Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe am 31. März 2019

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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stefan Löfven,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,
sehr geehrter Herr Ziesemer,
sehr geehrter Herr Neugebauer,
sehr geehrte, liebe Kollegin Anja Karliczek,
liebe Minister, Kommissare, Abgeordnete, Exzellenzen,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren,

es ist mir eine Freude, auch in diesem Jahr die Hannover Messe zu eröffnen. Ich bin sehr froh, dass das Partnerland Schweden heute dabei ist. Denn die Wirtschaftsbeziehungen unserer beiden Länder haben wirklich eine lange und gute Tradition. Wir sind Nachbarn; und ich weiß aus meinem Wahlkreis, wie wichtig der Handel zwischen Deutschland und Schweden schon seit Jahrhunderten ist. So denke ich zum Beispiel an die Hafenordnung von Stralsund. Darin fanden die südlichen Häfen Schwedens bereits vor rund 750 Jahren als sehr bedeutsame Anlaufstellen für die heimische Schifffahrt Erwähnung. Stralsund zählte später auch viele Jahre zum schwedischen Hoheitsgebiet. Und ich habe den Eindruck, dass sich sogar heute noch mancher Stralsunder eher als Südschwede versteht. Tatsache ist: Die Ostsee trennt nicht, sondern sie verbindet unsere beiden Länder. Das unterstreicht auch, dass Königin Silvia in wenigen Tagen Niedersachsen besuchen wird. Durch die Ostsee sind wir sehr eng verbunden.

Aber heute freuen wir uns erst einmal über Ihren Besuch, lieber Herr Ministerpräsident. Ein herzliches Willkommen Ihnen und allen 160 schwedischen Ausstellern. Diese stehen exemplarisch für die insgesamt mehr als 1.000 in Deutschland ansässigen schwedischen Unternehmen. Alle diese Unternehmen genießen einen ausgezeichneten Ruf. Das haben wir eben auch am Beispiel der Roboter-Präsentation gesehen. Ob Produkte rund um das Automobil, ob Maschinen, Mobilfunk oder Möbel – schwedische Produkte sind hierzulande sehr gefragt. Aber das beruht auch auf Gegenseitigkeit. Und so war Deutschland im letzten Jahr erneut der wichtigste Handelspartner Schwedens. Insofern ist es nahezu folgerichtig – man fragt sich, warum dies so lang nicht passiert ist –, dass Schweden einmal Partnerland der Hannover Messe ist. Es hat sich heute auch in voller Sympathie präsentiert.

Nun hat jede Hannover Messe ihre Besonderheiten. In diesem Jahr kommt eine organisatorische Besonderheit hinzu. Nachdem die CeBIT vor 33 Jahren aus der Hannover Messe ausgegliedert wurde, ist sie nun wieder eingegliedert worden. Sie war seit 1986 selbständig. Es hat sich dann in einer interessanten Entwicklungsgeschichte herausgestellt, dass die Entstehung digitaler Optionen zwar erst eine gewisse Distanz zu den klassischen Maschinen geschaffen hat, sodass man glaubte, zwei Messen zu brauchen. Aber jetzt erleben wir sozusagen eine neue Konvergenz, eine nicht erwartete Harmonie. Es war schon in den letzten Jahren der CeBIT erkennbar, dass man fast immer über Ähnliches gesprochen hat, weil seit dem Jahr 2011 – man kann vielleicht sagen, Industrie 4.0 ist hier geboren worden – immer deutlicher wurde, dass die digitalen Möglichkeiten und die Maschinen miteinander verschmelzen. Wir können feststellen, dass dies durch Künstliche Intelligenz jetzt noch im wahrsten Sinne des Wortes getrieben wird. Industrie und IT gehören zusammen. Insofern wird diese Hannover Messe sehr interessant sein, weil an hundert Anwendungsbeispielen gezeigt wird, wie dies praktisch aussieht.

Meine Damen und Herren, die Hannover Messe ist nach wie vor die Weltleitmesse der Industrie. Deshalb kommt auch der größte Teil der Aussteller aus dem Ausland. Daran zeigt sich, wie vernetzt die deutsche Industrie ist. Sie setzt internationale Maßstäbe, sie ist breit aufgestellt. Das Spektrum reicht von innovativen Start-Ups über mittelständische Unternehmen mit zahlreichen Weltmarktführern bis hin zu großen Industriekonzernen, die weltweit zehntausende oder hunderttausende Beschäftigte haben. Einige von ihnen haben eine Unternehmensgeschichte, die mehr als 250 Jahre zurückreicht – in eine Zeit, in der James Watt mit seiner Weiterentwicklung der Dampfmaschine die Industrie 1.0 in Gang setzte.

