Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am 21. Juni 2023 in Berlin

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Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am 21. Juni 2023 in Berlin

Mittwoch, 21. Juni 2023 in Berlin

Sehr geehrte Frau Puttrich,
sehr geehrte Frau Professor Schnitzer,
verehrte Mitglieder des Sachverständigenrats,
meine Damen und Herren,

60 Jahre Sachverständigenrat, das bedeutet 59 Jahresgutachten mit 16 781 Seiten, vollgepackt mit ökonomischem Sachverstand und immer geschrieben in der Annahme, alle Politikerinnen und Politiker läsen sie. Ihr Gewicht beziehen Ihre Analysen aber nicht aus den rund 350 Seiten pro Gutachten. Dieses Gewicht beziehen Sie aus Ihrer Unabhängigkeit und daraus, dass sich der Sachverständigenrat eben nicht nur als weiser Beobachter oder ordnungspolitisches Gewissen versteht, das über den Dingen schwebt und einmal im Jahr den Zeigefinger hebt. Als Wirtschaftsweise sind Sie das wichtigste, anerkannteste und gefragteste wirtschaftspolitische Beratungsgremium des Landes. Mit Ihrem Sachverstand sorgen Sie dafür, dass die Öffentlichkeit versteht, was gut läuft und was nicht und dass wir als Bundesregierung das Für und Wider unserer Entscheidungen fundiert abwägen können.

Seit nunmehr 60 Jahren sind Ihre Gutachten zu so etwas wie der Enzyklopädie der sozialen Marktwirtschaft Deutschlands herangewachsen, über Monate hinweg intensiv vorbereitet, mit höchster wirtschaftspolitischer Kompetenz. Deshalb möchte ich heute nicht nur den aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des Sachverständigenrats zu diesem Jubiläum herzlich gratulieren, sondern auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des wissenschaftlichen Stabes. Schön, dass heute so viele von Ihnen dabei sind!

Dieser Erfolg des Sachverständigenrats war kein Selbstläufer. Allein sieben Jahre hat es vom ersten Vorschlag bis zur Gründung 1963 gedauert. Nur zum Vergleich: Das ist ungefähr die Zeitspanne, die es bislang dauerte, um in Deutschland eine Windenergieanlage zu planen, zu genehmigen und zu bauen. ‑ Das haben wir zum Glück geändert, aber dazu später mehr. Historisch betrachtet war es jedenfalls ein Glücksfall, dass Ludwig Erhard solch ein Dickkopf war. Anders als Konrad Adenauer, der in der Hinsicht auch nicht schlecht war, war er davon überzeugt, dass Deutschland diesen unabhängigen Sachverständigenrat brauche. Er sollte recht behalten. Nicht nur Ihre Gutachten sind wertvoll für unsere Wirtschaftspolitik. Ebenso wichtig ist Ihr Beitrag dort, wo Ihr ökonomischer Sachverstand ganz unmittelbar in politisches Handeln mündet.

Ein aktuelles Beispiel ist die Gaspreiskommission unter Ihrem Vorsitz, liebe Frau Grimm. Die Vorschläge der Kommission haben wir fast eins zu eins umgesetzt und damit die Folgen der hohen Energiepreise für Unternehmen und Privathaushalte abgefedert. Das war ein starkes Signal und hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass die Energiepreise wieder deutlich gesunken sind. Heute sind sie so niedrig wie seit zwei Jahren nicht mehr.

Ein weiteres Beispiel ist Ihr Beitrag zur Konzertierten Aktion, liebe Frau Schnitzer. Sie haben dabei geholfen, die steuerfreien Einmalzahlungen auf den Weg zu bringen, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften inzwischen breit genutzt werden. Das entlastet viele Beschäftigte angesichts steigender Preise. Zugleich helfen solche Einmalzahlungen dabei, dass sich die Inflation nicht auf Dauer festsetzt. Denn darunter würden gerade die Frauen und Männer mit den kleineren Einkommen ganz besonders leiden.

Liebe Frau Schnitzer, Sie sind die erste Vorsitzende in der langen Geschichte des Sachverständigenrates. Beim 50-jährigen Jubiläum sagte meine Vorgängerin im Amt, Angela Merkel, dass man wohl noch 50 Jahre warten müsse, bis sich das Geschlechterverhältnis im Rat angeglichen habe. Ganz so lange hat es zum Glück dann doch nicht gedauert. Ich freue mich, dass heute drei von fünf Mitgliedern Frauen sind, vor allem, wenn man bedenkt, dass es ganze 40 Jahre gedauert hat, bis mit Beatrice Weder di Mauro überhaupt eine Frau in den Sachverständigenrat berufen wurde. Sie haben es eben geschildert, und nicht nur über die Zigarren haben Sie gesprochen. Dabei hat ökonomischer Sachverstand nichts damit zu tun, ob man ein Mann oder eine Frau ist. Dennoch ist es wichtig, verschiedene Perspektiven auf die Welt, auf den Alltag und auch auf die Forschungsfragen in einem Raum zu versammeln.

