Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz nach dem Europäischen Rat am 15. Dezember 2022 in Brüssel

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StS Hebestreit: Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Pressekonferenz zu christlicher Zeit heute um 22:30 Uhr in Brüssel, nach dem Europäischen Rat. Und der Bundeskanzler hat das Wort.

BK Scholz: Guten Abend. Das war heute ein ebenso kurzer wie konstruktiver Europäischer Rat, und ich möchte dem tschechischen Ratsvorsitzenden Petr Fiala ein großes Lob aussprechen.

Lassen Sie mich zu Beginn kurz aufzählen, auf was wir uns allein in den vergangenen Tagen in Europa verständigt haben:

- Wir haben ein 18 Milliarden Hilfspaket für die Ukraine verabschiedet,
- haben uns auf ein neuntes Sanktionspaket gegen Russland verständigt,
- sind bedeutende Schritte zur Absicherung der Rechtsstaatlichkeit überall in Europa gegangen,
- haben dem Erweiterungsprozess neuen Schwung verliehen, inklusive der Verleihung des Kanditatatenstatuses für Bosnien und Herzegowina,
- und wir setzen ein Herzensprojekt von mir nun final in Europa um, die globale Mindestbesteuerung für die großen Unternehmen.

Und in diesem Geiste bin ich sehr zuversichtlich und werden wir uns auch am Montag auf weitreichende Schritte im Energiebereich verständigen. Ich sage all das, um deutlich zu machen: Europa reagiert geschlossen und kraftvoll auf die aktuellen Krisen der Welt.

Zum heutigen Rat im Einzelnen: Wie üblich, haben wir uns zu Beginn der Sitzung mit der Präsidentin des Europäischen Parlaments ausgetauscht. Das Gespräch mit Roberta Metsola stand dieses Mal natürlich im Zeichen des Korruptionsskandals im Europäischen Parlament. Dieser Skandal ist eine sehr ernste Angelegenheit, die das Vertrauen in die Demokratie und den Parlamentarismus erschüttern kann. Deshalb ist es gut, dass die belgischen Behörden in dem Fall gründlich ermitteln und auch aufklären. Ich vertraue darauf, dass die Präsidentin die Maßnahmen umsetzt, die sie uns heute im Kampf gegen Korruption vorgestellt hat.

Im Zentrum unserer Beratung stand einmal mehr das Thema Ukraine. Bald zehn Monate liegt der russische Überfall auf die Ukraine jetzt zurück. Die EU-Staaten stehen seit Anbeginn eng an der Seite der Ukraine. Präsident Selenskyi war heute wieder zugeschaltet. Unsere Botschaft an ihn bleibt unverändert: Die Ukraine hat unsere volle Unterstützung bei der Verteidigung ihrer Souveränität und ihrer territorialen Integrität. Die Europäische Union hat ihre Unterstützung für die von Präsident Selenskyi beim G20-Gipfel in Bali vorgestellte Initiative für einen gerechten Frieden unterstrichen. Wir haben noch einmal betont: Die perfide russische Strategie, die ukrainische Infrastruktur zu zerstören und die Bürgerinnen und Bürger der brutalen Winterkälte auszusetzen, darf und wird keinen Erfolg haben. Unsere gemeinsame Entschlossenheit, die Ukraine so lange wie nötig politisch, humanitär, finanziell und auch mit Waffen zu unterstützen, ist ungebrochen. Hierzu zählt die Finanzhilfe von 18 Milliarden Euro, die wir vereinbart haben, um die ukrainische Staatsfinanzierung im kommenden Jahr gemeinsam mit unseren internationalen Partnern sicherzustellen. Zudem stellen wir mehr Geld zur Verfügung, um europäische Waffenlieferungen an die Ukraine zu ermöglichen. Dafür wird die europäische Friedensfazilität um zwei Milliarden Euro aufgestockt. Das haben wir heute hier in Brüssel beschlossen.

Mit dem neunten Sanktionspaket erhöhen wir den Druck auf die russische Führung weiter.

