„Neues Wachstum durch technologische Innovationen“

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Kanzler im Interview mit der Welt am Sonntag „Neues Wachstum durch technologische Innovationen“

Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit der Welt am Sonntag über den Bürokratieabbau, seine klare Absage an Schuldenmachen ohne Ende sowie den Wohnungsbau gesprochen. „Je schneller sich der Ausbau von Windkraft, Solarenergie, Stromnetze und Wasserstoff-Wirtschaft vollzieht, umso schneller werden die Zweifel verstummen“, blickt der Kanzler voraus. Lesen Sie hier das komplette Interview.

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Bundeskanzler Olaf Scholz im Interview mit der Welt am Sonntag.

„Wie viele Kriegsherren vor ihm hat sich Putin verschätzt, als er glaubte, der Überfall auf die Ukraine werde eine leichte Übung“, so Olaf Scholz im Interview mit der Welt am Sonntag.

Foto: Bundesregierung/Denzel

Herr Bundeskanzler, die Augenklappe war gerade dabei, ein Markenzeichen für Sie zu werden. Und jetzt ist sie schon wieder weg.

Bundeskanzler Olaf Scholz: Ich bin froh! Die Verletzung ist praktisch abgeheilt.

Als Sie gestürzt waren, hatten Sie zunächst Angst, mit so einer Verletzung in die Öffentlichkeit gehen zu müssen?

Scholz: Nein, für mich war ganz klar, dass ich arbeiten gehen und auch öffentliche Termine wahrnehmen werde. So bin ich auf die Augenklappe gekommen.

Haben Sie mit so vielen positiven Reaktionen gerechnet auf die Augenklappe?

Scholz: Ehrlich gesagt, zunächst habe ich gar nicht darüber nachgedacht, wie die Reaktionen sein werden. Aber es hat mich berührt, wie viele sich sehr zugewandt gemeldet haben.

Mochten die Deutschen den Kanzler mit der Augenklappe vielleicht nicht nur, weil Ihr Umgang damit etwas Selbstironisches hatte, sondern auch, weil sie sich in ihm wiedererkennen? Weil wir gerade das Gefühl haben, Deutschland ist ein lädiertes Land?

Scholz: Na, Deutschland ist kein lädiertes Land. Um im Bild des Piratenkapitäns zu bleiben: Deutschland ist ein stolzes Segelschiff und für alle Stürme gerüstet.

Aber Sie gestehen schon zu, dass Deutschland in der Krise ist?

Scholz: Es ist unübersehbar, dass wir eine Wachstumsschwäche haben. Hauptursache dafür ist, dass einige unserer Exportmärkte schwächeln, allen voran China. Das wirkt sich auf eine Exportnation wie unsere aus. Gleichzeitig haben wir mit hoher Inflation und gestiegenen Energiepreisen zu tun, die eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine sind.  Die zeitweilige Unterbrechung von Lieferketten aufgrund der Covid-19-Pandemie ist ebenfalls noch spürbar. Und all das hat auch noch zu einem plötzlichen Anstieg des Zinsniveaus geführt, das nicht zuletzt die Bauwirtschaft besonders herausfordert.

Was Sie beschreiben, würde ein Wissenschaftler „exogene Faktoren“ nennen und ein Fußballtrainer „scheiße gelaufen“. Aber haben Sie einen Plan, um Deutschland aus der Krise zu holen? Die Lage in China und Russland können Sie nicht ändern …

Scholz: Richtig. Viel von dem, was wir hierzulande tun können, um unsere Wirtschaft anzukurbeln, haben wir in den vergangenen Wochen auf den Weg gebracht – unter anderem mit dem Wachstumschancengesetz. Es ermuntert Unternehmen zum Beispiel, nicht abzuwarten und fällige Investitionen jetzt zu tätigen. Investitionen in den Wohnungsbau und für bestimmte Anschaffungen können stärker steuerlich geltend gemacht werden. Die Unternehmen sollen mehr Liquidität erhalten, indem sie den Verlustvortrag stärker nutzen können. Auch für Start-ups und Arbeitnehmerbeteiligung gibt es Erleichterungen. Zentrale Aufgabe bleibt aber, strukturell für mehr Wachstum zu sorgen. Die Preise für Energie sind noch zu hoch und müssen runter. Deshalb beschleunigen wir den Ausbau von Windkraft und Solarenergie. Da heißt es jetzt: Tempo machen! Vieles dauert in Deutschland einfach zu lange: Wenn Planungsverfahrungen und Genehmigungen viele Jahre dauern, kostet das Wachstum. Deshalb habe ich den Deutschlandpakt vorgeschlagen. Das Ziel: Städte und Gemeinden, Länder, die Bundesregierung und gerne auch die demokratische Opposition sollen gemeinsam anpacken, damit mehr Tempo in die Prozesse kommt. Der Dschungel an Vorschriften muss gelichtet werden. Es geht darum, in kurzer Zeit so viel wie möglich von unnötigen Vorschriften, die uns daran hindern, schnell zu sein, abzuschaffen und oder zu verändern – auf Bundesebene, in den Ländern und auch in den Kommunen.

