Rede von Bundeskanzler Scholz beim GIZ-Jahresempfang am 26. September 2023 in Berlin

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Sehr geehrter Herr Vorstandssprecher,
lieber Thorsten,
liebe Frau Hoven,
liebe Frau Herken,
liebe Svenja,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag,
vor allem aber liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GIZ,
meine Damen und Herren,

in der vergangenen Woche war ich in New York und habe dort bei dem SDG-Gipfel und vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gesprochen. 50 Jahre ist es her, seit damals zwei deutsche Staaten den Vereinten Nationen beigetreten sind. Ich habe in meiner Rede vor der Generalversammlung einen Satz von Willy Brandt zitiert, den er damals dort gesagt hat: „In einer Welt, in der zunehmend jeder auf jeden angewiesen ist und jeder von jedem abhängt, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen Haustür haltmachen.“

Ich finde, dieser Satz gehört nicht nur in die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Er passt mindestens so gut hierher: zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit und zu ihren Verantwortlichen, und zwar, weil Entwicklungszusammenarbeit Friedenspolitik ist ‑ davon bin ich fest überzeugt ‑, und zum anderen, weil wir in dieser Welt aufeinander angewiesen sind, weil wir voneinander abhängen ‑ so, wie es Willy Brandt schon vor 50 Jahren auf den Punkt gebracht hat.

Das gilt heute natürlich noch um ein Vielfaches mehr. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass ein Virus sich nicht für Grenzen von Ländern und Kontinenten interessiert, und zugleich hat sie neue Diskussionen und Kooperationen hervorgebracht: über resilientere, nachhaltigere Lieferketten, über Impfstoffproduktion in Afrika, über einen internationalen Pandemievertrag. Wie sehr wir aufeinander angewiesen sind, zeigt auch Russlands brutaler, imperialistischer Angriffskrieg.

Natürlich sind es die Ukrainerinnen und Ukrainer, die darunter Tag für Tag am meisten leiden. Aber die Folgen dieses Kriegs sind nicht auf die Ukraine beschränkt, nicht einmal nur auf Europa. Die ganze Welt spürt sie, weil Energiepreise steigen, weil Nahrungsmittelpreise steigen, weil Düngemittel fehlen, weil Hunger und Armut wachsen.

Hinzu kommen der Klimawandel, der Verlust von Biodiversität, Wasserknappheit oder Migration, die per se grenzüberschreitend sind und die wir auch nur bewältigen können, wenn wir über Grenzen hinweg zusammenarbeiten.

Das ist, wie gesagt, keine neue Erkenntnis. Neu aber sind die Umstände unserer Zusammenarbeit. Die kurze Phase der Unipolarität nach dem Ende des Kalten Krieges ist Geschichte, auch wenn die Vereinigten Staaten künftig weiter großen Einfluss und große Verantwortung in der Welt haben werden. Und anders als manch anderer bin ich überzeugt: Diese Unipolarität wird auch nicht durch eine neue Bipolarität zwischen den USA und China ersetzt, schon weil aufstrebende Länder wie Indien, Indonesien, Brasilien, Vietnam, Südafrika, Nigeria, Ägypten oder Mexiko längst selbst zu demografischen, ökonomischen und auch politischen Schwergewichten geworden sind, die sich nicht einfach einreihen werden in den einen oder den anderen Block. Multipolarität ist insofern eine Realitätsbeschreibung.

Was aber heißt das für uns in Deutschland und Europa und für die Entwicklungspolitik nach der Zeitenwende? Drei Ideen möchte ich dazu beisteuern.