Gerade weil Sie diese unterschiedlichen Perspektiven bündeln, wird Ihre Beratung nicht nur von der Politik hochgeschätzt, sondern auch von der Öffentlichkeit, zumal die Themen, die Sie aufgreifen, den Alltag der Bürgerinnen und Bürger ganz unmittelbar betreffen. In die Tiefen der digitalen Echokammern mag Ihr unabhängiger und sachlicher, auf Evidenz basierender ökonomischer Rat trotzdem leider noch nicht immer durchdringen. Umso wichtiger ist, dass und wie Sie Ihre Expertise in den sozialen Medien, in Interviews, Talkshows oder auf vielen anderen Wegen unters Volk bringen. Davon profitieren unsere gesellschaftlichen Debatten, und davon profitieren alle, die nicht die Zeit haben, 350-Seiten-Gutachten durchzuarbeiten.

Ökonomischen Sachverstand brauchen wir ganz besonders für die größte Aufgabe, die unserem Land in den kommenden Jahren bevorsteht, nämlich klimaneutral zu wirtschaften und zu leben und gleichzeitig Industrieland zu bleiben. 2045, in wenig mehr als 20 Jahren, endet die Zeit der fossilen Rohstoffe in Deutschland, jedenfalls was ihre Nutzung zum Antreiben und für das Heizen betrifft. Der Weg dorthin wird nicht leicht, zumal wir in den zurückliegenden Jahren zu wenig Wegstrecke gemacht haben. Hinzu kommt, dass jede Veränderung anstrengend ist, und hier reden wir über die größte Veränderung seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert.

Viele Bürgerinnen und Bürger stellen sich die Frage: Geht das alles gut aus für mich, für meine Kinder und Enkel? ‑ Auf diese Frage müssen wir überzeugende Antworten geben. Andernfalls werden diejenigen noch größeren Zulauf bekommen, die mit der Angst der Bürgerinnen und Bürger und mit schlechter Laune Politik machen. Welches Risiko das gerade für Deutschland als offene, global vernetzte Volkswirtschaft birgt, das muss ich Ihnen nicht sagen. Der Aufbruch in Richtung Klimaneutralität muss eine überzeugende und für alle spürbare Wachstumsgeschichte werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Wachstumsgeschichte Realität wird, und zwar aus vier Gründen.

Erstens: Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland ist auf absehbare Zeit passé. Rund 46 Millionen Frauen und Männer gehen Tag für Tag zur Arbeit. Das sind mehr denn je. Natürlich werden in den kommenden Jahren sehr viele Babyboomer in Rente gehen. Aber diese Lücke wird nur dann zum Problem, wenn wir sie nicht füllen. Deshalb schaffen wir in diesen Tagen das wohl modernste Einwanderungsrecht der Welt. Deshalb fördern wir Aus- und Weiterbildung in den Unternehmen. Deshalb sorgen wir für bessere Betreuungsangebote, die dabei helfen, Familie und Beruf besser zu verbinden. Mit all dem erhöhen wir Deutschlands Produktivität. Damit schaffen wir Wachstum.

Wachstumstreiber Nummer zwei sind Innovationen. Manchmal höre ich, die Investitionen in erneuerbare Energien seien wachstumsneutral, weil man am Ende ja nur ein Kohle- oder Gaskraftwerk durch einen Windpark oder einen Elektrolyseur ersetze. Doch schon jetzt haben wir mit diesem Wandel Innovationssprünge erlebt, und wir werden sie weiterhin erleben. Bei diesem Wandel ist Europa übrigens führend in der Welt.

Als Bundesregierung setzen wir jedenfalls auf Forschung und Entwicklung, auf Innovationssprünge made in Germany. Bei den klimarelevanten Technologien gelingt uns das immer wieder. Die Solarwirtschaft war Paradebeispiel dafür, wie eine verfehlte Wirtschaftspolitik eine ganze Branche aus dem Land getrieben hat. Jetzt ist Deutschland bei der Leistung bestimmter Hochleistungszellen wieder führend. Wir fördern industriegeführte Wasserstoffprojekte, damit wir zum Beispiel mit den Elektrolyseuren schnell von der Handarbeit in die Serienfertigung kommen. Wir arbeiten auch daran, dass Deutschland einer der weltweit großen Produktionsstandorte für Halbleiter werden kann. Dafür steht die Einigung mit Intel von Montag. Mit mehr als 30 Milliarden Euro wird es die größte ausländische Direktinvestition, die es in Deutschland je gab.

