Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz auf dem EU-Westbalkan-Gipfel am 6. Dezember 2022 in Tirana

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BK Scholz: Meine Damen und Herren, zunächst einmal möchte ich mich bei dem Gastgeber bedanken, bei Albaniens Ministerpräsidenten Edi Rama. Das war ein wirklich wichtiges Gipfeltreffen der Europäischen Union mit den Ländern des Westbalkans. Es ist auch das erste Mal, dass es hier stattfindet, und auch das ist ein ganz, ganz wichtiges Zeichen dafür, welche Beschleunigung im Hinblick auf die Integration der sechs Westbalkanstaaten in die Europäische Union gelungen ist. Vergessen wir nicht: Es ist fast 20 Jahre her, dass in Thessaloniki miteinander beschlossen wurde, dass diese Länder Mitglieder der Europäischen Union werden können und sollen, und wir sind nicht da, wo wir uns das damals vorgestellt haben. Insofern ist es wichtig, dass jetzt neuer Schwung in diese Beratung und Diskussion gekommen ist und dass wir den Beitritt dieser Länder schnell organisieren.

Es ist jetzt gerade einen Monat her, dass wir uns im Rahmen des Berlin-Prozesses getroffen haben, um die Ambitionen dieser Länder zu besprechen und alles dafür zu tun, dass wir die Dinge vorangekommen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir hier nicht nur zusammengekommen sind, sondern dass wir auch alles dafür tun, dass wir die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit und der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Westbalkanstaaten voranbringen und sie für die Zukunft wappnen, die wir ja gemeinsam miteinander haben wollen. Mit der heutigen Tirana-Erklärung unterstreichen wir noch einmal unzweideutig das Bekenntnis zur Erweiterung der Europäischen Union, das wir eben vor so langer Zeit abgegeben haben.

Natürlich ist das, was wir heute besprochen haben, auch tief von dem Überfall Russlands auf die Ukraine und die brutale Kriegsführung Russlands dort geprägt, die jeden Tag zeigt, was für einen grausamen Krieg sich Putin vorgenommen hat und die ganze Zeit praktiziert. Es ist wichtig, dass Europa in dieser Frage zusammensteht. Wir haben deshalb viel dafür getan, eine Abmilderung der Folgen dieses Krieges auch in dieser Region voranzubringen, damit wir miteinander auch unsere Zusammenarbeit für die Zukunft organisieren können. Deshalb ist es wichtig, dass es hier eine Verständigung über die Fragen der Kooperation gegeben hat, wenn es um die Wirtschaftszusammenarbeit geht, um Unterstützung in der Frage der Energiesicherheit und um Fragen der Migration, die miteinander bewältigt werden müssen. Ich glaube, es ist ein ganz, ganz guter Fortschritt, dass das alles hier miteinander besprochen und auch in der Erklärung niedergelegt werden konnte.

Dass wir in den Energiefragen, die ich angesprochen habe, eng zusammenarbeiten, ist auch wichtig für die Transformation, die wir uns in Europa insgesamt vorgenommen haben. Dabei geht es eben darum, dass wir auch hier helfen, Infrastrukturen zu entwickeln, die die Energiesicherheit der Region, aber auch Europas weiter voranbringen.

Im Übrigen gibt es ein paar sehr erfreuliche Vereinbarungen, die hier auch geschlossen worden sind, etwa zwischen Telekommunikationsbetreibern der EU und des westlichen Balkans im Hinblick auf die Absenkung von Roaminggebühren. Damit wird dann ganz praktisch für die Bürgerinnen und Bürger hier vor Ort spürbar, wie sich die gute Zusammenarbeit und das, was wir uns für die Zukunft vorgenommen haben, auswirken werden.

Wir haben uns auch darüber unterhalten, dass wir eine Annäherung unserer gemeinsamen Haltung in Fragen der Sanktionspolitik hinbekommen müssen. Wir erwarten von den Beitrittsländern, dass sie sich an der Sanktionspolitik der Europäischen Union ausrichten.

Ähnliches gilt für die Frage der Visumspolitik. Da brauchen wir eine gemeinsame Haltung. Es ist richtig, dass die Visumspolitiken der Europäischen Union jetzt immer mehr für die Länder des westlichen Balkans verbindlich werden, etwas, wofür wir uns lange eingesetzt haben.

Im Hinblick auf all das war das aus meiner Sicht also ein gutes Treffen, ein wichtiger Zwischenstein für die Region selbst, ein großes Zeichen der Hoffnung und natürlich auch etwas, das auf all die Fortschritte zurückgreift, die wir unterdessen erzielt haben, die mühselig bleiben, aber notwendig sind. Ich will nur an die jetzt begonnenen Gespräche erinnern, was die Situation von Nordmazedonien oder Albanien betrifft. Da hat es lange gehakt. Das haben wir vorangetrieben. Es gibt neue Bewegung im Gespräch zwischen Serbien und Kosovo. Das bleibt schwierig, aber notwendig und auch da sind Fortschritte erzielt worden. Ohne diese ganze neue Dynamik, was den Integrationsprozess der sechs Westbalkanstaaten betrifft, wäre es nicht gelungen, jetzt auch diese Fortschritte zu erreichen.