Wir haben also einen Mix aus kleinen und großen, jungen und etablierten, spezialisierten und diversifizierten Unternehmen. Das ist ein maßgeblicher Grund dafür, warum die deutsche Industrie als Ganzes so leistungsstark ist und für fast ein Viertel der deutschen Wirtschaftsleistung steht. Auf diesen hohen Industrieanteil sind wir stolz, aber er ist natürlich nicht in Stein gemeißelt, sondern muss immer wieder erarbeitet werden. Dass wir beim World Economic Forum im letzten Jahr Innovationsweltmeister wurden, hat auch sehr viel mit der deutschen Industrie zu tun. Ansonsten könnte sie nicht diesen großen Anteil haben.

Die Industrie ist natürlich nicht allein für Deutschland, sondern auch für Europa insgesamt von enormer Bedeutung. 80 Prozent der Exporte der Europäischen Union und rund 30 Millionen Arbeitsplätze sprechen dafür. Weil wir wissen, dass wir alle miteinander – heute noch 28 und in Zukunft 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union – keine gute Zukunft haben werden, wenn wir nicht auch eine klare Vorstellung davon haben, wie es industriepolitisch vorangehen soll, haben wir – ich bin sehr dankbar dafür, dass der Bundeswirtschaftsminister für Deutschland diesen Stein ins Rollen gebracht hat – auf der Grundlage der Vorstöße von Frankreich, Deutschland und vieler anderer in der letzten Woche bei unserem Europäischen Rat über die Rolle der Industrie und eine Strategie für eine global wettbewerbsfähige Industrie diskutiert. Wir haben die Kommission gebeten, uns bis zum Jahresende Vorschläge zu machen, in welche Richtung wir hierbei zusammenarbeiten müssen. Denn, Herr Ziesemer, ich gebe Ihnen recht: Es wird nicht ausreichen, dass wir einfach so weitermachen, wie wir es immer gemacht haben.

Wir müssen uns in einem sich verändernden globalen Umfeld orientieren. Dabei stehen wir völlig neuen Wettbewerbssituationen gegenüber. Wir kennen Länder, die durchaus darauf achten, dass ihre Unternehmen Vorteile haben, und die den Gedanken des level playing field nicht ganz so faszinierend finden wie wir. Wir kennen Länder, die einzelne Unternehmen oder Wirtschaftszweige sehr stark subventionieren. Wir lesen viel über tarifäre, aber vor allem auch über nichttarifäre Handelshemmnisse. Es gibt viele Länder, die das Beihilferegime unter den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union eher für etwas zum Belächeln halten als für etwas, aus dem man wirtschaftliche Stärke entwickeln kann.

Deshalb möchte ich an diesem Ort noch einmal sagen: Ich bleibe eine große Befürworterin von Marktoffenheit und freiem Handel. Es ist auch richtig, dass der Staat niemals denken sollte, dass er der bessere Unternehmer sei. Manchmal werden Verdächtigungen geäußert, dass wir jetzt völlig von der Rolle seien – wir kämen gar nicht darauf, einen solchen Satz auszusprechen –, aber ich sage es dennoch: Wir erleben, dass sich Spielregeln verändern. Deshalb brauchen wir Antworten auf entscheidende Fragen. Das können keine nationalen Antworten sein, das müssen europäische Antworten sein. Wir müssen diese Antworten auch mit Blick auf die großen Wirtschaftsmächte finden, von denen ich hier einmal die USA und China nennen möchte. Wir müssen als Europäer vor allem gemeinsam handeln, eine gemeinsame Position finden. Das stellt sich täglich als nicht ganz einfach dar.

Um es noch einmal zu unterstreichen: Ich bin sehr dankbar gewesen, dass der französische Präsident, Emmanuel Macron, Jean-Claude Juncker und mich zu einem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi eingeladen hat, bei dem wir über Fragen des Multilateralismus sprechen konnten. Ich glaube, wir sind uns in einigen Grundfragen einig; und dies gilt ganz und gar auch für den schwedischen Ministerpräsidenten.