Der russische Angriffskrieg hat aber auch Folgen für Europa, insbesondere was die Energiefragen angeht. Wir diskutieren seit längerem, was wir gemeinsam gegen die hohen Energiepreise tun können. Das Thema ist kompliziert und sehr technisch. Es gilt einen Weg zu finden die hohen Energiepreise zu senken, ohne die Versorgungssicherheit oder die Finanzstabilität zu gefährden. Dieses Ziel habe alle, die heute zusammengekommen sind. Und so muss es bei dem, was wir Marktkorrekturmechanismus nennen – andere sprechen vom Gaspreisdeckel –, darum gehen, Spekulation zu unterbinden, die die Preise ungerechtfertigt in die Höhe treibt. Um abzusichern, dass es genau darum geht, muss es klare Sicherheitsmechanismen geben, die einen Preisdeckel dann aussetzen, wenn wir in einem Mitgliedsstaat die Versorgungssicherheit oder Finanzmarktstabilität gefährdet sehen. Wir sind auf diesem Weg deutlich vorangekommen und haben nun die Energieminister beauftragt, am kommenden Montag die abschließende Verständigung zu erreichen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es dann zu einer finalen Einigung kommt. Meine vielen Gespräche heute mit Kolleginnen und Kollegen verstärkten meine Zuversicht dabei noch. Die öffentliche Fokussierung auf die Frage des Deckels „verstellt“ etwas den Blick, dass die Energieminister am Montag auch Beschlüsse fassen werden, zum gemeinsamen Gaseinkauf, zu Solidaritätsmechanismen in Notfällen und zur dringend benötigten Beschleu­ni­gung des Ausbaus erneuerbarer Energien und der Energienetze.

Wir haben zudem einen ersten Austausch über die Frage der Sicherung unserer Wett­bewerbsfähigkeit gehabt; gerade vor dem Hintergrund der Maßnahmen, die die US-Regierung beschlossen hat. Lassen Sie mich vorwegstellen: Die Ziele des Inflation Reduction Acts, den Klimaschutz voranzubringen, unterstützen wir ausdrücklich. In seiner jetzigen Form benachteiligt das Gesetz aber wohl europäische Unternehmen. Ich habe mich deshalb sehr dafür eingesetzt, dass wir die Gespräche mit den USA hierzu intensivieren und uns um Verbesserung bemühen. Und ich bin dabei ziemlich zuversichtlich, dass wir im Wege des Dialogs mit unseren amerikanischen Partnern Verbesserungen auch erreichen können.

Auch Präsident Macron berichtete, dass er in seinen Gesprächen in Washington hierfür eine gewisse Offenheit gespürt hat. Wichtig ist, dass wir in dem Gespräch mit den USA jetzt sehr schnell zu konkreten Ergebnissen kommen. Zudem habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Europäische Kommission die Auswirkung des Inflation Reduction Acts auf die einzelnen Sektoren und Branchen genau analysiert, damit wir zielgerichtet reagieren können. Gleichzeitig können wir schon jetzt wichtige Weichen selber stellen, z.B. durch die Vereinfachung des Beihilferechts oder bei der Beschleu­nigung von Genehmigungen für Vorhaben von gemeinsamen europäischen Interessen, den sogenannten IPCEIs. Ich bin froh, dass die Kommissionspräsidentin hier bereit ist, unsere Ideen aufzugreifen.

Lassen Sie mich zum Ende noch kurz auf zwei weitere Themen eingehen, über die wir heute gesprochen haben:

Erstens: Wir haben es ausdrücklich begrüßt, dass Bosnien-Herzegowina den EU-Kandida­ten­status erreicht hat. Klar ist für uns, dass Bosnien-Herzegowina vor dem Beginn der konkreten Verhandlungen noch substantielle Reformen umsetzen muss. Die Europäische Kommission hat hier die 14 Kernprioritäten auch klar benannt.

Zweitens habe ich mich sehr gefreut, dass es uns heute gelungen ist, die globale Mindestbesteuerung für Unternehmen europäisch verbindlich zu verankern. Es hat länger gedauert als gedacht, aber am Ende stand der Konsens. Schon als Finanzminister habe ich mich für diese Vereinbarung eingesetzt und sie im OECD-Rahmen verhandelt. Deshalb gestatten Sie mir einen seltenen Moment der Zufriedenheit. Das ist ein wichtiger Schritt für die globale Steuergerechtigkeit.

Schönen Dank.

Frage: Herr Bundeskanzler, zwei Fragen, wenn ich darf:

Erstens: Wenn der Gaspreisdeckel denn dann im kommenden Jahr möglicherweise tatsächlich ausgelöst werden sollte – und für diesen Fall ist er ja letztlich geschaffen wor­den oder wird er geschaffen – und Einkäufe oberhalb eines gewissen Preisniveaus dann verboten sind, woher kommt denn dann genügend Gas, wenn es knapp werden sollte?

Zweitens: Vielleicht können Sie auch noch das eine oder andere Wort sagen zu der Migrationsthematik, die ja offensichtlich auch angesprochen wurde. Da sind je einige Länder und nicht nur die mit Außengrenzen, sondern z.B. auch Österreich oder die Niederlande ein bisschen unglücklich. Wie ist diese Diskussion verlaufen und wie kann man das Problem angehen?

