Gastbeitrag des Kanzlers in der FAZ
Putins Angriff auf die Ukraine hat eine Wirklichkeit geschaffen – auch in Deutschland kann vieles nicht so bleiben, wie es ist. Ein Gastbeitrag von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Frankfurter Allgemeine Zeitung.
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Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Gerade auch dann, wenn sie uns nicht gefällt. Zur Wirklichkeit gehört: Der Imperialismus ist zurück in Europa. Viele hatten die Hoffnung, enge wirtschaftliche Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeiten würden zugleich für Stabilität und Sicherheit sorgen. Diese Hoffnung hat Putin mit seinem Krieg gegen die Ukraine nun für alle sichtbar zerstört. Die russischen Raketen haben nicht nur in Charkiw, Mariupol und Cherson massive Zerstörung verursacht, sondern auch die europäische und internationale Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte in Schutt und Asche gelegt.
Hinzu kommt: Der Zustand unserer Bundeswehr und der zivilen Verteidigungsstrukturen, aber auch unsere allzu große Abhängigkeit von russischer Energie sprechen dafür, dass wir uns nach Ende des Kalten Krieges in falscher Sicherheit gewiegt haben. Allzu gern haben Politik, Wirtschaft und große Teile unserer Gesellschaft weitreichende Konsequenzen aus dem Diktum eines früheren deutschen Verteidigungsministers gezogen, wonach Deutschland nur noch von Freunden umzingelt sei. Das war ein Irrtum.
Nach der Zeitenwende, die Putins Angriff bedeutet, ist nichts mehr so, wie es war. Und deshalb können die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind! Doch allein die Feststellung einer Zeitenwende ist noch kein Programm. Aus der Zeitenwende folgt ein Handlungsauftrag – für unser Land, für Europa, für die internationale Gemeinschaft. Wir müssen Deutschland sicherer und widerstandsfähiger machen, die Europäische Union souveräner und die internationale Ordnung zukunftsfester.
Zur neuen Wirklichkeit gehören die 100 Milliarden Euro, die wir als Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen haben. Sie markieren die größte Wende in der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Wir statten unsere Soldatinnen und Soldaten mit dem Material und den Fähigkeiten aus, die sie brauchen, um unser Land und unsere Bündnispartner in dieser neuen Zeit kraftvoll verteidigen zu können. Wir vereinfachen und beschleunigen das viel zu schwerfällige Beschaffungswesen. Wir unterstützen die Ukraine – und zwar solange sie diese Unterstützung braucht: wirtschaftlich, humanitär, finanziell und durch die Lieferung von Waffen. Zugleich sorgen wir dafür, dass die NATO nicht zur Kriegspartei wird. Und schließlich beenden wir unsere energiepolitische Abhängigkeit von Russland. Bei der Kohle haben wir das schon erreicht. Russische Ölimporte wollen wir bis Jahresende stoppen. Beim Gas ist der Anteil der Einfuhren aus Russland bereits von 55 auf 30 Prozent gesunken.
Dieser Weg ist nicht leicht, auch nicht für ein so starkes, wohlhabendes Land wie unseres. Wir werden einen langen Atem brauchen. Schon jetzt leiden viele Bürgerinnen und Bürger unter den Auswirkungen des Krieges, vor allem unter den hohen Preisen für Benzin und Lebensmittel. Mit Sorge blicken viele auf ihre nächsten Rechnungen für Strom, Öl oder Gas. Finanzielle Hilfen von weit mehr als 30 Milliarden Euro hat die Bundesregierung daher zur Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger auf den Weg gebracht. Die unterschiedlichen Maßnahmen beginnen nun zu wirken.