Erstens: Für viele Länder in Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik war die Globalisierung der vergangenen 20, 30 Jahre eine enorme Erfolgsgeschichte. Industrialisiert sind daher längst nicht mehr nur die klassischen Industriestaaten. In den letzten 30 Jahren haben mehr als eine Milliarde Frauen und Männer in Ländern in Afrika, Asien, in Lateinamerika und der Karibik mit Fleiß und großen Anstrengungen den Weg aus der Armut geschafft. Und eines steht für mich völlig außer Frage: Die Bürgerinnen und Bürger dort haben denselben Anspruch auf ein Leben in Wohlstand wie wir. Diesen Ländern Verzicht zu predigen, wird nicht funktionieren ‑ abgesehen davon, dass wir dabei auch nicht allzu glaubwürdig wären. Nur wenn sie dabei den gleichen Weg wählen, den wir in Europa oder Nordamerika vor gut 150 Jahren eingeschlagen haben ‑ mit Öl, Kohle und Gas ‑, dann wird unser Planet das nicht verkraften.

Deshalb werbe ich hier, aber auch international, für einen anderen Weg: Wir müssen zu denjenigen gehören, die zeigen, wie Wachstum und soziale und wirtschaftliche Entwicklung funktionieren, ohne unser Klima und unsere Umwelt zu zerstören, indem wir selbst uns entschlossen aufmachen, 2045 eines der ersten klimaneutralen Industrieländer zu werden, indem wir hier in Deutschland die Maschinen und Technologien entwickeln, die die Welt für die Dekarbonisierung braucht ‑ davon profitiert dann auch unsere innovative, forschungsstarke Industrie ‑, und indem wir unser Know-how und unsere Erfahrungen mit der Welt teilen, natürlich in dem Wissen, dass konkrete Lösungen lokal entwickelt werden müssen.

Nach diesem Prinzip arbeitet die GIZ bereits sehr erfolgreich, und darin möchte ich Sie heute bestärken. Erneuerbare Energien, der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft über Länder und Kontinente hinweg, wirtschaftliche Diversifizierung ‑ all das birgt ein unglaubliches Potenzial für eine engere Zusammenarbeit zwischen uns und den aufholenden Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika. Eine Zusammenarbeit zum Wohl beider Seiten!

Um dieses Potenzial zu heben, braucht es natürlich Investitionen, und da reden wir mit Blick auf die Transformation weltweit nicht über Milliarden, sondern über Billionen, über Summen, die überhaupt nur mit privatem Kapital zu stemmen sind ‑ und dieses Kapital gibt es. Also muss doch eine Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit und ‑finanzierung sein, Anreize für genau solche Investitionen zu schaffen und zusammen mit den Partnerländern funktionierende „business cases“ zu bauen.

Darüber reden wir, wenn wir die Reform der internationalen Finanzarchitektur vorantreiben, insbesondere mit den multilateralen Entwicklungsbanken. Darüber haben wir auch beim G20-Treffen Anfang des Monats in Delhi beraten. Und ich bin froh, dass die multilateralen Entwicklungsbanken umsteuern; dass sie weiter die Armut bekämpfen, aber verstärkt auch globale öffentliche Güter finanzieren, wie Klima- und Umweltschutz oder die Prävention von Pandemien.

Doch genauso dringend wie die Finanzierung sind Know-how und Beratung, wie die GIZ sie leistet ‑ partnerschaftlich und respektvoll.

Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Zusammenarbeit in einer multipolaren Welt erfordert ein völlig neues Miteinander; eine Politik ‑ und das schließt die Entwicklungspolitik ein ‑, die Partnerschaft nicht nur behauptet, sondern tatsächlich lebt und umsetzt.

Als wir letztes Jahr unseren G7-Vorsitz hatten, war es eines meiner ganz zentralen Anliegen, wichtige Partner aus Asien, Afrika und Lateinamerika mit an den Tisch zu bringen, eben weil wir aufeinander angewiesen sind, weil wir voneinander abhängen. Vom Krieg bis zum Klimawandel: Die großen globalen Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen.

Diese Überzeugung muss sich übrigens auch in der „global governance“ niederschlagen. Deshalb habe ich mich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass wir die Afrikanische Union nun in Delhi als neues Mitglied der G20 aufgenommen haben, und deshalb reden wir über strukturelle Reformen der internationalen Finanzarchitektur.

