Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Joschka Fischer,

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"Deutschland auf Wachstumskurs halten,
die soziale Erneuerung unseres Landes fortsetzen,
standhaft für den Frieden –
Für Arbeit, Sicherheit und Menschlichkeit"

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Wenn man heute Morgen Frau Merkel und ganz besonders Herrn Westerwelle sorgfältig zugehört hat, hat man erfahren, dass die Opposition schon gewonnen hat. Hier sitzt der bayerische Ministerpräsident, der immer noch tief traumatisiert ist. Sie dürfen nicht vergessen, dass er noch heute versucht, eine Flasche Champagner zu öffnen. Manche sind schon vorher Wahlsieger gewesen und haben um Mitternacht immer noch in die Kamera gewunken, obwohl sie da schon verloren hatten.

Schauen wir uns die gegenwärtige internationale Lage an: Wir haben es mit explodierenden Benzin- und Energiepreisen zu tun. Amerika erleidet eine furchtbare Tragödie. Wir bekommen mit, dass sich ganz offensichtlich global eine Veränderung vollzieht, die tief einschneidet – auch in die Zukunft der Arbeitsplätze und in die Positionierung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Nur, der Vorredner hatte dazu nichts zu sagen.

Frau Merkel, wer ist denn in Ihrem Kompetenzteam dafür zuständig?

Die Kanzlerkandidatin spricht davon – das war das Erste, was Sie erklärt haben, Frau Merkel –, dass die Zukunft ihre Zukunft ist. Dann wollen wir diese Zukunft einmal betrachten. Ich meine, entscheidend für die Zukunft der Arbeitsplätze wird die Energiefrage sein. Wir sind da sehr gut positioniert. Ich war jüngst an der Technischen Hochschule in Aachen. Dort werden Motoren für den weltweiten Einsatz entwickelt, unter anderem der Hybridmotor. Wenn ich dann aber mitbekomme, dass Volkswagen in diesen Tagen ein neues Modell vorstellen will – einen Dinosaurier aus dem oberen Preissegment mit 25 Litern Verbrauch –, während der Hybridmotor, der an dem Institut in Aachen entwickelt wurde, von Toyota umgesetzt wird, ist das für mich eine Entwicklung, die wir so nicht zulassen dürfen. Wenn sich hier andere auf den Weg machen, wird uns das Arbeitsplätze kosten. Da kann Herr Westerwelle Steuersenkungen rauf und runter durchdeklinieren. Das sind die entscheidenden Zukunftsfragen.

Schauen wir uns doch einmal die Realität an: Ich war jüngst in Ostwestfalen, in einer Kommune, die einen Bürgermeister von der Christlich Demokratischen Union hat. Dort wurde ein Zentrum für erneuerbare Energien eingeweiht. Der verantwortliche Unternehmer sagte mir, in Nordrhein-Westfalen gebe es faktisch eine Totalblockade bei den erneuerbaren Energien. Da kann ich nur sagen: Wir haben mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, mit Jürgen Trittin, zur Weltspitze, zu Japan, aufgeschlossen. Wenn diese Zukunftstechnologie aber jetzt, wie in Nordrhein-Westfalen, aus ideologischen Gründen nicht umgesetzt wird – angesichts explodierender Energiekosten wird sie sich schneller rentieren, als selbst wir es angenommen haben; wir waren weiß Gott Optimisten –, dann wird die Vergangenheit die Zukunft definieren. Das ist das Letzte, was unser Land brauchen kann.

Sie wollen Kanzlerin werden, Frau Merkel. Dafür ist entscheidend, dass Sie die strategischen Linien definieren. Nach der großen Tragödie in den USA ist noch nicht absehbar, was die Konsequenzen sind. Aber dieses Land hat immer mit sehr viel Pragmatismus und Entschlossenheit auf solche Herausforderungen reagiert. Es wird dort sicher Konsequenzen in der Energie- beziehungsweise Klimaschutzpolitik geben. Das hat sich vorher schon abgezeichnet. Die Explosion der Benzinkosten in den USA hat schon vorher zu einer Diskussion über den Verbrauch bei den Automobilen geführt. Wer die politische Szene in den USA kennt, weiß, dass das dort extrem ungewöhnlich ist.