Beim Deutschlandpakt soll Ihnen die Opposition helfen, Vorhaben umzusetzen, die Sie schon vorher hatten. Mit Verlaub, das tut doch keine Regierung, die noch an ihre eigene Kraft glaubt, oder?

Scholz: Ach, was! Es geht um eine nationale Kraftanstrengung, bei der wir alle gemeinsam unsere verkrusteten Strukturen aufbrechen und überwinden, damit es vorangeht in unserem Land – und dafür braucht es alle staatlichen Ebenen und Verantwortungsträger. Schließlich haben wir alle gemeinsam in den vergangenen Jahrzehnten diese verkrusteten Strukturen geschaffen. Und eine konstruktive Opposition kann sich mit ihren Vorschlägen dort gut einbringen. Es geht hier nicht um parteipolitische Profilierung, sondern um die Zukunft unseres Landes.

Welcher Vorschlag der Union könnte denn in den Deutschlandpakt einfließen?

Scholz: Ich bin bereit, mir jeden konkreten Vorschlag genau anzuschauen.

Konkret fragen wir jetzt erstmal Sie: Der Economist nennt Deutschland den kranken Mann Europas. Was tun Sie?

Scholz: Diese angelsächsische Zeitung kritisiert uns für die angeblich deutsche Obsession, nicht Schulden ohne Ende aufzunehmen. Der Text rät quasi dazu, 100 bis 200 Milliarden Euro zusätzliche Schulden zu machen jedes Jahr. Aber da sage ich: Nein! Schuldenmachen ohne Ende löst unsere Probleme nicht, schafft aber neue. Es geht darum, die Wachstumsdynamik unseres Landes zu entfalten. Darin liegt die Stärke unserer Wachstumschancengesetzes. Es ist präzise auf diese Aufgabe zugeschnitten. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung: Den Außenhandel haben wir nicht in der Hand, weil wir ja schlecht ein Konjunkturprogramm für den Rest der Welt machen können. Aber wenn es dort wieder läuft, hat das sehr konkrete positive Auswirkungen bei uns: unser Maschinenbau, unsere Automobilindustrie, unsere Chemieindustrie und viele andere Wirtschaftszweige bleiben gefragt, weil sie qualitativ stark sind. Eine Voraussetzung dafür ist übrigens auch, dass es genügend Arbeitskräfte in Deutschland gibt. Dafür haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem wir Talente anziehen auf allen Qualifikationsstufen, von der Ingenieurin bis zum Facharbeiter.

Ihre Antwort auf die Krise ist also: Wird schon wieder …

Scholz: ...wenn wir uns nun gemeinsam an die Aufgabe machen, für mehr Tempo zu sorgen. Dafür habe ich ja den Deutschland-Pakt vorgeschlagen. Und ich warne davor, das Land in eine Krise hineinzureden. Sonst überhören wir eine ganze Reihe guter Botschaften: In Deutschland werden große Batteriefabriken gebaut und Milliarden-Summen in die Elektromobilität investiert. Europas Heimat für die Halbleiterproduktion ist Deutschland – mit neuen Werken von Intel, Infineon, NXP, Bosch, TSMC, Global Foundries und vielen anderen. All das passiert gerade, es entstehen neue moderne und gut bezahlte Industrie-Arbeitsplätze.

Zuletzt klangen Sie ganz anders. „Ich bin es leid!“, riefen Sie im Bundestag aus. So könne es nicht weitergehen. Sie klangen fast wie Gerhard Schröder vor der Agenda 2010 ...