Doch zur Wahrheit gehört: Die Weltwirtschaft steht vor einer seit Jahrzehnten ungekannten Herausforderung. Unterbrochene Lieferketten, knappe Rohstoffe, die kriegsbedingte Unsicherheit an den Energiemärkten – all das treibt weltweit die Preise. Kein Land der Welt kann sich allein gegen eine solche Entwicklung stemmen. Wir müssen zusammenhalten und uns unterhaken, so wie wir es hierzulande im Rahmen der Konzertierten Aktion zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften, Wissenschaft und politischen Entscheidungsträgern verabredet haben. Dann werden wir, davon bin ich überzeugt, stärker und unabhängiger aus der Krise hervorgehen, als wir hineingegangen sind. Das ist unser Ziel!
Als neue Regierung haben wir früh entschieden, uns so schnell wie nur irgend möglich aus der Energie-Abhängigkeit von Russland zu befreien. Schon im vergangenen Dezember, also zwei Monate vor Kriegsbeginn, haben wir uns mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir im Fall der Fälle die Energieversorgung unseres Landes sicherstellen können. Als Putin im Februar seinen Krieg vom Zaun gebrochen hat, waren wir handlungsfähig. Die Pläne, etwa für die Diversifizierung unserer Lieferanten oder den Bau von Flüssiggas-Terminals, lagen auf dem Tisch. Sie werden nun beherzt angegangen. Vorübergehend und schweren Herzens müssen wir aber Kohlekraftwerke wieder ans Netz nehmen. Für Gasspeicher haben wir Mindestfüllstände festgeschrieben – das gab es zuvor seltsamerweise nicht. Heute sind sie schon deutlich besser gefüllt als im vorigen Jahr um diese Zeit. Zugleich bestärkt uns die aktuelle Entwicklung in unserem Ziel, die erneuerbaren Energien viel schneller auszubauen als bisher. Die Bundesregierung hat deshalb Planungsverfahren etwa für Solar- und Windkraftanlagen erheblich beschleunigt. Und richtig ist auch: Je mehr Energie wir alle – Industrie, Haushalte, Städte und Gemeinden – in den kommenden Monaten einsparen können, desto besser.
Wir gehen diesen Weg nicht allein. Wir sind in der Europäischen Union vereint, mit der NATO in ein starkes Militärbündnis eingebunden. Und wir handeln aus festen Überzeugungen: aus Solidarität mit der existenzbedrohten Ukraine, aber auch zum Schutz unserer eigenen Sicherheit. Wenn Putin die Gaslieferungen drosselt, setzt er Energie als Waffe ein, auch gegen uns. Das hat nicht einmal die Sowjetunion in den Zeiten des Kalten Krieges getan.
Wenn wir Putins Aggression jetzt nichts entgegensetzen, dann könnte er weitermachen. Wir haben das erlebt: 2008 den Einmarsch in Georgien, dann die Annexion der Krim 2014, den Angriff auf den Osten der Ukraine und schließlich, im Februar dieses Jahres, auf das gesamte Land. Putin damit durchkommen zu lassen hieße, dass Gewalt das Recht praktisch folgenlos brechen darf. Dann wären letztlich auch unsere eigene Freiheit und Sicherheit in Gefahr.
„Wir können einen Angriff auf die territoriale Integrität der Alliierten nicht mehr ausschließen.“ Dieser Satz steht im neuen Strategischen Konzept der NATO, das die 30 Verbündeten bei ihrem Gipfel Ende Juni in Madrid gemeinsam beschlossen haben. Wir nehmen ihn ernst, und wir handeln entsprechend. Deutschland wird seine Präsenz im östlichen Bündnisgebiet deutlich aufstocken – in Litauen, in der Slowakei, in der Ostsee. Wir tun das, um Russland von einem Angriff auf unser Bündnis abzuschrecken. Und zugleich machen wir deutlich: Ja, wir sind bereit, jeden Teil des Bündnisgebiets zu verteidigen, und zwar genau so wie unser eigenes Land. Diese Zusage geben wir. Und auf diese Zusage können wir uns umgekehrt von jedem unserer Verbündeten verlassen.
