Rede von Bundeskanzlerin Merkel am 7. Oktober 2015 vor dem Europäischen Parlament

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Sehr geehrter Herr Präsident des Europäischen Parlaments, lieber Martin Schulz,
sehr geehrter Herr Präsident der Europäischen Kommission, lieber Jean-Claude Juncker,
liebe Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament,
meine Damen und Herren,

im November 1989 sprachen zum letzten Mal ein französischer Präsident und ein deutscher Bundeskanzler gemeinsam vor dem Europäischen Parlament. François Mitterrand und Helmut Kohl ergriffen kurz nach dem Mauerfall hier in Straßburg das Wort. Beide spürten die sich abzeichnenden Umbrüche in Deutschland und in Europa. Beide zeigten sich von diesen Umbrüchen tief bewegt. Beide bekannten sich in diesen Stunden mit klaren Worten dazu, gemeinsame europäische Antworten zu finden. So folgte auf das Zusammenwachsen Deutschlands schließlich das Zusammenwachsen Europas.

Heute können wir mit großer Dankbarkeit und mit etwas Stolz auf die historische Leistung zurückblicken, die wir Europäerinnen und Europäer im Zuge des Zusammenwachsens unseres Kontinents erbracht haben. Uns erscheint das freie und vereinte Europa heute selbstverständlich. Aber diese historische Leistung erforderte eine große Kraftanstrengung.

Es gab in den alten Mitgliedstaaten Ängste und Skepsis zum Beispiel davor, dass sich die Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union fast verdoppeln sollte. Viele sahen die Freizügigkeit für Millionen neue EU-Bürgerinnen und EU-Bürger als Bedrohung für den eigenen Arbeitsplatz. Neue Entscheidungsstrukturen mussten entwickelt werden. Europäische Fördermittel mussten zugunsten der neuen Mitgliedstaaten umverteilt werden.

Heute erkennen wir, dass sich diese Kraftanstrengung für uns alle gelohnt hat. Sie hat uns nicht zu weniger, sondern sie hat uns zu mehr Wohlstand verholfen. Sie hat uns nicht zu weniger, sondern zu mehr Freiheit verholfen. Sie hat uns nicht zu weniger, sondern zu mehr Vielfalt verholfen. Kurz: Sie hat uns zu mehr Europa verholfen, weil wir Europäer in unserer Geschichte gelernt haben, aus unserer Vielfalt das Meiste zu machen. Die Eigenschaft, die uns dazu befähigt, die uns zur Freiheit in Verantwortung befähigt, ist Toleranz. Sie ist ein wertvolles Gut.

Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Ost und West hat sich als eine gigantische Erfolgsgeschichte erwiesen. Sie zeigt uns, wozu wir Europäer in der Lage sind, wenn wir nur wollen, wenn wir Mut beweisen und wenn wir zusammenhalten. Sie zeigt auch, dass es überhaupt keinen Grund gibt, sich von Rückschlägen, die es selbstverständlich immer wieder gibt, entmutigen zu lassen. In einem Wort: Sie zeigt uns, was möglich ist.

Dafür stehen die Erarbeitung der Grundrechtecharta und der Lissaboner Vertrag. Dafür stehen die Erfahrungen in der internationalen Finanzkrise, die wir gemeinsam bewältigt haben und aus der wir stärker hervorgegangen sind, als wir in sie hineingegangen sind. Dafür steht die europäische Staatsschuldenkrise, in der wir gemeinsam gehandelt haben. François Hollande hat auf die schwierigen Verhandlungen hingewiesen. Aber dadurch, dass wir gemeinsam gehandelt haben, haben wir den Zusammenhalt der Eurozone sichern können.

Meine Damen und Herren, heute dürfen der französische Präsident François Hollande und ich zu Ihnen sprechen. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentspräsident, für diese Einladung. Wir sprechen in einer Zeit, in der Europa wieder eine große Herausforderung zu bewältigen hat. Es ist eine Bewährungsprobe historischen Ausmaßes.

Und das sind die vielen, vielen Menschen, die sich auf überaus gefährlichen Wegen nach Europa aufmachen, um hier Zuflucht zu finden. Menschen, die über das Mittelmeer nach Italien oder über die Ägäis aus der Türkei nach Griechenland kommen. Menschen, die vor schrecklichen Bürgerkriegen fliehen, insbesondere vor dem Krieg in Syrien, der schon mehr als 250.000 Opfer gefordert hat und mehr als zehn Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat. Flüchtlinge aus dem Irak und Flüchtlinge, die über das instabile Libyen aus Afrika zu uns kommen.