Wenn die USA ein neues "Manhattan-Projekt" auflegen, dann werden wir mit Merkel und Westerwelle unsere Spitzenposition garantiert sehr schnell einbüßen. Dann brauchen wir, weil wir dann Arbeitsplätze verlieren, über einen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit selbst mit Ihren fantastischen Steuervisionen überhaupt nicht mehr zu diskutieren; dann werden wir weit zurückfallen. Wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen. Das heißt, dass wir uns hier mehr anstrengen müssen und nicht den Rückwärtsgang einlegen dürfen.

Wir müssen alles tun – das werden und wollen wir tun –, um eine Verbrauchsreduzierung zu erreichen. Autos mit Hybridmotor – also mit einem Elektromotor und mit einem konventionellen Ottomotor – dürfen doch nicht nur von Toyota exportiert werden. Toyota exportiert in die USA so viele Autos mit Hybridmotor – verbrauchsarm, schadstoffarm! –, wie Audi dorthin Autos mit konventionellen Antrieben liefert. Dieser Drittmarkt ist für die Arbeitsplätze entscheidend. Ich kann nur sagen: Da müssen wir Acht geben.

Darüber hinaus müssen wir jetzt in die Biotreibstoffe hinein. Ich dachte, ich höre nicht richtig, als ich in der "Tagesschau" vor dem formidablen Duell, das Frau Merkel ja, wie ich überall gelesen habe, gewonnen hat – man merkt es nur nicht –, vom Präsidenten des Verbands der Automobilindustrie, Professor Gottschalk, einem in der Wolle gefärbten Grünen, erfahre: Wir brauchen mehr Biotreibstoffe. – Recht hat er. Wir werden die Weichen dafür stellen. Die grüne Zapfsäule muss an jede Tankstelle. Es kann doch nicht sein, dass die in Brasilien weiter sind als wir. Weg vom Öl ist die entscheidende Zukunftsfrage für den Automobilstandort Deutschland.

Das sind die Fragen, die Arbeitsplätze bringen werden. Wir haben 30.000 Arbeitsplätze allein bei der Windenergie geschaffen. Die stellen Sie infrage. Jetzt kommen Sie und sagen, Sie wollen eine Kappung. Vergleichen Sie einmal die Situation dort, wo es eine Kappung gibt – in Italien und Großbritannien –, mit unserem System, dann werden Sie sehen, was Investitionen mobilisiert.

Sie wissen genau: Die Windenergieförderung ist degressiv, sie wird abgebaut werden. Das heißt, die Windenergie muss sich rentieren. Ich glaube, dass angesichts der Entwicklung der Energiepreise die Förderung schneller abgebaut werden kann, als alle angenommen haben.

Nur, man muss den Menschen auch sagen: Zwar gehen in die Energiepreise auch spekulative Bestandteile ein, aber noch viel wichtiger ist das Folgende – ich als Außenminister bekomme das mit –: Seit ungefähr zwei, drei Jahren trifft man chinesische oder indische Delegationen beziehungsweise Unternehmen auch dort an, wo sie vorher nicht gewesen sind. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Energiepreise. Schauen Sie sich etwa die Entwicklung des Kupferpreises an. Chile hat Jahrzehnte unter einem sich abwärts entwickelnden Kupferpreis gelitten; nun haben wir eine völlige Umkehrung erlebt. Diese Entwicklung schließt die Jutepreise, überhaupt alle Rohstoffpreise ein. Reden Sie mit Vertretern des Mittelstandes, dann werden Sie merken, dass der Druck der Rohstoffpreise für unsere Wirtschaft eine enorme Bedeutung hat!

Das zeigt, dass Globalisierung eben nicht nur bedeutet: Wir produzieren und exportieren und bekommen somit das Geld, das wir für Rohstoffe aufgewendet haben, zurück; wir reisen in exotische Länder. Vielmehr bedeutet Globalisierung, dass sich große Nationen auf den Weg gemacht haben. Das wird zu einem dauerhaften Anstieg der Rohstoff- und Energiepreise führen. Was hat Frau Merkel heute zu dieser entscheidenden Zukunftsfrage zu sagen gehabt?

Wir haben die besten Ingenieure, die besten Facharbeiter, hervorragende Universitäten und das nötige Kapital. Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Weichen so stellen, dass es in Richtung rückwärts geht, dann werden wir auch rückwärts fahren und werden Arbeitsplätze in großer Zahl verlieren. Genau das darf es nicht geben und deswegen müssen wir die ökologische und soziale Erneuerung vorantreiben.

