"Der Ball liegt in Athen"

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Im Wortlaut: Gabriel "Der Ball liegt in Athen"

Bundeswirtschaftsminister Gabriel will Griechenland humanitäre Hilfe zukommen lassen. Man dürfe die Menschen nicht für das Handeln der Regierung verantwortlich machen, sagte Gabriel dem "Stern". Die Eurozone sehe er weiterhin "stark und stabil". Er sorge sich jedoch um Europa.

  • Interview mit Sigmar Gabriel
  • Stern
Sigmar Gabriel

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel

Foto: Bundesregierung/Eriksson

Das Interview im Wortlaut:

Stern: Herr Gabriel, ist die Politik gegenüber Griechenland gescheitert?

Sigmar Gabriel: Jedenfalls geht es so nicht mehr weiter. Wir brauchen einen wirklichen Neuanfang und keine Fortsetzung der Endlosschleife von Verhandlungen ohne Ergebnis.

Stern: Können Sie den Wählern denn nach dem "Nein" beim Referendum noch erklären, warum man jemandem helfen soll, der sich offenkundig nicht helfen lassen will?

Gabriel: Sollen wir Kinder und Familien in Not lassen, Kranke ohne Medikamente und Rentner in Armut? Die Bilder, die jetzt drohen, weil Griechenland auf die Zahlungsunfähigkeit zusteuert, werden den Ärger über die griechische Regierung schnell dem Mitgefühl mit den Menschen weichen lassen. Wir dürfen die Menschen nicht verantwortlich machen für die Dummheiten ihrer Regierung.

Stern: Immerhin haben sie diese Regierung gewählt und nun auch noch gestützt.

Gabriel: Ministerpräsident Alexis Tsipras hat das Referendum zur Abstimmung über die "griechische Ehre" gemacht. Er hat Vorurteile geschürt, auch gegen Deutschland. Und er hat seinen Bürgern vorgemacht, ein Nein würde ihm den Verhandlungsspielraum in Europa vergrößern. Das Gegenteil ist der Fall. Jetzt wird alles noch viel schwieriger, weil die alten Hilfsprogramme ausgelaufen und die Probleme in der verlorenen Zeit noch größer geworden sind.

Stern: Und jetzt? Fürchten Sie eine Welle von Bankpleiten?

Gabriel: Die griechische Regierung hätte das fürchten sollen, denn sie wird jetzt - wie es im feinen Bankerdeutsch heißt - über eine "Restrukturierung der Banken" nachdenken müssen.

Stern: Müssen wir demnächst Rosinenbomber schicken?

Gabriel: Ich bin jedenfalls dafür, humanitäre Hilfsprogramme auf den Weg zu bringen, damit keine verzweifelte Situation für viele Menschen in Griechenland entsteht.

Stern: Erleben wir gerade einen Totalschaden für Europa?

Gabriel: Nein. Ich bin sicher, am Ende werden wir einen Ausweg aus der Krise in Griechenland finden. Ein Totalschaden würde nur entstehen, wenn wir der griechischen Regierung einfach nachgeben würden: Geld ohne Bedingungen. Würden wir das machen, mit welchem Recht könnten wir das Italien oder Spanien verweigern? Die Eurozone würde schnell überfordert sein, und am Ende stünde tatsächlich ein Totalschaden: der Zusammenbruch der Eurozone.

Stern: Sollen die Gläubiger mit den Griechen jetzt überhaupt noch verhandeln? Gar über ein drittes Hilfspaket?

Gabriel: Wenn die griechische Regierung mit Vorschlägen kommt, muss man sie auch beraten. Sie muss aber bereit sein, selbst Gegenleistungen zu erbringen, um nicht dauerhaft von den Hilfsleistungen anderer Eurostaaten abhängig zu sein. Denn darum geht es doch: Hilfe zur Selbsthilfe. Nur darüber machen Verhandlungen Sinn.

Stern: Die Europäer haben 240 Milliarden Euro an Hilfskrediten zugesagt, zwei Schuldenschnitte gemacht, es gab unzählige Gipfel. Was ist da schiefgegangen?

Gabriel: Ich glaube, es waren mehrere Dinge: Anders als in Spanien oder in Portugal fehlte es in Griechenland von Anfang an halbwegs funktionierenden staatlichen Strukturen. Es gibt keine ordentliche Steuerverwaltung, kein Grundstückskataster, dafür eine unendlich schwerfällige Bürokratie.

Stern: Deshalb scheitert in Griechenland, was in Italien, Spanien, Portugal möglich war?