Scholz: Na, mein Sound ist doch eher hamburgisch. Aber ich rege mich wirklich darüber auf, wie lange gewisse Verfahren in Deutschland brauchen. Wir haben es mit einer hinderlichen Bürokratie zu tun, die, wie schon gesagt, von uns allen gemeinsam über viele Jahrzehnte mit viel Liebe zum Detail geschaffen worden ist und die uns nun hemmt. Die muss jetzt weg. Das Tempo unserer Verwaltung entscheidet mit darüber, wie stark Deutschlands Wirtschaft wächst. Ich bin es leid, wenn beim Bau einer neuen U-Bahn-Linie mehr als zehn Jahre für die Planung draufgehen! Die Energiewende wird scheitern, wenn die Genehmigung einer Windkraftanlage mehrere Jahre dauert. Unser Gesundheitssystem gehört zu den weltweit besten – aber wir haben die Digitalisierung verschlafen. Die bringen wir nun in Fahrt. Erste Gesetze dazu haben wir gerade beschlossen. Und wir werden nachlegen, um den Forschungsstandort für die Pharmaindustrie zu verbessern. Es ist ein Dickicht an Paragrafen, das es zu lichten gilt. Jahrzehntelang hat sich da niemand rangetraut. Ja, ich bin es leid und will das ändern. 

Ihre Kritik ist scharf, richtet sich aber nur an die Bürokratie, also den Staat selbst. Schröder verlangte bei seiner Agenda auch den Bürgern etwas ab.

Scholz: Jede Zeit hat ihren Antworten. Damals hatten wir fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, jetzt herrscht ein Mangel an Arbeitskräften. Manche sagen, dass wir uns jetzt alle einschränken müssten und unseren Lebensstil ändern. Über den mag jede und jeder für sich entscheiden – es geht die Regierung nichts an, welchen Lebensstil die Bürgerinnen und Bürger haben. Mir geht es nicht um Verzicht, sondern um neues Wachstum durch technologische Innovationen, damit alle ein besseres Leben führen können.

Was ist die Rolle des Staates dabei?

Scholz: Die Sicherheit vermitteln: Das haut hin, diese Umstellung unserer Industrie geht gut aus. Denn das wird es ja – mit guten und gut bezahlten Industrie-Arbeitsplätzen, mit Wertschöpfung, mit bezahlbarer und sicherer Energie. Je schneller sich der Ausbau von Windkraft, Solarenergie, Stromnetze und Wasserstoff-Wirtschaft vollzieht, umso schneller werden die Zweifel verstummen.

Sie beschreiben den Staat als Mutmacher und Ermöglicher, der die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Derzeit ist der Staat aber vor allem Akteur, der interveniert: Er setzt die Energiepreise fest, er subventioniert Chip-Fabriken mit Milliarden Beträgen, fördert bestimme Technologien wie Wärmepumpe und Elektroauto und möchte, dass andere Technologien vom Markt verschwinden. Die Rolle des Staates ist doch derzeit so groß wie lange nicht.

Scholz: Nein! …

... Nein?

Scholz: Nein. Es hat immer eine enge Verbindung zwischen staatlichem Handeln und privatwirtschaftlichem Engagement geben. Am stärksten vielleicht in der Zeit, in der Deutschland seinen ganz großen industriellen Aufschwung hatte, Ende des 19. Jahrhunderts. Und jetzt müssen wir die Weichen in die Zukunft stellen, damit die Dinge passieren, die für uns alle wichtig sind. Beispiel Wasserstoffnetz: Unser Ziel ist es, dass die Gasnetzbetreiber hier jetzt Milliarden in dieses neue, klimaneutrale Wasserstoffnetz investieren. Damit man den Switch hinkriegt, also den Umstieg von Erdgas zu Wasserstoff. Das gilt es klug zu planen, damit Wasserstoff genutzt werden kann, ohne dass diejenigen, die noch Erdgas brauchen, keines mehr kriegen. Diese gigantischen privatwirtschaftlichen Investitionen wird es aber nur geben, wenn wir mit den Unternehmen gemeinsam verabreden, wo dieses Netz gespannt und wie es reguliert wird. Wie seinerzeit beim Bau der Erdgas-Pipelines wird das jetzt bei Wasserstoff gehen. Das ist keine Staatsintervention, sondern kluge Infrastruktur-Politik.