Zur Gentechnik, zu Guido Westerwelle und der Gentechnik. Er meint, es sei für mich ein Problem, was und wie viel ich esse. – Ja, das ist mein Problem. Aber wenn ich Ihnen zuhöre, ist ebenfalls mein Problem, was Sie reden. Das ist nicht immer klug, Herr Westerwelle; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Ich rede jetzt von gentechnisch manipulierten Bestandteilen von Nahrung. Lassen Sie da doch den Markt entscheiden! Sie sind doch der Apostel der freien Marktwirtschaft. Sie reden doch immer davon, dass der Konsument mehr Freiheit braucht. Ist es denn dann ein Akt der Bürokratisierung, wenn wir die Kennzeichnungspflicht haben? Als Verbraucher sage ich Ihnen schlicht und ergreifend: Ich kaufe das nicht. Damit ich diese Entscheidung überhaupt treffen kann, muss aber auf der Packung draufstehen, was drin ist. Ich bin dafür, dass wir das klar kennzeichnen. Das hat nichts mit Bürokratie zu tun.

Sehen Sie, Herr Westerwelle: Selbst die Kanzlerin klatscht; selbst die CDU/CSU ist überzeugt und hat Beifall geklatscht.

Ich komme jetzt wieder zurück zur Gentechnik und zur Freisetzung beziehungsweise unserer gesetzlichen Regelung. Wenn Saatgutfirmen so überzeugt davon sind, dass es notwendig ist, gentechnisch manipuliertes Saatgut freizusetzen, und wenn Sie so überzeugt davon sind, dass es sicher ist: Wieso wollen Sie dann die Staatshaftung einführen? Ich bin der Meinung, dass diese Firmen sich auf dem Versicherungsmarkt die Deckung besorgen sollten. Dann könnten wir auch feststellen, für wie sicher sie das Ganze wirklich halten.

Sie haben eine Politik der Ehrlichkeit versprochen. Die Politik der Ehrlichkeit müsste so aussehen, dass Sie und Herr Kirchhof sagen müssten, was Sie wirklich wollen. Da kann ich Ihnen nur sagen: Ich finde, Ihr Hinweis auf Reagan lässt tiefer blicken, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Wenn man es ernst nehmen soll, dass Sie Professor Kirchhof als den neuen Ludwig Erhard der CDU bezeichnen, Frau Merkel, dann müssen Sie auch die Konsequenzen vor den Wahlen offen aussprechen. Da will ich Ihnen sagen: Das wird eine Grundsatzentscheidung. Ich weiß nicht, wie weit Ihre Partei den Leipziger Parteitag tatsächlich ernst genommen hat.

Dann kam Ihre Kirchhof-Entscheidung und nun Ihr Reagan-Zitat, das scheinbar bedeutet: Mir selbst fällt nichts ein, also muss ich eine Anleihe machen. – Nein, es geht nicht um dieses Zitat. Es geht um eine gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidung. Dazu will ich Ihnen etwas vom bayerischen Finanzminister Kurt Faltlhauser vorlesen. Er hat am 29. April 2004 hier im Deutschen Bundestag gesagt:

"Es gibt hier aber eine Differenz zu dem, was der immer wieder zitierte Professor Kirchhof vorgelegt hat. Dieser hat eine Flat Tax von 25 Prozent vorgeschlagen."

Jetzt kommt es:

"Ich erkläre für mich ausdrücklich, dass ich in der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland eine Flat Tax für nicht vertretbar halte."

Und weiter:

"Für mich ist die Progression der Einkommensteuer ein Kernpunkt unseres Sozialstaatsprinzips."

Ich muss Ihnen sagen: Das ist die gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidung. Das müssen die Menschen draußen wissen.

Der Bundeskanzler hat völlig Recht, wenn er sagt, dass wir den Sozialstaat erneuern müssen und dass die sozialen Sicherungssysteme auf unsere immer älter werdende Gesellschaft und auf die neue Wettbewerbssituation ausgerichtet werden müssen. Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, in der wir den Individualismus sozusagen zum obersten Prinzip erklären und in der sich die starken von den schwachen Schultern verabschieden. Für mich war der Kern der Sozialstaatsorientierung der Union seit Adenauer immer das Festhalten an diesem Prinzip. Angesichts dessen, was Sie wollen, sage ich Ihnen – ich habe Ihnen sehr sorgfältig zugehört –: Sie sind das Gegenteil von neuer Ehrlichkeit.

