Darum geht es bei meiner Reise nach China

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Gastbeitrag des Kanzlers in der FAZ Darum geht es bei meiner Reise nach China

China ist und bleibt ein wichtiger Partner. Doch wenn sich China verändert, muss sich auch unser Umgang mit dem Land verändern. Gefragt sind Augenmaß und Pragmatismus. Ein Gastbeitrag von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

6 Min. Lesedauer

Kanzler Scholz steigt in ein Flugzeug.

Kanzler Scholz vor seinem Abflug nach Peking. Dort wird er am Freitag Präsident Xi Jinping zu Gesprächen treffen.

Foto: Bundesregierung/Imo

Gut drei Jahre ist es her, dass meine Vorgängerin China zuletzt besucht hat. Drei Jahre, in denen die Herausforderungen und Risiken zugenommen haben – hier in Europa, in Ostasien und natürlich auch im deutsch-chinesischen Verhältnis. Drei Jahre, in denen sich die Welt tiefgreifend verändert hat. Einerseits wegen der Corona-Pandemie, zum anderen wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine mit seinen schwerwiegenden Folgen für die internationale Ordnung, für die Energie- und Nahrungsmittelversorgung, für die Wirtschaft und Preise weltweit. Gerade weil business as usual in dieser Lage keine Option ist, reise ich nach Peking. Lange waren solche Treffen aufgrund der Covid-19-Pandemie und Pekings strenger Corona-Politik nicht möglich. Umso wichtiger ist das direkte Gespräch jetzt.

Fünf Gedanken begleiten mich auf dieser Reise.

  1. Das China von heute ist nicht mehr dasselbe wie noch vor fünf oder zehn Jahren. Die Ergebnisse des gerade zu Ende gegangenen Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas sprechen eine eindeutige Sprache: Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus nehmen deutlich breiteren Raum ein als in früheren Parteitagsbeschlüssen. Dem Streben nach nationaler Sicherheit, gleichbedeutend mit der Stabilität des kommunistischen Systems, und nationaler Autonomie kommt künftig mehr Bedeutung zu. Es ist klar: Wenn sich China verändert, muss sich auch unser Umgang mit China verändern.
  2. Nicht nur China, auch die Welt hat sich verändert. Russlands Krieg gegen die Ukraine stellt die internationale Friedens- und Sicherheitsordnung brutal infrage. Selbst vor der Drohung mit Nuklearwaffen schreckt Präsident Wladimir Putin nicht mehr zurück. Damit droht er eine rote Linie zu überschreiten, die die gesamte Menschheit gezogen hat. China hat sich noch Anfang des Jahres in einer Erklärung mit den anderen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats klar gegen den Einsatz oder auch nur die Drohung mit Nuklearwaffen positioniert. Als ständigem Mitglied des Sicherheitsrates kommt China eine besondere Verantwortung zu. Klare Worte Pekings an die Adresse Moskaus sind wichtig – zur Wahrung der Charta der Vereinten Nationen und ihrer Prinzipien.

    Dazu zählen die Souveränität und die territoriale Integrität aller Staaten. Kein Land ist der „Hinterhof“ eines anderen. Was in Europa mit Blick auf die Ukraine gilt, das gilt auch in Asien, in Afrika oder in Lateinamerika. Dort entstehen neue Machtzentren einer multipolaren Welt, mit denen wir Partnerschaften eingehen und ausbauen wollen. Wir haben uns in den vergangenen Monaten international intensiv abgestimmt – mit engen Partnern wie Japan und Korea, mit aufstrebenden asiatischen Mächten wie Indien und Indonesien, auch mit Staaten Afrikas und Lateinamerikas. Ende nächster Woche reise ich nach Südostasien und zum G-20-Gipfel. Parallel zu meinem Besuch in China wird der Bundespräsident in Japan und Korea zu Gast sein.

    Gerade Deutschland, das die Teilung im Kalten Krieg auf besonders schmerzhafte Weise erfahren hat, hat kein Interesse an einer neuen Blockbildung in der Welt. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA bekräftigt ebenfalls zu Recht das Ziel, eine neue Blockkonfrontation zu verhindern. Mit Blick auf China heißt das: Natürlich wird dieses Land mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern und seiner wirtschaftlichen Stärke künftig eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne spielen – so wie übrigens über weite Strecken der Weltgeschichte hinweg. Daraus lässt sich aber ebenso wenig die Forderung mancher nach einer Isolierung Chinas ableiten wie ein Anspruch auf hegemoniale Dominanz Chinas oder gar eine sinozentrische Weltordnung.
  3. China bleibt auch unter veränderten Vorzeichen ein wichtiger Wirtschafts- und Handelspartner für Deutschland und Europa. Wir wollen kein „Decoupling“, keine Entkopplung von China. Aber was will China? Chinas Wirtschaftsstrategie der zwei Kreisläufe ist darauf ausgerichtet, den innerchinesischen Markt zu stärken und Abhängigkeiten von anderen Ländern herunterzufahren. In einer Rede Ende 2020 hat Präsident Xi Jinping zudem davon gesprochen, chinesische Technologien einzusetzen, um „die Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China zu verschärfen“. Solche Aussagen nehmen wir ernst.