Vor allem aber muss unsere gesamte Zusammenarbeit von Respekt und Anerkennung getragen sein. Die Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik sind verständlicherweise sensibel für jede Form westlicher Bevormundung oder gar Doppelmoral.

Nicht immer ist dieser Vorwurf gerechtfertigt, aber es gibt schon Bereiche, da müssen wir uns ändern. Ich denke hier zum Beispiel an die EU-Handelspolitik. Natürlich haben wir Interesse an hohen Umwelt- und Sozialstandards. Aber wir müssen auch darüberhinausgehende Interessen unserer Partnerländer wahrnehmen und attraktive Angebote machen.

Ich weiß, Sie brauche ich davon nicht zu überzeugen, Ihre Arbeit ist von genau dem partnerschaftlichen Ansatz geprägt, für den ich werbe. Umso mehr kommt es in unserer multipolaren Welt auf Ihre Erfahrung an.

Nur ein Beispiel: Die ganze Welt spricht derzeit von resilienten Lieferketten und von Diversifizierung, gerade im Rohstoffbereich. Warum sorgen wir nicht gemeinsam mit den Ländern, in denen die Rohstoffe abgebaut werden, dafür, dass auch der erste Verarbeitungsschritt dort stattfinden kann? Partnerschaft statt Extraktivismus: Das muss doch Europas Angebot sein. So sorgen wir für mehr Wertschöpfung vor Ort und zugleich für größere wirtschaftliche Sicherheit bei uns.

Insbesondere bei der Begleitung von Rohstoffprojekten hängt viel am Aufbau von Kapazitäten vor Ort und an der Schaffung eines investitionsfreundlichen nationalen Rechtsrahmens, der Menschenrechte und sozial-ökologische Standards integriert. Genau dort hat die GIZ hervorragende Expertinnen und Experten.

Und deshalb ‑ das ist mein dritter und letzter Punkt ‑ brauchen wir gerade heute eine starke Entwicklungszusammenarbeit.

Wir haben im vergangenen Jahr erneut die 0,7-Prozent-ODA-Quote erreicht. Das ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck vorausschauender Politik. Wir sind weltweit der zweitgrößte bilaterale Geber und werden das voraussichtlich auf absehbare Zeit auch bleiben.

Die Wertschätzung, die wir dafür erfahren, war vergangene Woche in New York überall spürbar: Beim SDG-Gipfel, beim Klimagipfel, bei allen meinen bi- und multilateralen Treffen. In einer multilateralen Welt sind Wertschätzung und Verlässlichkeit eine ganz entscheidende Währung. Auch das habe ich im Kopf, wenn ich davon spreche, dass Entwicklungspolitik Friedenspolitik ist.

Und zugleich weiß ich: Keine Regierung der Welt kann allein genug Geld bereitstellen, um überall auf der Welt gleichzeitig Länder bei ihrer Entwicklung unterstützen zu können. Umso wichtiger scheint mir, dass wir auch hier neue Wege gehen. Über das notwendige Zusammenspiel zwischen Entwicklungszusammenarbeit und privaten Investitionen habe ich schon gesprochen.

Ich möchte Sie auch ermutigen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und noch stärker als früher die Kooperation mit europäischen und internationalen Partnern zu suchen. Team Europe und Global Gateway der EU sind da die Stichworte, aber auch eine noch engere Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen oder der Einstieg in neue Allianzen wie die Just Energy Transition Partnerships, die wir als G7 ins Leben gerufen haben.

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GIZ, in Deutschland und in der ganzen Welt, Sie arbeiten weltweit daran, der Zukunft ein freundliches Gesicht zu geben ‑ unter schwierigen, teils schwierigsten Umständen, in Gefahr und in Krisen. Sie arbeiten jeden Tag für den Frieden und für eine nachhaltige Entwicklung. Sie geben Hoffnung. Und ja, Sie tun Gutes. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!