Wenn Sie wirklich den Mut hätten, zu sagen, was Sie wollen und was Sie für notwendig halten, dann würden Sie sagen, dass Sie den Sozialstaat für überholt, für zu teuer und für eine die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schädigende Einrichtung halten. Aber das sagen Sie nicht, sondern Sie lassen es Kirchhof sagen. Sie selbst deuten es nur an. Es ist eine gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidung. Diese neokonservative Wende der Union soll am 18. September eine Mehrheit bekommen. Dazu sage ich Ihnen: Das darf nicht sein.

Nun zur Gesundheitsreform. Da bin ich ideologisch überhaupt nicht festgelegt. Ich hatte gedacht, dass ein Prinzip auch für die Union gilt – für die FDP allerdings nicht; denn die FDP möchte eine Vollprivatisierung; das heißt, am Ende bleibt eine Basisversicherung, die privaten Versicherungen müssen dann jeden akzeptieren; das wäre eine Armenversicherung und würde, wenn man das zu Ende denkt, die Übernahme der Sozialhilfe in das Gesundheitssystem bedeuten, das ist völlig klar – und dass dieses auch in Zukunft gelten sollte: das Prinzip der Belastung nach der Leistungsfähigkeit, dass sich also Beiträge und Besteuerung an der Leistungsfähigkeit orientieren und dass stärkere Schultern stärker herangezogen werden. Ich möchte, dass dieses Kernprinzip des Sozialstaats auch in Zukunft gilt.

Ich will euch etwas sagen: Ich bin aus Überzeugung freiwillig gesetzlich versichert und zahle gegenwärtig einen Krankenkassenbeitrag von etwa 500 Euro. Nach dem Merkelschen Modell würde ich um knapp 400 Euro entlastet. Da kann ich nur sagen: Das wird die Wirtschaft ankurbeln! Da wird der Fischer investieren, dass es kracht! Nein, es ist überhaupt nicht einzusehen, warum mein Fahrer, der genauso alt ist wie ich, belastet wird und ich entlastet werde. Das macht überhaupt keinen Sinn.

Nun zur Kinderversicherung. Der Spitzensteuersatz soll weiter gesenkt werden, aus Gründen, die ich nicht kenne. Das wird unsere Wettbewerbsfähigkeit überhaupt nicht verbessern. Sie wollten ihn auf 36 Prozent senken und haben das alles sauber berechnet, allerdings in der Luft und nicht in der Realität. Jetzt kommt die Begründung, dass die Reichen für die Kinderversicherung herangezogen werden sollen. Das kann dann aber nicht nur für die gesetzliche Versicherung gelten; denn damit werden Sie in Karlsruhe scheitern. Selbstverständlich werden Sie dann alle Kinder entsprechend zu finanzieren haben; das ist doch völlig klar. Dafür fehlen Ihnen 16 Milliarden Euro, Frau Merkel. Da kann ich Ihnen nur sagen: Angesichts dieser fehlenden 16 Milliarden Euro werden Sie wieder auf die Mehrwertsteuererhöhung zurückkommen.

Ich frage mich, welchen Sinn das macht. Wenn wir der Meinung sind, wir sollten eine steuerliche Zuführung vornehmen, dann bin ich jederzeit bereit, darüber zu diskutieren. So, wie wir es bei der Rentenversicherung getan haben, könnten wir auch hier unvoreingenommen über die Frage einer steuerlichen Zuführung diskutieren. Warum Sie aber das Prinzip, dass sich die Höhe der Beiträge nach der Leistungsfähigkeit richtet, aufgeben wollen, verstehe ich nicht. Das Tollste ist der Sozialausgleich! Da kann ich Ihnen nur sagen: Fahren Sie doch in die Schweiz und schauen Sie sich doch einmal die Realität an! Und da kommen die Meister der Entbürokratisierung und sind dabei, einen Dinosaurier der Bürokratisierung zu schaffen: 30 Millionen Versicherungspflichtige, die heute in der gesetzlichen Krankenversicherung sind – das müssen die Versicherten wissen –, werden dann Anträge schreiben, sie werden Sozialleistungsbezieher werden.

Liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren von der Union, ich kann nur sagen, das hat alles keinen Sinn! Das wird eines der besten Gesundheitssysteme, eines der solidarischsten Gesundheitssysteme gefährden und letztendlich ruinieren. Wir dagegen halten an ihm fest. Bei einer immer älter werdenden Gesellschaft brauchen wir eine gewisse Abkopplung der Finanzierung des Gesundheitssystems von den Arbeitskosten; das haben wir mit unserer Reform schon gemacht. Da bin ich sehr dafür. Da ist ein Wachstumsmarkt, da hätte ich mir gewünscht, dass die FDP und auch Sie Ihren Widerstand gegen die Aufhebung des Mehrfachbesitzverbotes bei Apotheken aufgeben. Wozu brauchen wir die Kassenärztlichen Vereinigungen? Das bezahlen alles die Versicherten. Das wart alles ihr! An diesem Punkt bin ich sehr dafür, die Konsequenzen daraus zu ziehen: mehr Wettbewerb im System und nochmals eine Überprüfung, auch dessen, was den Pharmaunternehmen wirklich garantiert wird. Ich meine, die sind da zu gut weggekommen.

Aber der entscheidende Punkt ist doch ein anderer: Wenn es richtig ist, dass wir immer älter werden und gleichzeitig die Erwerbsbiografien immer prekärer werden, dann dürfen wir doch die Solidarität mit den Behinderten, mit den Chronikerinnen und Chronikern, mit den Kinderreichen, mit den Alten und Armen nicht bei den gesetzlich Versicherten abladen, sondern müssen sie auf alle Schultern verteilen. Das ist für mich ein Schritt nach vorne und deswegen ist die Bürgerversicherung die richtige Antwort.

Frau Merkel, Ihre Amtszeit wird sich durch Wunder auszeichnen. Wenn ich mir anschaue: Mehrwertsteuererhöhung um zwei Prozentpunkte, das wird die Konjunktur richtig brummen lassen! Daraus wollen Sie die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung finanzieren. Die Ministerpräsidenten der CDU/CSU hauen sich jetzt schon wie die Kesselflicker, wie viel sie zum Stopfen der Haushaltslöcher bekommen.

Zweiter Punkt also: Sanierung der Länderhaushalte.

Dritter Punkt: steuerfinanzierte Kinderversicherung; 16 Milliarden Euro. Jetzt sind Sie schon im Bereich des Wunders angekommen. Das werden Sie aus den zwei Prozentpunkten niemals herausbekommen!

Schließlich der vierte Punkt: Senkung der Ökosteuer.

Da kann ich nur sagen: Solche Versprechungen hat nicht einmal der Papst bei seinem Besuch hier in Deutschland gemacht; das hat er sich nicht zugetraut. Da stellt man doch fest: Das ist doch hinten und vorne ideologiegetrieben! Das wissen Sie auch. Das ist doch völlig klar: Der kirchhofsche Einheitssteuersatz oder Ihre Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 39 Prozent – was ökonomisch keinen Sinn macht –, das wird letztendlich zulasten der kleinen Leute finanziert. 40 Milliarden Defizit im ersten Jahr, das haben wir in Amerika erlebt, das haben wir in England erlebt: Erst heißt es: "Runter mit den Steuern!", und dann heißt es: "Defizite müssen weg!" Und die kommen weg: vor allen Dingen in den Sozialetats, bei Bildung und Ausbildung, bei den kleinen Leuten. Da kann ich Ihnen nur sagen: Das, was Sie wollen, ist eine Gesellschaft des kalten Herzens. Das ist das Gegenteil von dem, was wir wollen.

Vorfahrt für Kinder! Ich würde mir wirklich wünschen, Sie würden wirklich Politik für junge Frauen in unserem Land machen. Renate Schmidt und wir haben das gemacht. Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir vier Milliarden Euro in die Hände genommen. Hoffentlich – Herr Ministerpräsident – geben Sie das alles an die Kommunen weiter und nutzen es nicht zur Sanierung der Länderhaushalte.