Früher hieß es mit Ludwig Erhard, der Staat solle Schiedsrichter sein und nicht versuchen, Tore zu schießen. Heute empfiehlt ihr Wirtschaftsminister Robert Habeck die Ökonomin Mariana Mazzucato, die vom „unternehmerischen Staat“ schreibt, der auswählen soll, wer in der Wirtschaft gewinnt und wer verliert.

Scholz: Es ist immer sehr ratsam, kluge Bücher zu lesen. Und das privatwirtschaftliche Investment in ein Wasserstoffnetz in Deutschland fände ganz sicher die Zustimmung von Frau Mazzucato, die ich ebenfalls sehr schätze. Es geht darum, den Rahmen dafür zu setzen, dass Unternehmen heute hohe Milliardensummen investieren, die sie dann über vielleicht 30 Jahre hinweg mit Gewinn zurückverdienen.

Geht es Ihrer Regierung nicht doch um mehr als Rahmenbedingungen? Robert Habeck sagt in einem aktuellen Podcast ganz offen, der Staat soll wirtschaftlicher Akteur werden, weil die Rolle des Gesetzgebers allein zu schwach sei …

Scholz: Ich bleibe konkret: Wir haben uns gerade beim Wasserstoffnetz dafür entschieden, eine privatwirtschaftliche Lösung möglich zu machen. Wir werden keine staatlichen Stahlwerke bauen, wir werden keine staatlichen Aluminiumwerke bauen, wir werden keine staatlichen Chemiefabriken bauen und die pharmazeutische Industrie wird ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit auch nicht dadurch weiter ausbauen, dass der Staat sie übernimmt. Das sind alles erfolgreiche privatwirtschaftliche Unternehmen und werden es auch bleiben.

Sie sprechen die Stahlindustrie an. In Duisburg macht Thyssenkrupp einen Vertrag mit dem Staat, wie in Zukunft produziert werden darf und bekommt dafür Milliarden.

Scholz: Das Unternehmen investiert in ein Stahlwerk, das CO2-neutral Stahl produzieren kann. Es setzt dabei auf ein Verfahren, das bisher nur an wenigen Orten erprobt wurde und in dieser Dimension neu ist. Das ist echte Pionierarbeit. Die trauen sich was! Und für diese mutige Investition gibt es staatliche Unterstützung. Wenn dieser Versuch klappt, können bald alle Stahlwerke auf diese Weise umgebaut und klimaneutral werden – auf Dauer natürlich ohne Staatshilfe. Das Gleiche gilt für die Halbleiterindustrie. Das sind milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen, die eine staatliche Begleitung erhalten. Überall auf der Welt! Und auch bei uns. Wobei das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union sicherstellt, dass wir nur das tun, was auch anderen EU-Partnern erlaubt wäre.

Ihr Wirtschaftsminister und seine Partei schwärmen von Investitionsgesellschaften. Die sollte der Staat gründen, um Infrastruktur aufzubauen.

Scholz: Zwei gibt es bereits: Die deutsche Autobahn GmbH und die Deutsche Bahn.

Soll es bei zweien bleiben?

Scholz: Na, denen haben wir ja jetzt erst einmal sehr viel Geld gegeben, damit sie ordentlich investieren können. Das ist auch nötig.

Das heißt, für eine dritte, vierte, fünfte Investitionsgesellschaft ist kein Geld mehr da?

Scholz: Wir haben noch die sehr aktive KfW-Bank. Eine staatliche Bank, die sich dort engagieren kann, wo es sinnvoll ist.

Zusammengefasst wollen Sie für Deutschland: Planungssicherheit, Tempo und Bürokratieabbau. Zwei Tage, nachdem Sie im Bundestag auf die Bürokratie schimpften, ließen sie dort das neue Gebäudeenergiegesetz beschließen: 180 Seiten lang. Dürfen wir Ihnen einen Satz daraus vorlesen?

Scholz: Ich bin gespannt!