Zur neuen Wirklichkeit gehört, dass auch die Europäische Union in den vergangenen Monaten enger zusammengerückt ist. In großem Einvernehmen hat sie auf Russlands Aggression reagiert und beispiellos harte Sanktionen verhängt. Sie wirken, jeden Tag ein Stück mehr. Und Putin sollte sich nicht täuschen: Dass wir unsere Sanktionen womöglich lange Zeit aufrechterhalten müssen, war uns von Beginn an klar. Und klar ist für uns auch: Bei einem russischen Diktatfrieden wird keine einzige dieser Sanktionen aufgehoben. Für Russland führt kein Weg vorbei an einer Vereinbarung mit der Ukraine, die von den Ukrainerinnen und Ukrainern akzeptiert werden kann.
Putin will unseren Kontinent in Einflusszonen aufteilen, in Großmächte und Vasallenstaaten. Wir wissen, in welche Katastrophen das uns Europäer früher geführt hat. Beim jüngsten Europäischen Rat haben wir daher eine unmissverständliche Antwort gegeben. Eine Antwort, die das Gesicht Europas für immer verändern wird: Wir haben der Ukraine und der Republik Moldau den Status von Beitrittskandidaten verliehen und die europäische Zukunft Georgiens bekräftigt. Und wir haben klargestellt, dass die Beitrittsperspektive aller sechs Länder des Westlichen Balkans endlich Realität werden muss. Dieses Versprechen gilt. Diese Länder sind Teil unserer europäischen Familie. Wir wollen sie in der Europäischen Union. Natürlich ist der Weg dorthin voraussetzungsreich. Das offen zu sagen ist wichtig, denn nichts wäre schlimmer, als Millionen von Bürgerinnen und Bürgern falsche Hoffnungen zu machen. Aber der Weg steht offen, und das Ziel ist klar!
Oft ist in den vergangenen Jahren zu Recht gefordert worden, die EU müsse zum geopolitischen Akteur werden. Ein ehrgeiziger Anspruch, aber ein richtiger! Mit den historischen Entscheidungen der letzten Monate hat die Europäische Union einen großen Schritt in diese Richtung getan. Mit bisher nie da gewesener Entschlossenheit und Geschlossenheit haben wir gesagt: Putins Neoimperialismus darf keinen Erfolg haben. Doch wir dürfen dort nicht stehen bleiben. Unser Ziel muss es sein, auf all den Feldern unsere Reihen zu schließen, auf denen wir in Europa schon zu lange um Lösungen ringen: bei der Migrationspolitik etwa, beim Aufbau einer europäischen Verteidigung, bei technologischer Souveränität und demokratischer Resilienz. Deutschland wird dazu in den nächsten Monaten konkrete Vorschläge machen.
Wir sind uns der Konsequenzen unserer Entscheidung für eine geopolitische Europäische Union sehr bewusst. Die Europäische Union ist die gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie. Deshalb ist sie Machthabern wie Putin solch ein Dorn im Auge. Permanente Uneinigkeit, permanenter Dissens zwischen den Mitgliedstaaten schwächt uns. Deshalb lautet die wichtigste Antwort Europas auf die Zeitenwende: Geschlossenheit. Wir müssen sie unbedingt beibehalten, und wir müssen sie vertiefen. Für mich heißt das: Schluss mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse durch einzelne Mitgliedstaaten. Schluss mit nationalen Alleingängen, die Europa als Ganzem schaden. Nationale Vetos, etwa in der Außenpolitik, können wir uns schlicht nicht mehr leisten, wenn wir weiter gehört werden wollen in einer Welt konkurrierender Großmächte.
Auch global wirkt die Zeitenwende wie ein Brennglas: indem sie bestehende Probleme wie Armut, Hunger, abgerissene Lieferketten und Energieknappheit verschärft. Und indem sie uns die Konsequenzen einer imperialistischen und revanchistischen Machtpolitik ganz brutal vor Augen führt. Putins Umgang mit der Ukraine und anderen Ländern in Osteuropa trägt neokoloniale Züge. Ganz offen träumt er davon, nach dem Modell der Sowjetunion oder des Zarenreichs ein neues Imperium zu errichten.