Gerade weil Deutschlands Wirtschaft innovationsstark ist, gerade weil wir bei klimaneutralen Lösungen in der Industrie schon weiter sind als andere, werden wir vom globalen Trend hin zur Klimaneutralität profitieren können. Das ist die dritte große Wachstumschance für Deutschland. Die aufstrebenden Länder des globalen Südens haben denselben Anspruch und dasselbe Recht auf Wohlstand wie Europa und Nordamerika. Deshalb liegt es doch in unserer Hand, die Technologien herzustellen, die die ganze Welt braucht, damit das klimafreundlich gelingen und das Wachstum klimafreundlich zugehen kann. Die Breite und Tiefe der deutschen Industrie mit ihren mittelständischen Weltmarktführern im ganzen Land ist dabei unsere große Stärke.

Der vierte Wachstumstreiber sind ‑ das wird hier niemanden überraschen ‑ die Kräfte des Marktes. Ohne oder gar gegen diese Kräfte wird es nicht gehen. CO2-Zertifikate werden in Zukunft knapper und damit teurer. Das klar zu sagen, ist ein Teil der Verlässlichkeit, auf den die Wirtschaft angewiesen ist. Dass wir dabei vorübergehend soziale Härten abfedern und unsere Unternehmen vor unfairem Wettbewerb schützen müssen ‑ Stichwort: Grenzausgleich ‑, das liegt auf der Hand. Auch hier werbe ich letztlich aber für ein möglichst globales, von ordnungspolitischen Vorstellungen geprägtes System wie den internationalen Klimaklub, der neue Zollwettbewerbe verhindern soll. Es geht um gemeinsame Regeln für die beteiligten Länder und gleiche Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen.

Auch unsere nationalen Ziele müssen planbar und verlässlich sein: 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien und 15 Millionen Elektrofahrzeuge auf unseren Straßen bis 2030, Klimaneutralität bis 2045. Eine aktuelle Studie von internationalen Wirtschaftsprüfern zeigt, dass Deutschland unter den attraktiven Standorte für Investitionen in erneuerbare Energien mittlerweile auf Platz zwei steht. Wir haben nach dieser Studie China überholt. Vor uns liegen jetzt nur noch die USA.

Aber das alles passiert nicht einfach so. Wir rechnen das Jahr für Jahr durch, vergrößern die Ausschreibungen für Wind- und Solarparks, fördern den Wasserstoffhochlauf und sorgen für Übertragungsnetze und Speicher, damit auch das Chemieunternehmen oder der Stahlkonzern wissen: 2030 bekommen sie genug Strom für ihre Produktion. ‑ Das passiert jetzt. Darauf können sich die Unternehmen verlassen.

Eines ist dabei entscheidend: mehr Mut auf allen Ebenen. Wenn jedes Landratsamt und jede Kommune bei der Genehmigung eines neuen Elektrolyseurs oder eines neuen Windparks erst ein halbes Dutzend Gutachten einholt, dann sind wir 2080 noch nicht klimaneutral, weil wir schlicht nicht genug Gutachterinnen und Gutachter für all diese Gutachten haben. Deshalb haben wir die Genehmigungsverfahrenen in den vergangenen anderthalb Jahren erheblich beschleunigt und vereinfacht. Einfachere Regeln nützen aber nur dann etwas, wenn sie auch genutzt werden. Damit das passiert, wollen wir uns noch in diesem Jahr mit den Bundesländern auf einen Pakt verständigen, mit dem wir die Planung weiterbeschleunigen. Ein Pakt, in dem wir alle uns verpflichten, dass das Deutschlandtempo nicht nur beim Bau von LNG-Terminals möglich ist. Das Deutschlandtempo ist auch bei der Transformation möglich, die vor uns liegt und für die wir unser Land wieder auf Wachstum programmieren.

Meine Damen und Herren, ich bin dankbar dafür, dass Sie uns auch dabei helfen werden. Das gilt natürlich insbesondere für die Wirtschaftsweisen. Wir bleiben auf ihre kritische Begleitung, ihren fachlichen Rat und ihre wichtigen Hinweise angewiesen. Denn natürlich haben Sie recht, liebe Frau Schnitzer, wenn Sie sagen:

„Kein verantwortungsvoller Ökonom glaubt, die Zukunft exakt voraussagen zu können“.

Doch das hindert uns nicht daran, weiter dafür zu arbeiten, dass die Zukunft eine gute Zukunft sein wird, geprägt von Wachstum und Fortschritt. Das haben wir in der Hand. So viel Prognose sei gewagt: Die Voraussetzungen dafür stehen alles andere als schlecht. ‑ Für alle Nichthanseaten: Das war norddeutsch für: Unsere Chancen stehen ziemlich gut.

Herzlichen Glückwusch zu Ihrem Jubiläum und schönen Dank für die Einladung!

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