„Vielfalt macht eine Gesellschaft stärker“

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Interview mit dem Queer-Beauftragten „Vielfalt macht eine Gesellschaft stärker“

Seit gut einem Jahr ist der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, im Amt. Wie zufrieden ist er mit dem, was schon erreicht worden ist? Und welche wichtigen Vorhaben stehen noch auf seiner Agenda? 

6 Min. Lesedauer

Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung Sven Lehmann

Nach gut einem Jahr im Amt zieht der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, Zwischenbilanz. 

Foto: Bundesregierung/Kugler

Warum brauchen wir einen "Pride Month"?

Queer-Beauftragter Sven Lehmann: Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie alle queeren Menschen (LSBTIQ*) können auch heute noch nicht immer und überall frei, selbstbestimmt und ungefährdet leben. Weltweit drohen ihnen Gefängnis, Folter und Gewalt. Ihre fundamentalen Menschenrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Privatleben, die Versammlungsfreiheit oder die Meinungsfreiheit werden in sehr vielen Ländern kaum bis gar nicht anerkannt – weder von Regierungen noch von der Bevölkerung.

LSBTIQ* (englisch auch LGBTIQ) dient als Abkürzung für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Menschen. Sie soll kurz und knapp Menschen bezeichnen, die nicht der gesellschaftlichen Norm von Geschlecht und Sexualität entsprechen. Das Sternchen oder Plus am Ende der Abkürzungen steht für weitere, nicht benannte Identitäten. Infos über gleichgeschlechtliche Lebensweisen und geschlechtliche Vielfalt gibt es auch auf dem Regenbogenportal des Bundesfamilienministeriums.

In Deutschland haben wir zwar wichtige Fortschritte erzielt, um die Rechte und die Sichtbarkeit von LSBTIQ* zu stärken. Laut der OECD hat Deutschland aber erst drei Viertel des Weges bis zur völligen rechtlichen Gleichstellung geschafft. Ein Blick in die EU zeigt, dass wir mit Platz elf auch eher zum Mittelfeld gehören, was Rechte und Akzeptanz von LSBTIQ* angeht. Die skandinavischen Länder, Frankreich oder Spanien etwa sind da schon weiter. Zudem sind die registrierten Vorfälle von Hassgewalt hoch. Jeden Tag werden LSBTIQ* beleidigt, angegriffen und attackiert. Das gehört leider zur traurigen Realität. Deutschland darf sich folglich nicht auf dem Erreichten ausruhen.

Der Pride Month erinnert an den Stonewall-Aufstand vom 28. Juni 1969, als sich erstmals Gäste einer LSBTIQ*-Bar in New York gegen die Schikanen, Razzien und brutalen Maßnahmen der Polizei wehrten. Der Pride Month ist daher eine Zeit, um die Geschichte von LSBTIQ* zu würdigen und Bewusstsein für bestehende Ungerechtigkeiten zu schaffen. Wir wollen die Vielfalt und Stärke der LSBTIQ*-Community feiern und gleichzeitig darauf aufmerksam machen, dass unsere Gesellschaft weiterhin daran arbeiten muss, Chancengleichheit und Respekt für alle Menschen sicherzustellen – unabhängig von der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Queer-Beauftragter der Bundesregierung?

Lehmann: Im Koalitionsvertrag sind wichtige Vorhaben vereinbart, die die Situation von LSBTIQ* verbessern sollen. Die Bundesregierung steht für eine aktive Politik gegen Diskriminierung und für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Um dieses Anliegen deutlich zu machen, hat die Bundesregierung erstmalig einen Beauftragten für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, kurz Queer-Beauftragten, ernannt. Es freut mich sehr, dass ich seit 2022 dieses Amt ausführen darf.

Meine Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Bundesministerinnen und -ministern die queerpolitischen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. Ich kann zwar keine eigenen Gesetzentwürfe auf den Weg bringen, aber bei den zuständigen Ministerien Expertise anbieten und eigene Stellungnahmen einbringen. Als Ansprechpartner für Verbände und Organisationen wirke ich auch als Bindeglied zwischen der LSBTIQ*-Community und der Regierung.

Wie sieht nach den ersten Monaten Ihr Zwischenfazit aus?

Lehmann: Die Bundesregierung hat bereits einiges auf den Weg gebracht. Dazu gehört etwa die Abschaffung des Diskretionsgebots für queere Geflüchtete sowie die explizite Berücksichtigung von LSBTIQ* im Aufnahmeprogramm für Afghanistan. Wir haben einen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit dem LSBTIQ*-Feindlichkeit ausdrücklich als Motiv in die Strafgesetze zu Hasskriminalität aufgenommen wird. Damit sollen Übergriffe und Gewalt besser geahndet werden. Zudem wurde die Diskriminierung von schwulen und bisexuellen Männern sowie von transgeschlechtlichen Menschen bei der Blutspende gesetzlich beendet.