Die Autokraten der Welt beobachten sehr genau, ob er damit Erfolg hat. Gilt im 21. Jahrhundert das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts? Tritt in unserer multipolaren Welt Regellosigkeit an die Stelle einer multilateralen Weltordnung? Das sind Fragen, die sich uns ganz konkret stellen.
Aus Gesprächen mit unseren Partnern im Globalen Süden weiß ich: Viele von ihnen sehen das Risiko. Und dennoch ist der Krieg in Europa für viele weit weg, während sie seine Folgen ganz unmittelbar zu spüren bekommen. In dieser Lage lohnt es sich, auf das zu schauen, was uns mit vielen Ländern des Globalen Südens verbindet: das Bekenntnis zu Demokratie, so unterschiedlich sie in unseren Ländern auch ausgeprägt sein mag, die Charta der Vereinten Nationen, die Herrschaft des Rechts, Grundwerte von Freiheit, Gleichheit, Solidarität, die Würde eines jeden Menschen. Diese Werte sind nicht an den Westen als geographischen Ort gebunden. Wir teilen sie mit Bürgerinnen und Bürgern überall auf der Welt. Um diese Werte gegen Autokratie und Autoritarismus zu verteidigen, brauchen wir eine neue globale Kooperation der Demokratien – und zwar über den klassischen Westen hinaus.
Damit das gelingt, müssen wir die Anliegen des Globalen Südens zu unseren Anliegen machen, müssen wir Doppelstandards vermeiden und unsere Zusagen gegenüber diesen Ländern einlösen. Zu oft haben wir „Augenhöhe“ behauptet, sie aber nicht wirklich hergestellt. Das müssen wir ändern, und zwar schon deshalb, weil sich viele Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika gemessen an ihrer Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft längst auf Augenhöhe mit uns bewegen. Ganz bewusst habe ich meine Kollegen aus Indien, Südafrika, Indonesien, Senegal und Argentinien jüngst zum G7-Gipfel nach Deutschland eingeladen. Wir sind mit ihnen und vielen anderen demokratischen Ländern dabei, Lösungen zu entwickeln für die Probleme unserer Zeit – die Nahrungsmittelkrise, den Klimawandel oder die Pandemie. Auf all diesen Feldern haben wir beim G7-Gipfel greifbare Fortschritte erzielt. Aus diesen Fortschritten erwächst Vertrauen – Vertrauen auch in unser Land.
Darauf lässt sich aufbauen, wenn Deutschland in dieser schwierigen Zeit Verantwortung für Europa und in der Welt übernimmt. Führen, das kann nur heißen: zusammenführen, und zwar im doppelten Wortsinn. Indem wir zusammen mit anderen Lösungen erarbeiten und auf Alleingänge verzichten. Und indem wir, als Land in der Mitte Europas, als Land, das auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs lag, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenführen.
Deutschland und Europa seien in selbstgewisser Saturiertheit erstarrt, postheroische Gesellschaften, unfähig, ihre Werte gegen Widerstände zu verteidigen – so tönt Putins Propaganda. So urteilten noch vor Kurzem auch manche Beobachter hier bei uns. In den vergangenen Monaten haben wir eine andere, neue Wirklichkeit erlebt.
Die Europäische Union ist so attraktiv wie nie, sie öffnet sich für neue Mitglieder und wird sich zugleich reformieren. Die NATO war selten so lebendig, sie wächst mit Schweden und Finnland um zwei starke Freunde. Weltweit rücken demokratische Länder zusammen, neue Bündnisse entstehen.
Auch Deutschland verändert sich im Licht der Zeitenwende. Sie macht uns bewusst, welchen Wert Demokratie und Freiheit haben – und dass es sich lohnt, sie zu verteidigen. Das setzt neue Kraft frei. Kraft, die wir in den kommenden Monaten brauchen werden. Kraft, mit der wir gemeinsam die Zukunft gestalten können. Kraft, die unser Land in sich trägt – und zwar in Wirklichkeit.