Erstens brauchen wir einen umfassenden Ansatz, der bei den Auswirkungen unseres Handelns zum Beispiel im Klimaschutz auch die Industrie und ihre Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigt.

Zweitens sind wir uns einig, dass wir – ich sage es ganz vorsichtig – ein gewisses Maß – das wird es niemals zu hundert Prozent geben – an Gegenseitigkeit und Gleichbehandlung brauchen. Wenn wir ausländischen Unternehmen entgegenkommen, dann erwarten wir auch für unsere Unternehmen, die im Ausland tätig sind, Erleichterungen für Handel und Investitionen.

Drittens sind wir uns auch einig, dass Protektionismus am Ende allen schadet. Ich will noch einmal daran erinnern, dass wir vor zehn Jahren die internationale Finanzkrise überhaupt nur überwinden konnten, weil wir damals gemeinsam gehandelt haben. Daraus ist das G20-Format der großen Industriestaaten auf der Ebene der Regierungschefs entstanden. Deshalb ist und bleibt der multilaterale Ansatz in der Handelspolitik der beste. Leider geht es mit der Reform der Welthandelsorganisation nur sehr langsam voran. Der zweitbeste Ansatz sind bilaterale Handelsabkommen, von denen die Europäische Union in letzter Zeit erfreulicherweise einige abschließen konnte. Wir müssen natürlich auch unsere Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln. Wir wollen niedrigere Zölle, wir wollen ein gutes Abkommen. Die Kommission arbeitet gerade mit den Mitgliedstaaten an einem Verhandlungsmandat. Ich hoffe, dass man sich schnell einigen kann.

Viertens haben wir im Europäischen Rat vereinbart, auch Änderungen des Wettbewerbsrechts zu überprüfen. Die Kommission wird noch in diesem Jahr Vorschläge vorlegen, wie wir auf Verzerrungen im internationalen Wettbewerb reagieren können. Das sind zum Teil sehr angespannte und sehr emotional geführte Diskussionen. Ein kluges Wettbewerbsrecht darf sich sicherlich nicht von Emotionen leiten lassen, aber die Marktdefinition in Zeiten der Globalisierung ist schon eine, die man mit Interesse berücksichtigen sollte.

Ich habe gerade bei einem bekannten Fall zwischen Deutschland und Frankreich gelernt, dass der Ausschreibungsmarkt immer wieder ein Betrachtungsraum ist. Das ist richtig und gut. Wer sich heute an Ausschreibungen auf europäischem Gebiet beteiligt, sollte mit einbezogen werden. Aber wenn es zum Beispiel strategische Fusionen in Europa gibt, dann betreibt man diese Fusionen ja nicht für heute, sondern für eine ganze Dekade oder auch für zwei. Ob der europäische Ausschreibungsmarkt dann noch so bedient werden wird, wie er heute bedient wird, weiß keiner. Insoweit müssen wir uns auf die Zukunft vorbereiten.

Aber viel interessanter sind noch die Fragen des Wettbewerbsrechts in Zeiten der Digitalisierung. Wir werden noch sehr viel zu tun haben, um die Plattformwirtschaft sich entwickeln zu lassen. Denn die Plattformwirtschaft bedeutet eine groß angelegte Vernetzung vieler Marktteilnehmer. Das verändert natürlich auch unseren Blick auf das klassische Wettbewerbsrecht. – Es geht also um äußere Rahmenbedingungen.

Des Weiteren geht es um Innovation. Das Stichwort „5G“ ist hier schon genannt worden. Schweden ist ein Land, das über einen Akteur in diesem Bereich verfügt. Wir sind jetzt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Diskussion darüber, welche Sicherheitsanforderungen wir stellen müssen. 5G wird uns noch einmal vor völlig neue Herausforderungen stellen. Aber ich bin dagegen, dass wir sozusagen per Definition jemanden ausschließen. Wichtig sind vielmehr die Standards, die eingehalten werden müssen. So sollten wir uns dann auch aufstellen.

Es läuft die Versteigerungsrunde. Man hört noch nicht viel, aber ich hoffe, es geht ordentlich voran. Ich schaue aufmerksam Herrn Höttges an, aber er sieht noch ganz ruhig aus. Wir wollen also sehen, dass das vernünftig vonstattengeht.