Der Betreiber einer mit einem flüssigen oder gasförmigen Brennstoff beschickten Heizungsanlage, die nach Ablauf des 31. Dezember 2023 und vor Ablauf des 30. Juni 2026 im Fall des Absatzes 8 Satz 1 oder vor Ablauf des 30. Juni 2028 im Fall des Absatzes 8 Satz 2 oder vor Ablauf von einem Monat nach der Bekanntgabe der Entscheidung nach Absatz 8 Satz 3 eingebaut wird und die nicht die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, hat sicherzustellen, dass ab dem 1. Januar 2029 mindestens 15 Prozent, ab dem 1. Januar 2035 mindestens 30 Prozent und ab dem 1. Januar 2040 mindestens 60 Prozent der mit der Anlage bereitgestellten Wärme aus Biomasse oder grünem oder blauem Wasserstoff einschließlich daraus hergestellter Derivate erzeugt wird.“ Es geht nur um eine Heizung in einem normalen Haus! Ist das nicht Bürokratismus pur?

Scholz: Nun ja, die besten Gesetze sind die, die man einhalten kann, ohne sie zu kennen. Das Gebäudeenergiegesetz funktioniert so. Die Gemeinden planen jetzt, welches Angebot sie ihren Bürgern für die Wärme-Versorgung machen. Bis sie damit fertig sind, sind die Bürgerinnen und Bürger erstmal zu gar nichts verpflichtet. Und wenn dann in den nächsten 20 Jahren die Erneuerung der Heizung ansteht, werden Sie beim Kauf der neuen darauf achten, dass es eine moderne Heizung ist.

So wie Sie es formulieren, klingt es verständlich. Die Ausgestaltung des Gesetzes bleibt aber eine bürokratische Wundertüte. Wo wollen Sie denn konkret ran, um es den Unternehmen und Bürgern einfacher zu machen?

Scholz: Da fällt mir beim Wohnungsbau viel ein. Da ist die Lage noch so, als müsste jeder einzelne Landkreis bei der Zulassung eines Autos, das komplette Modell von Grund auf neu genehmigen lassen. Und zwar jedes einzelne Exemplar. Dabei wird immer das gleiche Auto gebaut, für das es ja eine generelle Genehmigung gibt. Beim seriellen Bauen wäre eine generelle Genehmigung viel klüger und würde viel Bürokratie sparen. Warum soll ein Haus, dessen Statik komplett berechnet und das feuerpolizeilich durchgeprüft worden ist und alle Bauvorschriften einhält, woanders noch mal von Grund auf neu genehmigt werden müssen? Mir schwebt ein Gesetz vor, das Generalgenehmigungen für einzelne Gebäudetypen schafft. Einmal genehmigt – und dann überall im Land gültig. 16 unterschiedliche Landesbauverordnungen sind vielleicht 15 zu viel.

Mehr Tempo bei Baugenehmigungen ist auch nötig, um das Versprechen Ihrer Regierung einzulösen, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen zu schaffen. Da liegt die Ampel eindeutig hinter Plan. Schaffen Sie bis zum Ende der Legislatur Ihr Versprechen einzulösen?

Scholz: Ich habe Ihnen ja gerade aufgezeigt, wie wir mehr Tempo in den Wohnungsbau bekommen wollen. Gestiegene Baupreise und die Zinserhöhung ändern ja nichts daran, dass wir mindestens 400.000 Wohnungen jedes Jahr bauen müssen, um den bestehenden Bedarf an Wohnungen zu decken.

Ihre Partei, die SPD, hat jetzt einen bundesweiten Mietenstopp vorgeschlagen. Eine gute Idee?

Scholz: Eine der Stärken des deutschen Wohnungsmarktes ist das soziale Mietrecht. Es sorgt dafür, dass die Preise für Wohnungen nicht einfach beliebig angehoben werden können.

Das ist das Nein zum Mietenstopp.

Scholz: Wir haben ganz konkrete Verbesserungen vereinbart in der Koalition, was die Rechte der Mieterinnen und Mieter angeht. Mit Blick auf Preissteigerungen nehmen wir das jetzt in Angriff.

Ihre Fraktion meint auch, Energie sei so teuer geworden, dass die Grundstoffindustrie Deutschland bald verlassen werde, wenn die Regierung nicht den Großteil der Stromrechnung für sie übernimmt.  Ihr Wirtschaftsminister sieht das ebenso. Teilen Sie diese Befürchtungen?

