Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Jahreskonferenz des Rats für Nachhaltige Entwicklung am 10. Oktober 2023 in Berlin

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Sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender Hoffmann, lieber Reiner,
liebe Heidi,
verehrte Ratsmitglieder,
meine Damen und Herren,

letzten Monat habe ich am Gipfeltreffen zu den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung in New York teilgenommen; du hast es gerade schon erwähnt, lieber Reiner. Die Botschaft, die von dieser Halbzeitbilanz ausging, war eindeutig: Die Zeit drängt. Bis 2030 sind es nur noch sieben Jahre, und richtig ist auch: Wir sind in vielen Teilen der Welt noch nicht ‑ zum Teil auch nicht mehr ‑ auf Kurs, um die Agenda 2030 zu erreichen.

Dafür gibt es auch Gründe. Die Coronapandemie hat nicht nur sehr viele Leben gekostet. Sie hat auch Lieferketten unterbrochen, die Weltwirtschaft massiv beeinträchtigt, und sie hat Kindern und Jugendlichen weltweit den Zugang zu Bildung erschwert.

Der brutale Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, bringt nicht nur furchtbares Leid für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Er hat auch zu Rekordpreisen bei Getreide und Düngemitteln, Öl und Gas geführt – mit gravierenden Auswirkungen, besonders in den ärmeren Ländern.

Natürlich ‑ du hast es erwähnt – wird der Ausbruch der Gewalttaten der Hamas gegen israelische Bürger, gegen den israelischen Staat, auch Konsequenzen haben, die weit darüber hinaus reichen. Trotzdem will ich gerade hier und an dieser Stelle sagen: Israel kann sich auf die Solidarität unseres Landes verlassen.

Natürlich kommen zu den Entwicklungen, die wir sehen, noch die Folgen des menschengemachten Klimawandels, die den Lebensraum von deutlich mehr als einem Drittel der Weltbevölkerung bedrohen. Diese Gründe dürfen uns aber nicht davon abhalten, so schnell wie möglich wieder „back on track“ zu kommen. Dafür werfen wir all unsere ganze Kraft als innovatives und wohlhabendes Industrieland in die Waagschale. Dabei geht es ja auch um Glaubwürdigkeit. Natürlich sind die klassischen Industrieländer historisch gesehen für einen Großteil der Treibhausgasemissionen verantwortlich, auch wenn Länder wie China inzwischen selbst zu riesigen Treibhausgasemittenten geworden sind.

Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Zusagen einhalten, und das tun wir – endlich, muss man allerdings wohl sagen. Wir sind der zweitgrößte Geber öffentlicher Entwicklungsleistungen weltweit und werden das wohl auf absehbare Zeit auch bleiben. Wir haben unseren Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung seit 2014 auf mittlerweile über sechs Milliarden Euro verdreifacht. Auch insgesamt werden die Industrieländer in diesem Jahr wohl ihre Zusage erfüllen, 100 Milliarden Dollar für die Klimafinanzierung zu mobilisieren. Das ist ein wichtiges Signal. Auch bei der Klimakonferenz im Dezember in Dubai müssen ja Fortschritte erzielt werden. Wichtig ist mir, dass wir uns dort auf gemeinsame Ausbauziele für erneuerbare Energien und für Energieeffizienz verständigen. Wir erwarten, dass sich auch nicht klassische Geberländer zukünftig an der internationalen Klimafinanzierung beteiligen.

Aber zum Thema Glaubwürdigkeit gehört noch mehr. Die Länder des globalen Südens werden sich von uns nicht sagen lassen, dass sie zugunsten des Klimaschutzes auf Wachstum verzichten können. Die Zahl derer, die in äußerster Armut leben, ist seit 1990 um drei Viertel gesunken. Das ist zuallererst eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, eine Geschichte von globaler Arbeitsteilung und von Wachstum. Also muss unsere Aufgabe doch darin bestehen, Wachstum zu ermöglichen, ohne dadurch unseren Planeten zu zerstören, und deshalb ist es so wichtig, dass wir hier in Europa die nötigen Technologien entwickeln und ausprobieren und der Welt zeigen: Es funktioniert!

Dafür sind in den kommenden Jahren enorme Investitionen nötig. In Europa und weltweit reden wir da nicht mehr über Milliarden, sondern über Billionen. Öffentliches Geld reicht dafür bei Weitem nicht aus. Wir brauchen in großem Umfang privates Kapital.