Wer sehen will, was bei 5G möglich ist, der kann hier in die 5G-Arena gehen. Die deutsche Industrie hat sich einen extra Raum geschaffen, wo Frequenzen für industrielle Entwicklungen vergeben werden. Das ist ein positives Phänomen. Sie dürfen nicht vergessen: Alle anderen müssen dafür bezahlen. Die deutsche Wirtschaft kommt schon einmal in die Frontstellung; und wenn wir über Standortfaktoren reden, dann wäre es schön, wenn ich bei all dem, was auch zu beklagen ist, an der Stelle auch einmal ein positives Wort hören könnte. Ich weiß nicht, wie es in Schweden ist. Das Gute wird so gut wie nicht besprochen, meistens wird über das Schlechte diskutiert. Das ist auch in Ordnung, weil man ja eine Lösung für das Schlechte finden will. Insofern haben wir hier viel zu tun.

Meine Damen und Herren, diese Hannover Messe findet in einer Zeit statt, in der sich insbesondere die Künstliche Intelligenz exponentiell entwickelt. Sie befindet sich sozusagen im Kern ihrer Entwicklungsphase; und wir müssen schon hier sehr aufmerksam sein. Die KI-Strategie von gestern kann für morgen schon nicht mehr ausreichen. Wenn ich mir anschaue, was weltweit passiert, mit welcher Kraft hieran geforscht wird, wenn ich mir anschaue, welcher Kampf um die besten Köpfe stattfindet, dann kann ich nur sagen: Deutschland alleine wird das nicht bewältigen. Hier müssen wir europäisch zusammenarbeiten, hier müssen wir unsere Agenturen zur Förderung von Sprunginnovationen aufstellen, wir müssen uns vernetzen, müssen auch ein bisschen europäisch denken und gute Standortbedingungen für die Fachkräfte bieten.

Ich glaube, dieses Thema wird uns in der nächsten Zeit sehr stark beschäftigen. Die Bundesregierung ist jedenfalls in einem sehr aufmerksamen Zustand. Ich sage für mich: Ich bin mir noch nicht ausreichend sicher, ob wir schon die Voraussetzungen haben, um weltweit mitzuspielen. Für Europa ist es eine der ganz großen Herausforderungen, auf diesem Feld hinterherzukommen. Wir sehen ja schon in verschiedenen Bereichen, wie das zu Buche schlägt.

Für Hannover ist die Automobilindustrie von ganz besonderer Bedeutung. Sie steht vor der großen Herausforderung, sowohl sich, die Art des Fortbewegens durch Künstliche Intelligenz, durch autonomes Fahren als auch die Antriebstechnologien völlig zu verändern. Denn wir wissen, die Klimaherausforderungen sind von sehr großer Bedeutung für die Zukunft unseres Planeten. Wir haben als klassische Industrienation die Aufgabe, die technologischen Entwicklungen der Zukunft vorzuzeichnen, damit sie dann weltweit angewandt werden können. Das ist auch eine der großen Aufgaben, vor denen wir stehen.

Das heißt, ganz im Geist der klassischen Sozialen Marktwirtschaft müssen wir Ökologie, Ökonomie und Soziales zusammendenken. Wir müssen dabei vor allem im Blick haben, dass wir dies alles für die Menschen tun und dass Technologie als solche kein Selbstzweck ist. Aber Technologie entfaltet herausragende Möglichkeiten. Die ethischen Implikationen gerade auch der Künstlichen Intelligenz sollten wir ebenfalls miteinander besprechen.

Meine Damen und Herren, dies ist also eine spannende Messe – eine Messe, bei der wir auch sehr aufmerksam darauf schauen wollen, was uns andere zeigen werden. Dabei richtet sich unser Blick besonders auf die schwedischen Aussteller. Ich bin sehr froh, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stefan, dass wir morgen sozusagen die zweite Stufe der deutsch-schwedischen Innovationspartnerschaft aus der Taufe heben können, mit zwei neuen Bereichen, in denen wir zusammenarbeiten wollen: im Bereich der Künstlichen Intelligenz und in der Batteriezellproduktion – zwei große Herausforderungen für unsere beiden Länder. Das wird Deutschland und das wird Schweden guttun.

Mit dieser positiven Stimmung und der Vorfreude auf den Rundgang morgen, bei dem ich hoffentlich wieder viel Neues lernen kann, darf ich jetzt die Hannover Messe für eröffnet erklären.

Herzlichen Dank.