Gabriel: Das ist ein wesentlicher Grund. Der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und die Bekämpfung der Korruption müssten jetzt eigentlich im Mittelpunkt aller Hilfsprogramme stehen. Aber es ist nicht der einzige Grund. Immer nur sparen bringt kein Land aus der Krise. Zig Millionen Arbeitslose, darunter viele junge Menschen, zeigen ja auch, dass die alte Krisenpolitik gescheitert ist.

Stern: Sie ist doch längst korrigiert.

Gabriel: Das ist ja das Bittere: dass die griechische Regierung ausgerechnet in dem Moment die Verhandlungen abgebrochen hat, wo wir endlich eine Abkehr von dieser reinen Sparpolitik erleben. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker und der -Parlamentspräsident Martin Schulz haben dafür gesorgt, dass in Bildung, Forschung, Wachstum und Arbeit investiert wird. Reformen und Investitionen: Diese Formel hat auch Deutschland aus der Krise geführt.

Stern: Können die Griechen nicht? Oder wollen sie nicht?

Gabriel: Egal, welche Partei an der Regierung war: Wenn mal die eigene Klientel gefordert war und auch die Reichen mitmachen sollten, wurden alle Reformen verschleppt. Seit Jahren sagen wir Sozialdemokraten: Seht euch mal das deutsche Beispiel des Lastenausgleichs an. Da missten nach 1945 auch die Wohlhabende denen helfen, die alles im Krieg verloren Latten. Stattdessen werden die Steuerhinterzieher in Griechenland bis heute verschont. Es ist doch unfassbar, dass in den letzten Wochen täglich eine Milliarde Euro ins Ausland verschoben wurde. Bezahlt von der Europäischen Zentralbank, verbürgt durch die Steuerzahler Europas.

Stern: Kann Griechenland überhaupt aus eigener Kraft existieren?

Gabriel: Ja, aber dafür muss sich vieles ändern. In Griechenland und auch in Europa. Die Aufnahme Griechenlands in den Euro ist aus heutiger Sicht sehr naiv erfolgt.

Stern: Es war die rot-grüne Koalition, die das vorangetrieben hat.

Gabriel: Ebenso wie viele Konservative in Europa. Schlimmer ist aber, dass alle viel zu lange zugeschaut haben. Jetzt ist der Weg viel mühseliger.

Stern: Wird es ohne Schuldenschnitt gehen?

Gabriel: Wenn wir jetzt einfach Schulden streichen, ohne dass sich in Griechenland vieles grundlegend ändert, ist gar nichts gewonnen.

Stern: Der Internationale Währungsfonds schlägt ihn aber vor.

Gabriel: Zuerst muss man mal wissen, dass Griechenland von vielen Zinszahlungen ja ohnehin schon auf Jahre befreit ist. Noch mal: Ich finde, dass man über die Möglichkeiten, die Schulden zu verringern, erst dann reden kann, wenn die griechische Regierung auch zeigt, dass sie Reformen umsetzt. Sonst steigen die Schulden am Tag nach dem Schuldenschnitt doch sofort wieder.

Stern: Lässt sich der Grexit noch vermeiden?

Gabriel: Ja, wenn die griechische Regierung bereit ist, auch die Sorgen der anderen 18 Mitgliedsstaaten der Eurozone zu akzeptieren. Denn die müssen sich auch vor ihren demokratisch gewählten Parlamenten und vor ihrer Bevölkerung verantworten. Der Ball liegt wirklich in Athen.

Stern: Der Historiker Heinrich August Winkler hat im letzten Stern gesagt, die Eurozone würde durch ein Ausscheiden Griechenlands stabilisiert. Hat er recht?

Gabriel: Wir sollten weg von der "Rein oder raus"-Rhetorik. Die Stabilität des Euro würde nur durch eines wirklich beschädigt: wenn wir ohne nachhaltige Reformen einfach Geld in ein Land pumpen. Wir müssen die Debatte umdrehen: erst fragen, was ist in Griechenland nötig? Wie kommt das Land wieder auf einen Wachstumspfad? Und was ist nötig, damit es irgendwann ohne Hilfsprogramme auskommt?

Stern: Es ist keine besonders intelligente Politik in Sachen Griechenland gemacht worden, oder?

Gabriel: Jedenfalls keine erfolgreiche, das sehen wir doch.

Stern: Angela Merkel hat sich sehr stark gemacht für die Rettung Griechenlands. Empfinden Sie klammheimliche Freude, dass sie gescheitert ist?