Scholz: Im Wirtschaftsteil der „Welt am Sonntag“ lese ich jede Woche von Unternehmen, die ihren Plan verkünden, bald CO2-neutral zu produzieren. Das ist gut so und das wird nur gehen mit großen Mengen Strom aus erneuerbaren Quellen; möglichst preiswert und überall verfügbar. Die Entscheidungen dafür treffen wir gerade, und die Leitungen bauen wir schon. Mit jeder fertigen Leitung, die Strom aus dem Norden und Osten Deutschlands nach Süden und Westen bringt, sinken die Preise. Wäre der Leitungsbau in der Vergangenheit nicht gezielt verschleppt worden, etwa von der bayerischen Staatsregierung, wären die Preise schon heute deutlich günstiger.

Aber sie sind es noch nicht. Noch ein paar Jahre nicht. Wollen sie nun den Strom für die energieintensive Industrie subventionieren oder nicht?

Scholz: Einen solchen Eingriff in den Markt müssen wir sehr genau wägen, damit er keine ungewollten Folgen hat: Es darf nicht dazu führen, dass dann der Ausbau von Wind- und Solarenergie stockt. Und wie könnten wir es rechtfertigen, dass Unternehmen, die riesige Gewinne machen, von dem Steuerzahler und der Steuerzahlerin subventioniert werden und Deutschland sich dafür stark verschuldet. Sie merken, ich bin etwas zurückhaltend.

Ein klares Nein zu subventioniertem Strom für die Industrie klingt anders. Ist das also ein Aufruf an Ihre Fraktion, Ihnen einen solchen Vorschlag vorzulegen?

Scholz: Es ist doch den Schweiß der Edlen wert, darüber nachzudenken, wie wir am besten die industrielle Entwicklung unseres Landes stärken können.

Es gibt Leute in Ihrer Partei und in der Regierung, die sagen, wenn wir nicht bald eine Lösung für billigen Strom haben, geht die Industrie einfach weg. Daraus ergibt sich die Frage: Bis wann gibt’s eine Entscheidung?

Scholz: Jede Entscheidung müsste im Bundeshaushalt 2024 abgebildet werden……

… also, im November …

Scholz:…  ist zumindest die Haushalts-Bereinigungssitzung im Bundestag terminiert.

Liegt in der Idee, Strom zu subventionieren, nicht doch eine Wahrheit? So viel grünen Strom kann Deutschland gar nicht produzieren und so viel grünen Wasserstoff können wir gar nicht ranschaffen, dass alle Werke hierbleiben. Denn wir sind halt in Deutschland und nicht in Spanien, wo die Sonne fast immer scheint. Bedeutet Dekarbonisierung ehrlicherweise nicht doch zumindest teilweise Deindustrialisierung?

Scholz: Nein, denn alle Länder müssen dekarbonisieren. Das sind auch international verabredete Ziele. Um die Mitte dieses Jahrhunderts wird es zehn Milliarden Erdenbürger geben, die alle nach Wohlstand streben werden. Und wenn sie den Weg einschlagen, den die USA und Europa in den vergangenen beiden Jahrhunderten gefolgt sind, hätte das fatale Konsequenzen für den Planeten. Nun kann die Lösung aber nicht sein, dass wir nun unseren Wohlstand verringern, damit anderswo Wachstum entstehen kann. Im Gegenteil: Wenn wir die nötigen Technologien und Produkte bei uns entwickeln und erfolgreich einsetzen, um den Klimawandel aufzuhalten, wird das unseren Wohlstand mehren und das Wachstum überall auf der Welt unterstützen – ohne unsere Lebensgrundlagen zu bedrohen. Deshalb werbe ich ja für unser Modernisierungsprojekt!

Zugleich hat Ihre Regierung die Klimagesetze abgemildert, die erst 2019 unter Merkel erlassen wurden. War Merkel zu ambitioniert? Oder hat sich die gesellschaftliche Stimmung im Land geändert?

Scholz: Wir haben die Klimagesetze nicht abgemildert, sondern intelligent weiterentwickelt. Ein Beispiel: Ich war gerade auf der IAA Mobility, der großen Automobilmesse in München. Dort haben die drei großen deutschen Fahrzeug-Hersteller E-Autos vorgestellt, die 2025 auf den Markt kommen sollen und den Markt ordentlich aufwirbeln können, weil sie das Segment der Kleinwagen und Mittelklasse bedienen. Die bisherige Gesetzgebung betrachtete alles linear – die Einsparungen mussten Jahr für Jahr gleich sein. Ein Schub wie nun bei den E-Autos, wenn die bald für viele erschwinglicher werden, konnte da nicht abgebildet werden.