Das sicherlich größte Vorhaben ist der bundesweite Aktionsplan „Queer leben“. Er wurde im November letzten Jahres von der Bundesregierung verabschiedet. Darin haben die Ministerien zahlreiche Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern vereinbart, zum Beispiel im Bereich Gesundheit, Sicherheit oder Internationales. Inzwischen hat die Umsetzung zusammen mit den Bundesländern und mit fast 80 Initiativen und Verbänden aus der LSBTIQ*-Community begonnen. Meine Aufgabe ist es, diese Umsetzungsprozess zu koordinieren. 2024 wird die Bundesregierung mit einem Bericht den Bundestag, den Bundesrat und die Öffentlichkeit über den Stand der Umsetzung informieren.

Was sind die wichtigsten Vorhaben, die noch umgesetzt werden sollen?

Lehmann: Mir liegen drei zentrale Gesetzesvorhaben besonders am Herzen.

Erstens sollen Regenbogenfamilien durch eine geplante Reform des Abstammungsrechts gleichgestellt werden. Denn die gelebte Familienvielfalt wird im derzeitigen Abstammungs- und Familienrecht nicht berücksichtigt. Wird zum Beispiel heute ein Kind in eine Ehe mit zwei Frauen hineingeboren, hat es laut Gesetz nur einen sorgeberechtigten Elternteil. Die nicht-leibliche Mutter muss das Kind als Stiefkind adoptieren. Das ist sehr langwierig und belastend. In der Zeit hat das Kind rechtlich nur einen Elternteil und ist damit auch nur halb so gut abgesichert. Das etwa wollen wir ändern. Wenn ein Kind in die Ehe zweier Frauen geboren wird, sind automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes, sofern nichts anderes vereinbart ist.

Zweites wichtiges Anliegen ist eine Erweiterung des Grundgesetzes. Artikel 3 Absatz 3 unseres Grundgesetzes verbietet Diskriminierung aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft und Glauben. Allerdings fehlt dort ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Identität. Noch nach 1945 kamen schwule Männer in Deutschland wegen ihrer Homosexualität ins Gefängnis. Bis in die 1980er Jahre wurde lesbischen Frauen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen.

Artikel 3 in seiner jetzigen Fassung konnte solche Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten nicht verhindern. Es ist von größter Bedeutung, dass so etwas nie wieder geschieht. Erfolge wie die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare müssen unabhängig von zukünftigen Regierungen abgesichert werden. Aus diesem Grund möchten wir den Artikel 3 im Grundgesetz entsprechend ergänzen.

Drittens wollen wir mit dem Selbstbestimmungsgesetz trans- und intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Menschen rechtlich anerkennen. Intergeschlechtliche Menschen haben körperliche Geschlechtsmerkmale, die sich nicht als nur männlich oder nur weiblich einordnen lassen. Transgeschlechtlichkeit bedeutet, dass sich eine Person nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das ihr aufgrund körperlicher Merkmale bei der Geburt zugewiesen wurde.

Das so genannte Transsexuellengesetz regelt bis heute, wie transgeschlechtliche Menschen ihren Vornamen und Geschlechtseintrag korrigieren dürfen. Noch bis 2008 mussten sie sich dafür scheiden lassen. Bis 2011 wurden sie gezwungen, sich sterilisieren zu lassen und geschlechtsangleichenden Operationen zu unterziehen. Bis heute müssen sie in einem langwierigen Gerichtsverfahren zwei psychiatrische Gutachten vorlegen. Dafür müssen sie oft intimste Fragen beantworten, etwa nach ihrer Unterwäsche, nach dem Masturbations- und Sexualverhalten. Dann entscheidet ein Gericht, ob sie ihren falschen Geschlechtseintrag korrigieren dürfen. Mit dieser unwürdigen Praxis machen wir Schluss.

Zukünftig soll mit unserem Selbstbestimmungsgesetz eine Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens durch eine Erklärung vor dem Standesamt möglich sein – ohne Zwangsbegutachtungen und Gerichtsverfahren. 13 Länder haben bereits solch ein Gesetz und gute Erfahrungen damit gemacht. Argentinien sogar seit über 10 Jahren. Kürzlich haben auch Finnland und Spanien ein entsprechendes Gesetz eingeführt. 

Wenn Menschen angst- und diskriminierungsfrei unterschiedlich sein können und dabei gleiche Rechte und gleiche Würde haben, dann ist das ein Gewinn für uns alle. Ich bin der festen Überzeugung, dass Vielfalt eine Gesellschaft freier und damit auch stärker macht

Sven Lehmann ist Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesfamilienministerin. Am 5. Januar 2022 benannte ihn das Kabinett zudem als ersten Queer-Beauftragten der Bundesregierung.