Gabriel: Nein. Und Griechenland ist weder an Angela Merkel gescheitert noch an seiner derzeitigen Regierung. Das Land ist über Jahrzehnte Beute seiner politischen und wirtschaftlichen Eliten gewesen. Die Zeche müssen die kleinen Leute zahlen. Der eigentliche Skandal ist doch, dass alle in Europa jahrelang tatenlos zugeschaut haben. Natürlich gab es in der deutschen Politik viele Wendungen. Erst hieß es: Keinen Cent für Griechenland, dann kam das erste Hilfspaket. Dann hieß es: Niemals Euro-Bonds, die wurden dann heimlich über die EZB eingeführt. Das war alles nicht sehr geradlinig. Aber was hilft es den Menschen, wenn wir jetzt darüber eine parteipolitische Auseinandersetzung führen? Nichts. Also sollten wir unsere Kraft in eine bessere Politik investieren.

Stern: Sie haben ja Alexis Tsipras zunächst auch als Chance gesehen.

Gabriel: Ja, weil er nicht in diesem korrupten System verhaftet war. Er hätte ein gerechtes Steuersystem aufbauen oder einen fairen Lastenausgleich starten können. Nichts ist passiert, nicht einmal den Militärhaushalt hat er entscheidend gekürzt. Tsipras hat eines nie verstanden: Wenn er versucht, die gesamte Eurozone auf den Kopf zu stellen, geht das nur zulasten seiner Bevölkerung. Genau das ist jetzt passiert.

Stern: Hat die Griechenlandkrise Folgen für uns?

Gabriel: Die Eurozone ist stark und stabil. Wir handeln nicht, weil wir selbst Sorgen haben. Wir müssen uns Sorgen um Europa machen. Wir können uns nicht ewig weiter im Kreis drehen. Griechenland ist zwar wichtig, aber gemessen an den anderen Problemen absorbieren diese endlosen Verhandlungen viel zu viel Kraft.

Stern: Wofür würden Sie diese Kraft lieber aufwenden?

Gabriel: Für die Ukraine zum Beispiel. Und ganz oben steht bei mir das Flüchtlingsdrama. Da verliert Europa gerade etwas, das viel wichtiger ist als Geld; es verliert seine humane Orientierung. Es ist eine große Schande, dass sich knapp die Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten weigert, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen. Europa ist keine Schönwetterveranstaltung, wo man das Geld nimmt, aber sich drückt, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Da gehen die Werte Europas zu Bruch. Das ist teurer als alles andere.

Stern: Sie haben sich immer wieder für eine Besteuerung der Finanzmärkte eingesetzt. Ist die sinnvoll, auch wenn nicht alle Länder dabei mitziehen?

Gabriel: Dann machen wir mit den Ländern den Anfang, die das Konzept mittragen. Auch wenn es viele nicht mehr hören wollen: Die Besteuerung der Finanzmärkte ist schon aus moralischen Gründen nötig. Ich kann niemandem erklären, dass wir Milliarden für die Rettung der Finanzmärkte ausgegeben haben, dass die Burschen aber keinen Cent zurückzahlen. Außerdem müssen wir den Kampf gegen jede legale Form der Steuerhinterziehung aufnehmen, durch die Europa jedes Jahr 1,5 Billionen Euro verliert. Jeder Bäckermeister in Berlin zahlt höhere Steuersätze als Amazon, Google, Starbucks.

Stern: Sie wollen sich mit den Großen anlegen?

Gabriel: Ich bin kein Illusionist. Von diesen Steuervirtuosen bekommen wir nie 100 Prozent, aber vielleicht 10 oder 20 Prozent. Dazu müssten wir uns nur auf gleiche Grundlagen der Besteuerung in Europa einigen, nicht mal auf gleiche Sätze. Wenn wir dafür nicht den Mut haben, werden wir Probleme immer nur beschreiben, nie lösen.

Stern: Welche Lehren muss Europa aus dem Fall Griechenland ziehen?

Gabriel: Nie wieder wegschauen, wenn sich ein Land nicht an die Spielregeln in Europa hält. Das gilt übrigens nicht nur für finanzielle Fragen. Wir dürfen auch nicht wegschauen, wenn in Ungarn die demokratischen Spielregeln Europas verkommen. Oder wenn in EU-Staaten Bevölkerungsgruppen wie die Sinti und Roma so schwer diskriminiert werden, dass ihnen nur die Flucht bleibt. Offen und rechtzeitig über die Probleme reden, um sie gemeinsam zu lösen - das ist die Lehre.

Stern: Und das Geld, um die Probleme zu lösen, drucken wir?

Gabriel: Nicht wegschauen spart viel Geld!

Das Interview führten Andreas Hoffmann und Andreas Hoidn-Borchers mit Sigmar Gabriel für den

.