Sie haben als Leitlinie für Ihre Klimapolitik den Satz ausgegeben: „Jede einzelne Maßnahme müsste so gestaltet werden, dass sie in einem Referendum der Bürger Zustimmung bekäme.“ Wenn Ihre Vorgänger im Kanzleramt so vorsichtig gewesen wären, hätte Adenauer nicht die Westbindung erreicht, Erhard nicht die Marktwirtschaft, Schmidt nicht die Nachrüstung, Kohl nicht den Euro und Schröder nicht die Agenda. All‘ das war nicht von Anfang an populär, aber richtig.

Scholz: Ich habe nicht vorgeschlagen, ständig Volksabstimmungen zu jedem Aspekt etwa der Klimapolitik durchzuführen. Aber prinzipiell sollten wir uns ein Plebiszit zu unserer Politik zutrauen. Daran halte ich fest: Schon damit wir als politisch Handelnde nicht abheben. Die Politik, die wir machen, müssen wir nicht nur selber richtig finden, sondern auch anderen erklären können.

Die große Mehrheit der Bevölkerung hat die ursprünglichen Pläne zum Heizungsgesetz abgelehnt. War es also in seiner Urfassung zu abgehoben?

Scholz: Jedenfalls haben wir eine Variante gesucht und gefunden, für die es größere Zustimmung gibt – und zwar nicht nur zwischen den Koalitionsparteien, sondern auch bei Expertinnen und Experten. Das Ziel erreichen wir genauso: Dafür zu sorgen, dass wir bis 2045 klimaneutral heizen.

Ihre Koalitionspartner sagen, sobald es ums Klima geht, sitzt bei Olaf Scholz die Angst vor den Gelbwesten mit am Tisch.

Scholz: Unsinn. Ich glaube auch nicht, dass das jemand sagt.

Doch, doch.

Scholz: Unsere Aufgabe ist es, unsere Volkswirtschaft zu modernisieren und in eine klimaneutrale Zukunft zu führen, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger das als eine Verschlechterung ihres Lebens begreifen.

Zum Schluss möchten wie noch auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen kommen. Die Offensive der Ukrainer zur Befreiung ihres Staatsgebietes scheint nur langsam voranzukommen. Sie haben mehr Informationen als andere. Wird dieser Krieg noch viel länger dauern, als wir denken?

Scholz: Wie viele Kriegsherren vor ihm hat sich Putin verschätzt, als er glaubte, der Überfall auf die Ukraine werde eine leichte Übung. Solange dieser Krieg dauert, werden wir die Ukraine unterstützen, darauf sind wir eingestellt. Wie lange der Krieg dauern wird, weiß wohl niemand. Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer können sich unserer Unterstützung sicher sein.

Ihre Regierung ringt mit der Ukraine über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. Wieder sind Sie es, die bremsen, wie schon bei den Panzern. Ihr Argument ist, dass eine abwägende Haltung von einer deutschen Bevölkerung geschätzt wird, die sich mit Waffenlieferungen schwertut. Der Preis dafür aber ist hoch: Die Ukrainer zahlen ihn an der Front, wo die Waffen fehlen, über die Sie so lange reden müssen.

Scholz: Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine – finanziell, humanitär und auch mit Waffen. Und wir sind verlässlich und haben sichergestellt, dass wir auch in den nächsten Jahren weiter helfen können. Das wird in der Ukraine weithin anerkannt. Und gleichzeitig habe ich als Bundeskanzler die Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass wir bei einer so gefährlichen Angelegenheit wie einem Krieg keine falschen Entscheidungen treffen, die fatale Folgen hätten. So verstehe ich meinen Amtseid. Und alle können sich darauf verlassen, dass ich jede Entscheidung sehr genau abwäge.

Bitte vervollständigen Sie folgende drei Sätze:

  1. Der Klimawandel ist in 75 Jahren… auf 1,5 Grad begrenzt.
  2. Künstliche Intelligenz wird in 75 Jahren… ein ganz normaler Teil des Alltags sein und unser Leben unterstützen – der Mensch bleibt aber entscheidend.
  3. Wenn ich in 75 Jahren noch auf der Welt wäre, würde ich… mich wundern.