Sie alle mussten erleben, dass unsere diplomatischen und politischen Bemühungen und die unserer transatlantischen Verbündeten bislang keinen Frieden in Syrien gebracht haben. Das Erstarken der Terrororganisation IS im Irak und in Syrien konnte nicht verhindert werden. Das Machtvakuum in Libyen ist noch nicht gefüllt. Diesen Menschen wieder ein menschenwürdiges Leben in ihrer Heimat zu ermöglichen, ohne dass sie in Angst und Schrecken vor Bomben und Terror erstarren müssen – das zu schaffen, ist eine europäische und letztlich eine globale Aufgabe.

Die Botschaft am heutigen Tage ist: Es wird eines entschlossenen Beitrags von Europa zur Lösung dieser Krisen brauchen – beim Kampf gegen Krieg und Vertreibung, Terrorismus und politische Verfolgung, gegen Armut und Perspektivlosigkeit.

Deutschland und Frankreich haben mit Entschlossenheit den schrecklichen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu lösen versucht. Wir haben die Annexion der Krim erlebt, wir haben die Destabilisierung der Ostukraine erlebt. Ich sage ganz offen: Wir haben glücklicherweise in Europa gemeinsam gehandelt, wir haben gemeinsam Sanktionen verhängt und gesagt, dass das Vorgehen Russlands eine Verletzung unserer Prinzipien ist, die wir nicht zulassen werden. Jetzt arbeiten wir im Normandie-Format daran, diesen Konflikt zu lösen. Gerade erst am letzten Freitag hatten wir Gespräche in Frankreich, in Paris, die uns hoffen lassen, dass zumindest der Waffenstillstand halten könnte. Immerhin wurden die Wahlen in Donezk und Lugansk verschoben. Aber, meine Damen und Herren, das ist nur einer von vielen Konflikten.

Ich bin überzeugt: Wir müssen unsere Außen- und Entwicklungspolitik deutlich stärker darauf ausrichten, Konflikte zu lösen und Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir werden uns auch finanziell deutlich stärker engagieren müssen als heute. Die hierfür notwendigen Entscheidungen müssen schnell getroffen werden. All dies wird Europa wieder verändern, genauso wie sich Europa nach den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa vor 25 Jahren tiefgreifend verändert hat.

Natürlich werden wir uns weiter mit der Verbesserung unserer Wettbewerbsfähigkeit beschäftigen. Natürlich werden wir uns mit der Digitalisierung unserer Gesellschaften, mit einer nachhaltigen Entwicklung, mit einer gemeinsamen Energiepolitik und mit Freihandelsabkommen mit anderen Ländern nach der Maßgabe unserer Prinzipien beschäftigen. Gerade jetzt wird ja ein wirtschaftlich starkes Europa, das die Chancen des Binnenmarktes nutzt, mehr denn je gebraucht. Dazu müssen wir auch die wirtschaftspolitische Koordinierung in der Eurozone verbessern und auf dieser Grundlage die Gründungsfehler der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion beheben. Deutschland und Frankreich werden ihren Beitrag dazu leisten.

Doch die überaus große Zahl der Flüchtlinge verändert Europas Tagesordnung noch zusätzlich – und zwar nachhaltig, weil sie unsere Werte und Interessen als Europäer und weltweit in besonderer Weise herausfordert. Wenn es heißt, dass der Flüchtlingsandrang geordnet und im Ergebnis eingedämmt werden soll, dann führt kein Weg daran vorbei, dort anzusetzen, wo Flucht und Vertreibung verursacht werden. Dass das Zeit, Geduld und einen langen Atem braucht, versteht sich von selbst.

Wir in Europa – das erleben wir besonders in diesen Monaten – sind mit den globalen Ereignissen eng verbunden, und zwar unmittelbar; ob uns das gefällt oder nicht. Wir können uns von den globalen Ereignissen nicht mehr entkoppeln. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute – etwa 60 Millionen. Allein diese eine Zahl macht die ganze Dimension der Aufgabe deutlich.