Vielleicht noch eine Bemerkung über eine europäische Entscheidung, die nicht in Tirana getroffen wurde, sondern in Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht hat sich sehr klar zu dem europäischen Wiederaufbauprogramm geäußert, und das ist natürlich eine erfreuliche Meldung, die auch hier überall zur Kenntnis genommen worden ist.

Frage: Herr Bundeskanzler, die EU-Kommission schlägt ja vor, dass Bosnien-Herzegowina den Kandidatenstatus noch in diesem Jahr erhält. Die Entscheidung soll eventuell in der nächsten Woche fallen. Hat sich da heute eine Tendenz abgezeichnet, und befürworten Sie diesen Kandidatenstatus?

BK Scholz: Es hat hier heute sehr viele positive Äußerungen dazu gegeben. Viele haben ungefragt dazu Stellung genommen. Das ist ja auch richtig so; denn tatsächlich wollen wir diesen Prozess ja auch in dieser Richtung voranbringen. Das wird sicherlich von einer ganzen Reihe von Fragestellungen begleitet sein, die auch für die Zukunft zu lösen sind und die auch weiterhin für alle, die Mitglied werden wollen und die den Kandidatenstatus haben wollen, von Bedeutung sind, nämlich dass man sich auf den Weg macht und dass Fortschritte in Richtung auf den Acquis erzielt werden, das Gemeinsame in der Europäische Union. In dem Sinne ist das, glaube ich, ein nächster guter Schritt.

Frage: Herr Bundeskanzler, Serbien gilt als schwieriger Partner. Sie haben die Stichworte Russlandsanktionen und auch die Visumspolitik genannt. Die Kommissionspräsidentin hat gesagt, man müsse sich schon für eine Richtung entscheiden. Haben Sie irgendwelche positiven Signale von der serbischen Seite empfangen, dass das in naher Zukunft der Fall sein wird? Was wäre Ihre Botschaft an Belgrad?

BK Scholz: Zunächst einmal ist mein sicherer Eindruck aus den vielen Gesprächen, die ich in der Vergangenheit und auch heute wieder geführt habe, dass es in Serbien eine ganz klare Perspektive hin auf Europa gibt. Es ist, glaube ich, der feste Wille nicht nur der Regierung, sondern auch der Bürgerinnen und Bürger des Landes, sich auf diesen Weg zu machen. Dass jetzt Veränderungen zum Beispiel in der Visapolitik berichtet worden sind und auch weitere sicher anstehen, die eine Berücksichtigung der europäischen Visaregelung möglich machen und voranbringen, ist in dem Sinne ja ein gutes Zeichen.

Frage: Herr Bundeskanzler, Herr Borrell hatte heute einen Vorschlag in Bezug auf zwei Parteien, Serbien und Kosovo, hinsichtlich des Normalisierungsprozesses unterbreitet. Was ist Ihre Meinung dazu?

Meine zweite Frage bezieht sich auf die Visaliberalisierung. Als Sie letztes Mal in Kosovo gewesen sind, haben Sie gesagt, Sie würden sich für die Visaliberalisierung stark machen. Werden Sie sich auch weiterhin einsetzen, was diese Frage angeht?

BK Scholz: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Visaliberalisierung für Kosovo notwendig ist, und ich denke, das ist auch eine sehr gute Perspektive, die aussichtsreich ist.

Was die Frage der Vorschläge im Hinblick auf das Verhältnis von Kosovo und Serbien betrifft, ist es in der Tat so, dass wir die weiterentwickelt haben. Deutschland ist ja sehr intensiv zusammen mit der Kommission und Frankreich dabei, da auch noch einmal Fortschritt zu organisieren. Deshalb ist es nicht so verwunderlich, dass wir sehr hinter den Vorschlägen stehen, die mit uns eng abgestimmt und entwickelt worden sind.

Frage: Herr Bundeskanzler, Deutschland, Frankreich und zehn weitere Länder haben die EU-Kommission gebeten, eine neue Einschätzung zu Ungarn, zu den Reformen, die dort gemacht worden sind, abzugeben. Es geht um das Geld, das die Kommission einzufrieren vorgeschlagen hat - 7,5 Milliarden Euro. Können Sie bitte erläutern, warum aus Ihrer Sicht das Votum, der Vorschlag der Kommission und die Beurteilung Ungarns nicht ausreichend sind?

