. Auch wenn wir die europäische Grenzschutzagentur Frontex gegründet haben, bleibt die Frage: Wie viel nationale Souveränität will ich denn im Zweifelsfalle abgeben? Was will ich von den Kompetenzen meiner eigenen Grenzpolizei der Frontex-Agentur übertragen? Da haben wir erhebliche Schwierigkeiten.

Ich glaube, wenn wir das Schengen-System nicht in Ordnung bringen und wenn wir die Euro-Widerstandsfähigkeit nicht noch verbessern, dann sind zwei ganz wichtige Säulen Europas in Gefahr. Deshalb ist es die Aufgabe für die nächsten Jahre, daran ruhig und auch sehr zielstrebig weiterzuarbeiten.

Die Frage der Flüchtlinge aus Syrien und aus dem Irak hat uns im Grunde die Augen geöffnet, dass Krisen, die außerhalb unseres europäischen Bereichs stattfinden, um deren Bewältigung wir uns nicht ausreichend kümmern, uns einholen. Der Fehler war ja, dass wir uns nicht darum gekümmert haben, wie viele syrische Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien sitzen, dass sie kein Geld haben und die Kinder keine Schule besuchen können, sodass die Schlepper überhaupt erst die Hoheit darüber bekommen konnten, das zu tun, was sie dann taten.

Dieses Augenöffnen erstreckt sich gleich weiter auf unseren Nachbarkontinent Afrika. Auf die Europäische Union kommt in den nächsten Jahren die gewaltige Aufgabe zu, deutlich zu machen, dass wir Afrika als Partner verstehen, dass wir Afrika helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln, dass wir über den Charakter unserer Entwicklungshilfe nachdenken. Entwicklungshilfe muss zu wirtschaftlicher Aktivität führen. Ansonsten werden wir ein großes und lang anhaltendes Problem haben. Ich möchte nicht, dass Afrika als Problemkontinent verstanden wird, sondern als ein Kontinent der Chancen, wo Menschen auch das Recht und die Hoffnung haben sollen, gut leben zu können.

Diese Aufgabe hat eine völlig neue Dimension entwickelt. Ich freue mich, dass Tanja Gönner, die auf diesem Gebiet sehr viel tut, heute hier ist. Aber auch bei dieser Aufgabe sind unsere Mechanismen schwerfällig. Auch da dauert vieles sehr lange, aber die Menschen dort haben keine Zeit. Ich war kürzlich wieder in Burkina Faso, Niger und Mali. Dort beträgt das Durchschnittsalter der Bevölkerung ungefähr 15 Jahre. Unser Durchschnittsalter liegt bei rund 45 Jahren, das der Mitglieder der CDU im Übrigen bei über 60 Jahren. Ich habe heute gelernt: das Durchschnittsalter der Tories liegt bei 70 und das der norwegischen Partnerpartei bei 59 Jahren. Wir bewegen uns alle also etwa in diesem Bereich. Also, das Durchschnittsalter in den genannten westafrikanischen Staaten liegt bei 15 Jahren, das Einkommen bei 350 Dollar im Jahr pro Person. Das ist die Ausgangslage. Darum müssen wir handeln, damit diese Länder in einen wirtschaftlichen Aufschwung kommen.

Das sind die für mich wesentlichen europäischen Aufgaben: wirtschaftliche Prosperität, Innovation, Grenzschutz – also Schengen wetterfest machen –, den Euro krisenfest machen und die Partnerschaft mit Afrika entwickeln.

Wenn wir uns mal geostrategisch anschauen, wo wir liegen, wo Europa geografisch verortet ist, dann sehen wir, dass sich um uns herum ziemlich viele der weltweiten Konflikte versammelt haben. Das wird uns noch viele Jahre begleiten. Deshalb ist natürlich auch die Frage unseres Miteinanders mit islamisch geprägten Staaten von allergrößter Bedeutung. Dort werden auch in den nächsten Jahren leider weiter Konflikte zu erwarten sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben – das sage ich den jeweiligen Präsidenten immer – eigentlich eine sehr einfache geografische Lage: links ein Ozean, rechts ein Ozean, oben Kanada. Es bleibt nur eine Landgrenze im Süden; und selbst diese ist schwierig zu bewältigen. Da sieht man, wie kompliziert im Vergleich dazu unser Außenbereich ist.

Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten trotz aller Herausforderungen positiv an die Dinge herangehen. Aber wir sollten wissen: nichts ist sozusagen für immer sicher, wenn man nicht dafür arbeitet und wenn man sich dafür nicht einsetzt. Deshalb ist es eine Zeit – davon bin ich zutiefst überzeugt –, die alle in der Gesellschaft zum Engagement auffordert, die sich für die Zukunft interessieren.

Es zeigt sich jetzt ja, dass unsere Jugend sehr aufmerksam geworden ist, dass da sozusagen ein Sensor getroffen wurde im Zusammenhang mit dem Thema Klimaschutz, auch mit den Themen Biodiversität und Artenschutz. Man muss sich einmal in die Perspektive von 18-Jährigen hineinversetzen, die jetzt Berichte des IPCC, also des Weltklimarats, lesen, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass im Jahr 2030, also in elf Jahren, bereits ein Temperaturanstieg um 1,5 Grad stattgefunden haben wird, mit dem dann mit einer wieder nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit alle Permafrostböden dieser Erde auftauen, dadurch unglaublich viel Methan entweicht und sich damit ein sich selbst beschleunigender Prozess ergibt, der zu weiterer Erwärmung führt.

Ein Besuch im Berliner Naturkundemuseum, in dem die alten Dinosaurier ausgestellt sind, zeigt, wie immer wieder Situationen für Lebewesen entstanden sind, in denen ein Überleben nicht möglich war. Das sollten wir für die Menschheit vermeiden. Deshalb müssen wir die Warnungen der Jugend ernst nehmen und zum Wandel bereit sein – nicht sozusagen aufgepfropft auf unsere sonstige wirtschaftliche Tätigkeit, sondern eingearbeitet in unsere Soziale Marktwirtschaft.

Damit bin ich beim Thema meines Vortrags im Jahr 2003, der Sozialen Marktwirtschaft. Damals habe ich von „Neuer Sozialer Marktwirtschaft“ gesprochen, weil für mich die Dimension der Globalisierung so wichtig war. Wir haben während der Arbeiten an einem neuen Grundsatzprogramm über eine soziale und ökologische Marktwirtschaft gesprochen. Das haben wir in einem weiteren Grundsatzprogramm wieder fallen gelassen und haben gesagt: Das Soziale umfasst auch das Ökologische. Aber das Denken in Kreisläufen, das Denken im Geiste der Nachhaltigkeit, dass wir den Planeten nicht mehr belasten dürfen, als er sich regenerieren kann, muss Teil unseres Denkens in der Sozialen Marktwirtschaft werden. Ansonsten werden wir scheitern. Das ist eine Riesenaufgabe, an der mitzuwirken allerdings Freude macht.

Deshalb danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich jetzt auf die Diskussion.