Niemand verlässt seine Heimat leichtfertig – auch nicht die, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa kommen. Aber denen müssen wir auch sagen, dass sie nicht bleiben können, damit wir denen wirklich helfen können, die tatsächlich unseren Schutz vor Krieg und Verfolgung brauchen. Dazu brauchen wir einen politischen Prozess zur Lösung der Krise in Syrien mit allen regionalen und internationalen Akteuren – mit einer stärkeren Rolle Europas. Den Nachbarstaaten Syriens müssen wir helfen, den Millionen von Flüchtlingen eine angemessene Perspektive bieten zu können. Die Europäische Kommission hat daher Vorschläge zur besseren finanziellen Ausstattung gemacht. Ich danke auch dem Parlament, das dies unterstützt. Auch die Nationalstaaten müssen ihren Beitrag leisten.

Die Türkei spielt eine Schlüsselrolle. Sie ist unser unmittelbarer Nachbar und ein Ausgangspunkt für irreguläre Migration. Die Türkei leistet Außergewöhnliches für mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Sie braucht aber verstärkt unsere Unterstützung – bei der Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen, bei der Grenzsicherung, beim Kampf gegen Schlepper. Der migrationspolitische Dialog, den die Europäische Kommission mit der Türkei begonnen hat, ist gerade deshalb von so großer Bedeutung. Deutschland wird diese Anstrengungen der Kommission bilateral unterstützen. Genauso wichtig sind alle Bemühungen, in Libyen eine Einheitsregierung zu bilden. Europa unterstützt die Bemühungen des UN-Beauftragten León.

Die gesamte Europäische Union ist bei der Bewältigung dieser Aufgaben gefragt. Wir dürfen in der Flüchtlingskrise nicht der Versuchung erliegen, in nationalstaatliches Handeln zurückzufallen. Ganz im Gegenteil, gerade jetzt brauchen wir mehr Europa. Wir brauchen mehr denn je den Mut und den Zusammenhalt, den Europa immer gerade dann bewiesen hat, wenn es darauf ankam. Deutschland und Frankreich sind dazu bereit.

Darin sind wir uns einig mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, der viele wichtige Vorschläge auf den Tisch gelegt hat, die wir jetzt konsequent umsetzen müssen. Darin sind wir uns einig mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, der sehr engagiert daran arbeitet, die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern zu verbessern. Und darin sind wir uns einig mit dem Europäischen Parlament, das in seiner Entschließung vom 10. September daran erinnert hat, dass nationale Alleingänge in der Flüchtlingskrise keine Lösung sind. Herr Präsident, wir danken Ihnen auch für unkonventionelle, schnelle Beschlüsse, die wichtig waren.

Denn nur gemeinsam wird es Europa gelingen, die weltweiten Ursachen von Flucht und Vertreibung zu verringern. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, kriminelle Schlepperbanden wirksam zu bekämpfen. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, mit gemeinsam betriebenen Hotspots die Außengrenzen der Europäischen Union besser zu schützen und ein Europa ohne Binnengrenzen nicht zu gefährden. – Ich sage ausdrücklich: Auch der Schutz der Außengrenzen wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir in unserer Nachbarschaft etwas zur Bewältigung der vielen Krisen tun, die sozusagen vor unserer Haustür stattfinden. – Nur gemeinsam wird es uns gelingen, EU-weite Rückführungsabkommen zu vereinbaren, um diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, tatsächlich wieder in ihre Heimatländer zu bringen. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, eine faire und angemessene Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten zu erreichen. Ein erster Schritt ist gemacht. Auch hierfür danke ich dem Parlament bzw. der Mehrheit für ihre Positionierung.

Seien wir ehrlich: Das Dublin-Verfahren in seiner jetzigen Form ist in der Praxis obsolet. Es war in der Tat gut gemeint; ohne Zweifel. Doch unter dem Strich hat es sich angesichts der Herausforderungen an unseren Außengrenzen als nicht tragfähig erwiesen. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass wir ein neues Vorgehen für Fairness und Solidarität in der Lastenteilung vereinbaren. Ich begrüße die Arbeiten der Kommission dazu. Ich glaube, es ist gut, dass Deutschland und Frankreich hierbei einer Meinung sind.

Ebenfalls nur gemeinsam wird es uns gelingen, die gewaltige Integrationsaufgabe zu bewältigen, die uns noch fordern wird. Zu ihr gehört, dass wir mit gutem Recht in Europa erwarten können, dass sich Menschen, die zu uns kommen, in unsere Gesellschaft integrieren. Das verlangt das Einhalten der hier geltenden Regeln genauso wie das Erlernen der jeweiligen Sprache.