BK Scholz: Zunächst einmal haben wir doch mittlerweile sehr große Fortschritte erreicht, was die Frage der Konstruktion unserer gemeinsamen Reaktion auf zu hohe Gaspreise betrifft. Und ich bin sehr froh, dass das sehr viel Rationalität mittlerweile die Diskussion bestimmt, deshalb ist es auch ziemlich sicher, dass wir ein Ergebnis erzielen werden, wenn am Montag nochmal die Energieminister zusammenkommen. Der Preisdeckel, der ja verschiedene Formen haben wird – einmal eine Orientierung an internationalen Preisen, die an anderen Märkten gezahlt werden und einmal eine feste Summe –, wird allerdings so hoch sein, dass ich hoffe, dass er niemals relevant wird.

Was die Frage der Migration betrifft glaube ich, dass es gut ist, dass wir heute darüber gesprochen haben. Das ist ein Thema, das offensichtlich alle bewegt. Allein Österreich hat hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen. Auch wir haben eine große Zahl - 200.000 plus die eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer -, aber es ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam bewältigen können und müssen. Und da müssen Solidarität und Kooperation im Mittelpunkt stehen. Das ist im Übrigen meine Vermutung, dass die letzten Jahre und auch die Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, hier helfen. Denn irgendwie war es ja doch so, dass immer mal wieder irgendjemand gesagt hat: „Das ist das Problem der anderen.“ Aber irgendwann war jeder mal selbst dran. Und deshalb glaube ich, ist es jetzt notwendig, dass die Europäische Union da zu einer gemeinsamen Haltung kommt. Ich halte das für möglich, auch wenn es sehr schwer ist.

Frage: Herr Bundeskanzler, der ukrainische Präsident hat heute sehr eindringlich die Lieferung moderner Waffensysteme gefordert. Er hat explizit Panzer und Luftabwehr genannt. Die USA planen ja jetzt offensichtlich, Patriot Abwehrsysteme zu liefern. Können Sie sich vorstellen, dass sich Deutschland da anschließt, oder sind die deutschen Kapazitäten mit der angekündigten Lieferung nach Polen erschöpft? Und wird im Kreise der Verbündeten eigentlich noch über die Lieferung von Kampfpanzern geredet, oder ist das vom Tisch? Der ukrainische Botschafter hat ja kürzlich wieder gesagt, dass es auch direkte Gespräche mit der Bundesregierung darüber gäbe.

BK Scholz: Wir sind diejenigen, die als Bundesrepublik Deutschland sehr intensiv und sehr umfangreich Waffen liefern. Das wird auch sehr anerkannt. Und gerade haben das ja auch viele aus der Ukraine bestätigt und einige Umfragen auch wiederholt: Deutschland zählt zu den Ländern, die mit am meisten liefern. Dazu zählt all das, was wir mit Artillerie gemacht haben, z.B. der Panzerhaupitze 2000, und mit dem, was wir an Mehrfachraketenwerfern liefern - eine Waffe, die schon sehr weitreichend ist und sehr große Wirkung hat. Und so eine Waffe liefern nur Deutschland, Großbritannien und die USA. Und das Gleiche gilt für alle Frage der Luftverteidigung, die jetzt so im Mittelpunkt steht, wo wir sehr früh mit tragbaren Waffen angefangen haben, aber auch mit dem was der Flakpanzer Gepard kann. Und jetzt liefern wir ganz moderne Systeme, wie IRIS-T. Die sind so ziemlich das Fortschrittlichste, was hier zur Verteidigung der Ukraine eingesetzt werden kann. Sie sind hoch effektiv. Und mein Eindruck ist übrigens, dass überall in der Welt Verteidigungsministerien gerade überlegen, wann sie denn mit einer Bestellung dran sind, oder ob sie nicht eine Bestellung auslösen für dieses System sollen, das so effizient ist und das die Bundeswehr bis heute ja auch nicht hat, was wir uns dort beschaffen wollen. Also, das ist schon sehr weitreichend, was wir machen und das ist auch die Verständigung. Artillerie und Luftverteidigung stehen jetzt im Mittelpunkt dessen, was wir tun.

Frage [auf Englisch, zur Preisobergrenze]: Einige sagen, dass sich Deutschland auf Zahlen einigen könnte. Haben Sie heute über konkrete Zahlen gesprochen? Vielleicht auch am Rande der Konferenz? Und wenn ja, über welchen Preis wären Sie bereit zu diskutieren?