BK Scholz: Wir müssen für unsere Entscheidungen vollständige Grundlagen haben. Die Forderungen, die von der Europäischen Kommission, aber auch von den Mitgliedern der Europäischen Union formuliert worden sind, werden in Ungarn bearbeitet, und der Prozess der Auseinandersetzung mit den Vorschlägen und Wünschen ist ja einer, der ständig weitergeht. Insofern können wir ja nicht übersehen, dass noch weitere Entscheidungen existieren, wenn die jetzt getroffen worden sind. Die wollen wir aber nicht als Allererste bewerten, sondern das ist ja Sache der Kommission. Es geht also ganz einfach um Zeitabläufe und darum, dass jetzt weitere Dinge passiert sind, die nun auch berücksichtigt werden müssen. Was dann als Bewertung herauskommt, werden wir dann ja sehen. Das ist ja nur ein Wunsch, das zu berücksichtigen.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben danach auch noch mit dem französischen Präsidenten und dem niederländischen Ministerpräsidenten gesprochen. Ich nehme an, Herr Macron wird Ihnen von den Gesprächen in Washington erzählt haben. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass man einen Handelsstreit mit den USA noch abwenden kann? Es gibt ja auch aus Ihrer Partei den Vorschlag, dass man doch den Weg einer WTO-Klage gehen sollte.

Eine kurze Nachfrage zu der Frage von dem Kollegen: Wie beurteilen Sie, dass Ungarn in der EU die Auszahlung von 18 Milliarden Euro für die Ukraine blockiert?

BK Scholz: Ich bin fest davon überzeugt, dass es notwendig ist, dass die Europäische Union mit ihren Möglichkeiten die Ukraine weiter unterstützt. Der Vorschlag, den die Kommission dazu gemacht hat - die von Ihnen angesprochenen 18 Milliarden Euro -, ist dringend und muss auch schnell beschlossen werden. Insofern ist meine Haltung ganz klar: Ich wünsche mir, dass alle 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union diesen Vorschlag unterstützen. Das ist wichtig für die Ukraine. Ich bin allerdings auch zuversichtlich, dass uns das gelingen wird.

Was die Frage des „Inflation Reduction Act“ betrifft, ist es ja so, dass wir den etwas zwiegespalten betrachten. Einerseits sind wir ganz froh darüber, dass damit doch sehr ambitionierte Zielsetzungen im Hinblick auf die Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels verbunden sind - das ist ein großer Fortschritt, den wir in den USA sehen. Andererseits ist es so, dass wir die Folgen für Wirtschaftswachstum, für Handel, für faire Bedingungen untereinander auch erkennen. Deshalb sind wir seit Langem dabei, das zu thematisieren. Ich habe das mit dem amerikanischen Präsidenten besprochen und in mehreren Diskussionen vertieft. Der französische Präsident hat das jetzt noch einmal getan. Die Europäische Kommission ist in dieser Sache unterwegs, es gibt da eine gemeinsame Arbeitsgruppe.

Um Ihre Frage auch ganz konkret zu beantworten: Das wird jetzt noch viel Arbeit, viel Anstrengung und sicherlich auch noch viele entschiedene Diskussionen mit sich bringen, aber ich bin zuversichtlich, dass es am Ende doch darum gehen wird, dass wir eine Lösung finden, mit der wir dann alle - die USA wie die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer - gut leben können.

Frage: Herr Bundeskanzler, ich würde Sie bitten, wenn Sie möchten und können, noch einmal zu präzisieren, was Sie heute von Serbien erfahren haben. Sie haben ja gesagt, Sie haben deutlich gemacht haben, dass alle Staaten bei den Sanktionen mitziehen sollen. Das wusste Herr Vučić wahrscheinlich vorher auch schon. Haben Sie heute eine Antwort von ihm bekommen, ob er das tun wird? Hat es irgendwelche Folgen, wenn er das nicht tut?

BK Scholz: Es ist ganz klar, dass wir Erwartungen an alle, die beitreten wollen, haben. Über das Thema Visapolitik und die Frage, wie Visen erteilt werden, habe ich schon gesprochen. Da hat es Veränderungen gegeben, und ich rechne auch damit, dass es weitere gibt.

Was die Frage der Sanktionen betrifft, haben wir einen Dissens mit Serbien über diese Frage. Der ist nicht neu, aber der ist auch immer noch da.

Frage: Herr Bundeskanzler, ich würde gerne noch einmal zu Ihrem Gespräch mit dem französischen Präsidenten und dem niederländischen Ministerpräsidenten nachfragen. Die galten ja bislang als Skeptiker dieser EU-Erweiterung. Haben Sie jetzt den Eindruck, dass sich da etwas bewegt hat und dass sie wirklich auch unterstützen, dass es die EU-Erweiterung auf dem Westbalkan geben soll?

BK Scholz: Ich bin ganz sicher, dass da jetzt wirklich eine alle erfassende, neue Bewegung zustande gekommen ist und dass die Skepsis, die vor ein paar Jahren von mehreren Mitgliedstaaten formuliert worden ist, heute gewandelt ist – mutiert ist zu einer Bereitschaft, das aktiv voranzutreiben und natürlich auch immer die ganz konkreten Punkte zu verfolgen, die dabei als Fortschritte zu begleiten sind. Das ist jetzt aber doch eine andere Stimmung, als sie noch vor einem Jahr existiert hat, und das ist eine gute Wende zum Besseren.