Umso wichtiger, dass wir gemeinsam mit den aufstrebenden Ländern des globalen Südens neue Investitionsmöglichkeiten schaffen! Deutschland tritt zum Beispiel dafür ein, dass mehr Wertschöpfung in der Rohstoffverarbeitung in den Ländern erfolgen sollte, in denen die Rohstoffe abgebaut oder erneuerbare Energien produziert werden. Kooperation und nachhaltige Ressourcennutzung statt Extraktivismus – so lautet unser Angebot.

Im Rahmen der G7 haben wir Partnerschaften für eine gerechte Energiewende auf den Weg gebracht. Sie ermöglichen private Investitionen und helfen Partnerstaaten dabei, klimaneutrale Industrien aufzubauen, und auch bei der Reform der internationalen Finanzarchitektur muss es darum gehen, mit begrenzten öffentlichen Mitteln mehr privates Kapital zu mobilisieren. Wir wollen die Weltbank dazu in eine Transformationsbank verwandeln, damit gezieltere Anreize für Investitionen in globale öffentliche Güter wie den Schutz des Klimas und der Biodiversität, aber auch in die Prävention von Pandemien gesetzt werden können. Als erstes Land überhaupt stellen wir der Weltbank dafür sogenanntes Hybridkapital zur Verfügung. Damit lässt sich eine bis zu achtfache Hebelwirkung am Kapitalmarkt erzielen. Darüber hinaus gehen wir die Schuldenkrise an, die sich in vielen Entwicklungsländern verschärft.

Aber nicht nur wir gehen mit großen Schritten voran. Die USA unter Präsident Biden machen endlich ernst beim Klimaschutz. Die Ausbauzahlen bei den erneuerbaren Energien in China und in vielen anderen Teilen Asiens sind atemberaubend. Die afrikanischen Staaten haben vor gut einem Monat ihren ersten kontinentalen Klimagipfel beendet – mit einem Bekenntnis zu klimafreundlichem und ressourcenschonendem Wachstum. Die Amazonas-Anrainerstaaten haben sich im August auf Maßnahmen zum Schutz des Regenwaldes und seiner einzigartigen Biodiversität und Ressourcen verständigt.

So ist die zweite Botschaft, die ich aus New York mitgenommen habe, eine durchaus zuversichtliche: Es gibt weltweit eine neue Entschlossenheit, gemeinsam voranzukommen beim Erreichen der SDGs. Das gewachsene Selbstbewusstsein der aufstrebenden Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik sollten wir dabei als Chance benutzen. Ich habe ja gerade schon zwei Initiativen aus Afrika und Lateinamerika erwähnt, die Ausdruck dieses Selbstbewusstseins sind und die uns zugleich weltweit voranbringen können. Mir zeigt das: Es lohnt sich, in engere Partnerschaften mit diesen Ländern und Regionen zu investieren.

Das war der Grund, weshalb ich wichtige Vertreterinnen und Vertreter aus Asien, Afrika und Lateinamerika im vergangenen Jahr zu unseren Beratungen beim G7-Gipfel eingeladen hatte. Daraus sind Ideen wie das Bündnis für globale Ernährungssicherheit oder der Schutzschirm gegen Klimarisiken entstanden, Ideen, die Solidarität mit Leben füllen, die den Ländern des globalen Südens zeigen: Eure Anliegen sind auch uns wichtig.

Voraussetzung für all diese internationalen Bemühungen ist, dass wir auch national unsere Hausaufgaben in Sachen Nachhaltigkeit machen, zum einen, weil wir nur dann ein starker Wirtschaftsstandort bleiben und nur dann auch künftig Spielräume haben, um in die Zukunft zu investieren, und zum anderen, weil wir nur dann glaubwürdig bleiben und international gehört werden. Deshalb will ich mich hier ganz deutlich zur Umsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bekennen.

Wir haben gerade im Kabinett Halbzeitbilanz gezogen, wie Ihnen wahrscheinlich Staatsministerin Ryglewski heute Vormittag berichtet hat, und wir setzen für die Zukunft drei klare Prioritäten. Erstens: Wir beschleunigen unsere Energiewende, damit Energie in Deutschland und Europa sauber, sicher und bezahlbar ist. Zweitens: Wir sorgen dafür, dass Deutschland ein wachsendes Land bleibt, dass wir auch in Zukunft genügend Arbeitskräfte haben. Drittens: Wir setzen uns ein für Sicherheit im Wandel, für Zusammenhalt, gerade in der Transformation.