BK Scholz [auf Englisch]: Ich könnte Ihnen eine genaue Antwort geben, aber ich glaube es wäre nützlicher, wenn wir uns jetzt hier auf eine vertrauensvolle Diskussion stützen könnten, wie wir sie ja in der EU führen. Ich bin der Ansicht, dass diese Zahl hoch genug sein sollte, dass es dann keine Turbulenzen auf den Märkten gibt. Und wenn ich das richtig sehe, wird das auch funktionieren. Am Rande der Konferenz, aber nicht während der Konferenz selbst oder in der Konferenz, gab es einige Vorschläge, die geäußert wurden, die ganz gut klangen. Aber, wie gesagt, letztendlich werden wir uns in den nächsten Tagen darauf einigen.

Frage: Herr Bundeskanzler, eine Nachfrage zu den Sanktionen: Was versprechen Sie sich konkret von den Ausnahmen für russische Düngemittelhersteller? Werden Sie tatsächlich etwas verändern können beziehungsweise einen Unterschied machen?

BK Scholz: Das ist ganz einfach. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat mit Russland eine Vereinbarung getroffen, die zwei Bestandteile hat.

Erstens: Es wird ermöglicht, dass der Export von Getreide und Düngemitteln aus der Ukraine über das schwarze Meer möglich wird. Das findet jetzt statt. Und auch wenn wir sehr stolz sind auf das, was wir an Exporten über unsere Bahnlinien und die Flussschifffahrt entlang der europäischen Flüsse geschafft haben, ist es doch besser, dass wir die großen Mengen abtransportieren können, die die Seeschifffahrt ermöglicht.

Und das ist von vornherein mit der klaren Zusage des Generalsekretärs der Vereinten Nationen verbunden gewesen, dass russisches Getreide und russische Düngemittel auch exportiert werden können, was im Übrigen für die Ernährungssicherheit in der Welt auch wichtig ist. Und deshalb gehört das natürlich zu den Regelungen die wir heute beschlossen haben, dass diese Vereinbarung des Generalsekretärs auch von der Europäischen Union eingehalten wird.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, dass die Kommission beim IRA das Ziel hat, die Regelungen nochmal neu mit den Amerikanern zu diskutieren. Was ist dabei das Ziel? Muss erreicht werden, dass Europa dieselben Bedingungen erfüllt bekommt, wie sie beispielsweise Mexiko und Kanada haben? Und was passiert, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird?

BK Scholz: Es ist ganz klar, dass wir uns an dem orientieren, was die Bedingungen z.B. für Kanada sind. Und wir haben auch den Eindruck, dass uns das gelingen wird. Das will ich dazu sagen. Der Ehrlichkeit halber muss aber hinzugefügt werden, dass damit nicht alle Probleme gelöst sind, denn das sind ja nur die besonders eingreifenden Beschränkungen für Importeure oder für Unternehmen, die in den USA eine Produktion haben, die aber auf weitere Importe angewiesen ist. Daneben gibt es ja noch all die Subventionen. Und da werden wir uns auch weiter mit beschäftigen. Es geht jetzt also die nächsten Wochen darum, dass wir einen fairen Rahmen mit den USA vereinbaren und danach wird es darum gehen, dass wir Regelungen treffen, mit denen wir unsere eigene industrielle Entwicklung verteidigen.

Frage: Herr Bundeskanzler, ich würde gern nochmal zu dem Thema Waffenlieferung fragen. Es wurde schon angesprochen – die USA überlegen offenbar Patriot-Raketen zu liefern. Sie haben immer in der ganzen Debatte gesagt: „Verbündete sollten sich abstimmen.“ Moskau hat heute gesagt: „Das hätte unabsehbare Konsequenzen, wenn das passiert.“ Entsprechend – stimmen Sie sich mit den USA ab und was raten Sie denen in dem Fall? Danke.

BK Scholz: Wir stimmen uns mit den USA ab. Wie Sie wissen, haben wir ja auch selber viele Luftverteidigungssysteme in die Ukraine geliefert, auch eines der modernsten der Welt, nämlich IRIS-T. Es ist eigentlich kein substantieller Unterschied. IRIS-T zählt zu dem modernsten, was überhaupt heute verfügbar ist, und das haben wir geliefert.

StS Hebestreit: Meine Damen, meine Herren, ich bedanke mich für Ihr Interesse und dann sehen wir uns im neuen Jahr wieder. Auf bald.

BK Scholz: Ich wünsche Ihnen auch noch frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Und ich hoffe nicht, dass irgendwelche Ereignisse dazwischenkommen, sodass wir uns wiedersehen. Tschüss.