    Wir werden daher einseitige Abhängigkeiten abbauen, im Sinne einer klugen Diversifizierung. Dabei braucht es Augenmaß und Pragmatismus. Ein Großteil des Handels zwischen Deutschland und China betrifft Produkte, bei denen es weder an alternativen Lieferquellen fehlt noch gefährliche Monopole drohen. Vielmehr profitieren China, Deutschland und Europa gleichermaßen. Dort aber, wo riskante Abhängigkeiten entstanden sind – etwa bei wichtigen Rohstoffen, manchen seltenen Erden oder bestimmten Zukunftstechnologien –, stellen unsere Unternehmen ihre Lieferketten nun zu Recht breiter auf. Wir unterstützen sie dabei, zum Beispiel durch neue Rohstoff-Partnerschaften.

    Auch bei chinesischen Investitionen in Deutschland differenzieren wir danach, ob ein solches Geschäft riskante Abhängigkeiten schafft oder verstärkt. Das war übrigens auch der Maßstab, den die Bundesregierung im Fall der Minderheitsbeteiligung der chinesischen Reederei Cosco an einem Terminal des Hamburger Hafens angelegt hat. Dank klarer Auflagen bleibt die volle Kontrolle des Terminals bei der Stadt Hamburg und der Hafengesellschaft. Diversifizierung und Stärkung unserer eigenen Resilienz statt Protektionismus und Rückzug auf den eigenen Markt – das ist unsere Haltung, in Deutschland und in der Europäischen Union.

    Von Reziprozität, von Gegenseitigkeit in den Beziehungen zwischen China und Deutschland sind wir weit, zu weit entfernt, etwa im Hinblick auf den Marktzugang für Unternehmen, Lizenzen, den Schutz geistigen Eigentums oder Fragen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung unserer Staatsangehörigen. Wir werden Reziprozität weiter einfordern. Wo China diese Gegenseitigkeit nicht zulässt, kann das aber nicht folgenlos bleiben. Ein solch differenzierter Umgang mit China entspricht den langfristigen, strategischen Interessen Deutschlands und Europas.
  4. Präsident Xi hat Anfang des Jahres in Davos gesagt: „Die Welt entwickelt sich durch die Bewegung von Widersprüchen – ohne Widerspruch würde nichts existieren.“ Das bedeutet, Widerspruch auch zuzulassen und auszuhalten. Das bedeutet, schwierige Themen im Austausch miteinander nicht auszuklammern. Hierzu zählt die Achtung bürgerlicher und politischer Freiheitsrechte sowie der Rechte ethnischer Minderheiten etwa in der Provinz Xinjiang.

    Beunruhigend ist die angespannte Lage rund um Taiwan. Wie die USA und viele andere Staaten verfolgen wir eine Ein-China-Politik. Dazu gehört aber, dass eine Veränderung des Status quo nur friedlich und in gegenseitigem Einvernehmen erfolgen darf. Unsere Politik ist auf den Erhalt der regelbasierten Ordnung, die friedliche Lösung von Konflikten, den Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten und den freien, fairen Welthandel gerichtet.
  5. Wenn ich als deutscher Bundeskanzler nach Peking reise, dann tue ich das zugleich als Europäer. Nicht etwa um im Namen ganz Europas zu sprechen, das wäre falsch und vermessen. Sondern weil deutsche Chinapolitik nur eingebettet in eine europäische Chinapolitik erfolgreich sein kann. Im Vorfeld meiner Reise haben wir uns daher eng mit unseren europäischen Partnern, darunter Präsident Macron, und auch mit unseren transatlantischen Freunden abgestimmt. Mit dem Dreiklang „Partner, Wettbewerber, Rivale“ hat die Europäische Union China richtig beschrieben, wobei Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zweifellos zugenommen haben.

    Damit müssen wir umgehen, indem wir den Wettbewerb annehmen und die Folgen der Systemrivalität ernst nehmen und in unserer Politik berücksichtigen. Zugleich gilt es auszuloten, wo Kooperation auch weiterhin im beiderseitigen Interesse liegt. Schließlich braucht die Welt China – etwa im Kampf gegen globale Pandemien wie Covid-19.

    Auch wenn es um die Beendigung der weltweiten Nahrungsmittelkrise geht, um die Unterstützung hoch verschuldeter Staaten und die Erreichung der UN-Entwicklungsziele, spielt China eine entscheidende Rolle. Ohne entschlossenes Handeln bei der Emissionsreduktion in China können wir den Kampf gegen den Klimawandel nicht gewinnen. Deshalb ist es gut, dass Peking sich ambitionierte Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien gesetzt hat, und ich werbe dafür, dass China gemeinsam mit uns gerade auch international noch mehr Verantwortung für den Klimaschutz übernimmt.

    Wir sind uns bewusst, dass wir auch bei klimafreundlichen Technologien im Wettbewerb stehen – um die effizientesten Produkte, die klügsten Ideen, die erfolgreichste Umsetzung der jeweiligen Pläne. Das setzt aber voraus, dass China seinen Markt für unsere klimafreundlichen Technologien nicht verschließt. Diesem Wettbewerb stellen wir uns. Weniger Wettbewerb heißt nämlich immer auch weniger Innovation. Verlierer wäre der Klimaschutz – und damit wir alle.

All das ist viel Stoff für einen Antrittsbesuch in Peking. Wir suchen die Kooperation, wo sie im Interesse beider Seiten liegt. Wir werden Kontroversen nicht ausklammern. Das gehört zu einem offenen Austausch zwischen Deutschland und China.