Bei der Energiewende kommen wir voran. Um die fünf Windkraftanlagen an Land pro Tag brauchen wir, um 2030  80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu produzieren. Zumindest, was die Genehmigungen angeht, haben wir diese Zahl in den vergangenen Monaten zum Teil schon überschritten. Allein im September wurden 182 neue Windenergieanlagen genehmigt, mit jeweils über fünf Megawatt Leistung. Bei der Photovoltaik haben wir den Zubau in nur einem Jahr im Schnitt fast verdoppelt. Mehr als 30 Fußballfelder an Solaranlagen werden derzeit in Deutschland gebaut ‑ wohlgemerkt: pro Tag ‑, weil wir die gesetzlichen Hürden gesenkt und Prozesse beschleunigt haben. Wir brauchen nämlich vor allem eines: Tempo – beim Ausbau des Stromnetzes, auch beim Aufbau des Wasserstoffnetzes, und auch da geht es mit großen Schritten voran.

Damit wir uns dabei nicht in unseren über Jahrzehnte hinweg aufgebauten, liebevoll gezimmerten Regeln und Verordnungen verheddern, habe ich den Ländern und Kommunen den Deutschlandpakt angeboten und vorgeschlagen. Er wurde auch in der Rede vorhin erwähnt, wenn auch nicht ganz so lobend, wie ich es mir vorgestellt hätte. Aber er ist gut. Inzwischen haben die Länder zu unseren Vorschlägen Rückmeldungen geschickt, sehr konstruktiv, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Wir werden nun sehr zügig klären, wie wir gemeinsam auf allen Ebenen unseres Staates für noch mehr Tempo sorgen.

Wir werden ja noch miteinander diskutieren, aber vielleicht darf ich das an dieser Stelle noch einmal sagen: Es muss aufgehen, was wir sagen. – Wer sich Gedanken darüber macht, warum die einen oder anderen Bürger vielleicht etwas unsicher sind, ob sie darauf setzen sollen, dass das alles, was wir uns vorgenommen haben, gut ausgeht, der kann sich die Antwort gleich selbst mitgeben. Denn es sind große Veränderungen. Am Anfang von Veränderungen ist es nicht so, wie dann in den späteren Filmen Jahrzehnte danach gesagt wird, dass alle von vornherein begeistert dabei sind. Nein, es ist eine Zeit, in der alle unsicher sind und in der man sich wirklich fragt: Kann das gut funktionieren? Wird es klappen, Industrieland zu bleiben? Werden wir Arbeitsplätze haben? Werden sie gut bezahlt sein? Werden wir überhaupt genug Strom haben? Was ist, wenn ich als Unternehmer darauf setze, 2030 erneuerbaren Strom in der notwendigen Menge zu haben, er dann aber gar nicht da ist? Was ist, wenn ich auf Wasserstoff setze, und es ihn dann gar nicht gibt? – All diese Fragen müssen beantwortet werden. Deshalb denke ich schon, dass es nicht nur eine Sache derjenigen ist, von denen man immer erwartet, dass sie sagen: „Planungsbeschleunigung, Planungsbeschleunigung, Planungsbeschleunigung!“, und die dann übrigens oft gar keine konkreten Vorschläge machen, sondern dass das auch für diejenigen gilt, die sich vielleicht über Jahre politisch anders positioniert hatten, weil sie sagen: Das ist erst einmal die Aufgabe von anderen. – Wenn nicht tief im Kopf der Bürgerinnen und Bürger und vieler Unternehmen ist, dass es klappen wird, dann wird der Zweifel daran wachsen, ob es überhaupt richtig ist, diesen Weg zu beschreiten. Deshalb ist es so essenziell, dass wir uns vor dieser Herausforderung ‑ das ist das Tempo ‑ nicht drücken. Also, bitte gemeinsam Tempo machen!