Aber umgekehrt haben auch wir die Pflicht, Menschen, die aus Not zu uns kommen, mit Respekt zu begegnen, in ihnen Menschen zu sehen und nicht irgendeine anonyme Masse – völlig unabhängig davon, ob sie eine Bleibeperspektive haben oder nicht. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die humanitären Mindeststandards eingehalten werden, die wir für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und für die Durchführung der Asylverfahren vereinbart haben. Das sind wir ihnen, den Flüchtlingen, und uns selber schuldig.

Denn Europa ist eine Wertegemeinschaft, eine Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft. Das bedeutet für mich, dass wir uns an den Werten orientieren müssen, die wir in den europäischen Verträgen festgeschrieben haben: Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, die Achtung von Minderheiten, Solidarität. Das bedeutet für mich, dass gesamteuropäische Herausforderungen nicht von einigen wenigen Mitgliedstaaten allein zu lösen sind, sondern von allen gemeinsam.

Wir müssen erkennen: Selbst wenn wir versuchen würden, uns vollständig abzuschotten, sogar bewusst um den Preis, dass Menschen an unseren Grenzen zu Schaden kommen könnten, wäre damit niemandem gedient – den betroffenen Menschen sowieso nicht, die trotzdem Mittel und Wege suchen und finden würden, zu uns zu gelangen, und auch uns selbst in Europa nicht. Abschottung und Abriegelung im Zeitalter des Internets sind eine Illusion. Kein Problem wäre gelöst, sondern zusätzliche entstünden, denn die Bindung an unsere Werte ginge verloren und damit unsere Identität. Wenn wir das missachten, verraten wir uns selbst – nicht mehr und nicht weniger. Wenn wir das aber beachten, dann werden wir es schaffen, diese historische Bewährungsprobe zu bestehen und, mehr noch, auch aus dieser Krise stärker hervorzugehen, als wir in sie hineingegangen sind. Dann werden wir es schaffen, auch global unsere Werte und Interessen überzeugend zu vertreten. Das wird von uns im Übrigen auch außerhalb Europas erwartet.

Meine Damen und Herren, die Beweggründe, wegen derer Menschen ihre Heimat verlassen, kennen wir doch aus unserer eigenen europäischen Geschichte nur allzu gut. Über Jahrhunderte hinweg war unser Kontinent nicht Ziel, sondern vor allem Ausgangspunkt von Flucht, Vertreibung und Migration. – Jean-Claude Juncker hat in seiner Rede zur Lage der Union eindrucksvoll daran erinnert. – Heute ist Europa ein Raum, auf den viele Menschen aus aller Welt ihre Hoffnungen und Sehnsüchte richten – ein Raum, der Menschen träumen lässt, so wie ich und Millionen anderer Menschen in Mittel- und Osteuropa vor 25 Jahren von einem freien und geeinten Deutschland und Europa geträumt haben.

Wir müssen verantwortungsbewusst mit Europas Anziehungskraft umgehen. Das heißt, wir müssen uns stärker um diejenigen kümmern, die heute in unserer Nachbarschaft in Not sind. Wenn wir diese Herausforderung als unsere gemeinsame europäische und globale verstehen, dann werden wir auch die ökonomischen und gesellschaftlichen Chancen dieser Bewährungsprobe erkennen und nutzen können. Und dann werden wir im Übrigen sehen, dass die Chancen größer sind als die Risiken.

Wir werden für unser Europa weiterhin viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Nach Jahrhunderten von Krieg und Hass zwischen unseren beiden Völkern, lieber François Hollande, kämpfen wir heute gemeinsam für die gleichen Ziele. Ich lade Sie alle hier in diesem Hohen Hause ein, gemeinsam Überzeugungsarbeit für unser Europa zu leisten. Jeder einzelne Abgeordnete spielt dabei eine wichtige Rolle – in Ihren Heimatstaaten, in Ihren Wahlkreisen, gegenüber der gesamteuropäischen Öffentlichkeit.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Und zwar so, wie es Helmut Kohl 1989 hier im Europäischen Parlament mit Blick auf die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa vorgeschlagen hat – ich zitiere ihn –: „Mit Klugheit und mit Augenmaß, mit Einfallsreichtum und Flexibilität“.

Herzlichen Dank.