Neben einfacheren Regeln und mehr Entscheidungsfreude brauchen wir dafür natürlich auch die Frauen und Männer, die an der Transformation mitarbeiten, zupackende Angestellte in Genehmigungsbehörden, vor allem aber auch Ingenieurinnen, Solartechniker, Installateurinnen und viele mehr, weil sie dafür sorgen, dass wir die Transformation schaffen. Wir brauchen jede und jeden Einzelnen. Deshalb haben wir die vielen Maßnahmen ergriffen, damit wir mit vielen Weiterbildungsmaßnahmen dazu beitragen können, dass die Fachkräfte da sind, die die Solaranlage aufs Dach bringen, die die Wärmepumpe installieren und genau wissen, wie das richtig geht und welche die am besten ausgewählte ist usw. usf.

Dazu gehört natürlich auch, dass all diejenigen, die schon in den Betrieben sind, jetzt nicht durch andere ersetzt werden, die man ja gar nicht hat, sondern dass man tatsächlich versucht, gemeinsam zu lernen, was jetzt für die künftigen Anforderungen erforderlich ist.

Wir werden auch ‑ das will ich an dieser Stelle sagen ‑ weiterhin ein Land sein müssen, das seine Arbeitskräfte auch aus dem Ausland in Deutschland mit einsetzt. Das haben wir über Jahrzehnte getan, und das hat in erheblichem Maße zu unserem Wohlstand beigetragen. Ich will auch in diesen schwierigen Zeiten sagen: Arbeitskräfte, Fachkräfte, die nach Deutschland kommen, werden wir auch in Zukunft brauchen.

Mir ist bewusst, dass das, was ich gerade skizziert habe, unser Land vor große Herausforderungen stellt und dass sich große Veränderungen abzeichnen. Klimaneutral zu leben und zu arbeiten und gleichzeitig starkes Industrieland zu bleiben, das ist der größte Wandel seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Natürlich fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger erst einmal, wie das für sie ganz persönlich, für ihre Familie, für ihren Betrieb, für ihr Dorf, ihre Stadt ausgeht. Ich habe davon gesprochen. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass auf diesem Weg alle mitkommen können. Wir haben dafür gesorgt, dass 83 Millionen, 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger gut durch den vergangenen Winter gekommen sind, dass sie mit den gestiegenen Energiepreisen zurechtkommen. Wir werden genauso auch bei allen künftigen Beschlüssen und Vorhaben sehr genau darauf achten, dass der Wandel niemanden überfordert, dass die Bürgerinnen und Bürger spüren: Ja, das geht eben gut aus, auch für mich, weil erneuerbare Energien auf Dauer sicherer und günstiger sind, weil ein Elektroauto mittelfristig bares Geld spart, weil sich eine neue, staatlich geförderte Heizung schon nach einigen Jahren amortisiert, weil Investitionen in die Zukunft neue, gute Arbeitsplätze schaffen, übrigens auch in Gegenden unseres Landes, die lange nicht zu den Boomregionen zählten.

So möchte ich mit einem kleinen Beispiel aus Freiberg in Sachsen schließen, das ganz gut hierher passt, zum einen natürlich deshalb, weil dort der Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der auf dieser Veranstaltung vielleicht schon zweihundertmal zitiert wurde, vor rund 300 Jahren die erste Nachhaltigkeitsidee aufschrieb, man solle nicht mehr Bäume fällen, als im Wald nachwachsen können, und zum anderen, weil Freiberg gerade dabei ist, ein wichtiger Standort der Halbleiterindustrie zu werden. In Freiberg entstehen Wafer, die wir für Computer, Smartphones, Elektroautos und Windkraftanlagen dringend brauchen, Technik von heute für die Nachhaltigkeit von Morgen, Innovationen, die unsere Wirtschaft nachhaltiger machen und die gute Arbeitsplätze sichern. Hier zeigt sich im Kleinen, was Nachhaltigkeit im Großen bedeutet, nämlich nicht einer vermeintlich guten alten Zeit nachzuhängen, sondern jetzt die Grundlagen für eine gute, eine bessere neue Zeit zu legen. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen.

Der Rat für Nachhaltige Entwicklung unterstützt die Bundesregierung mit seiner wertvollen Arbeit auf dem Weg in diese neue Zeit. Für diese Arbeit und all die Zeit, die Sie investieren, sage ich Ihnen heute von ganzem Herzen: Danke.

Nun freue ich mich auf den Austausch.