Der entscheidende Punkt bei der Entlastung bei der Sozialhilfe ist, dass investiert wird, vor allen Dingen in die Betreuung der unter Dreijährigen. Aber ich sage hier auch ganz offen – bei allem, was es auch an vernünftigen Vorstellungen von Elterngeld und Ähnlichem gibt; –: Wir müssen doch nur über den Rhein schauen! Frankreich ist doch nicht wesentlich reicher als wir. Aber dort ist seit vielen Jahren ein Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr selbstverständlich. Wir wollen niemanden diskriminieren. Wenn sich jemand entscheidet, zu Hause zu bleiben, dann ist das eine Entscheidung, die voll zu akzeptieren und zu unterstützen ist. Aber es muss aufhören, dass letztendlich den jungen Eltern und den jungen Frauen – dazu haben Sie nichts gesagt – die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ins Kreuz gehängt wird. Wie viele Alleinerziehende sind in die Sozialhilfe gedrückt worden, nur weil die Betreuung nicht funktioniert hat? Das darf es in unserem Land nicht geben.

Deswegen sage ich den jungen Eltern: Am 18. September steht eine Entscheidung an über eine der, wie ich denke, wichtigsten Zukunftsreformen: nämlich den gesetzlichen Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr. Ohne diesen wird es nicht wirklich funktionieren. Deswegen bin ich unbedingt dafür, dass wir das machen.

Ich kann nur sagen: Neben dieser sozialpolitischen Entscheidung mache ich mir am meisten über die Außen- und Sicherheitspolitik Sorgen. Schauen wir uns die Entwicklung an. Ich habe vorhin gesagt: Wir wissen nicht, wie dieses große, für uns so bedeutende Land USA reagieren wird. Wird es sich nach innen orientieren? Was wird das dann für Frieden und Stabilität in unserer Nachbarregion bedeuten? So wie während des Kalten Krieges für den Westen Berlin Zentrum von Freiheit und Sicherheit war, so ist jetzt die Stabilität des Mittelmeerraums die entscheidende Frage für unsere Sicherheit, nämlich ob wir ein Mehr der Kooperation oder der Konfrontation bekommen.

Diese Region steht heute vor großen Herausforderungen. Ich bin froh, dass die mutige Entscheidung der israelischen Regierung, sich aus Gaza zurückzuziehen, dazu führen kann und hoffentlich dazu führen wird, dass weitere politische Verhandlungsschritte folgen, sodass dieser lange tragische Konflikt zwischen zwei Nachbarvölkern beigelegt wird und es zu einem dauerhaften Ende von Terror und Gewalt kommt und Israel und Palästina friedlich Seite an Seite leben.

Aber der entscheidende Punkt ist für mich ein anderer. Wir haben in dieser Region eine Kumulation von großen Gefahren. Ich darf Sie nur daran erinnern, dass die Entwicklung im Irak alles andere als gut verläuft. Ich mache mir da große Sorgen, obwohl wir nicht für den Krieg waren. Aber die negativen Konsequenzen werden Kriegsbefürworter und Kriegsgegner gleichermaßen zu tragen haben. Keiner denke, die Terrorgefahr wäre für uns keine Gefahr.

Große Teile der Bevölkerung in der arabischen Welt sind unter 18 Jahren. Dort herrscht eine Modernisierungsblockade. Wir haben Entwicklungen auf der arabischen Halbinsel und auch im Irak. Das iranische Nuklearprogramm, das keinerlei Sinn macht, darf ebenfalls nicht vergessen werden. Wir wissen nicht, wie sich die USA in den kommenden Monaten orientieren werden. In dieser Situation wird es entscheidend sein, dass wir unsere Sicherheitsinteressen und nicht innenpolitische Wahlinteressen an die erste Stelle stellen. Von einer, die Kanzlerin werden will, erwarte ich das.

Wenn das eine Minderheitenposition ist, dann bedeutet Führung, wenn man diese Position für richtig hält, daraus eine Mehrheitsposition zu machen. An diesem Punkt lautet die entscheidende Frage: Gelingt es, dass ein großes muslimisches Land den Weg von Demokratie, Frauen- und Menschenrechten, Rechtsstaat, unabhängigen Medien, einer modernen offenen Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreich geht?

Seit 43 Jahren machen wir der Türkei Versprechungen, von Adenauer und Strauß, bis 1997 Glos unter der Regierung Kohl/Waigel in einer Presseerklärung dasselbe Versprechen gemacht hat. Jetzt soll der Türkei in dieser Situation, in der wir kein Risiko eingehen – es mag zehn, 15, 20 Jahre dauern, das weiß ich nicht –, die Tür vor der Nase zugeschlagen werden, weil Herr Stoiber kulturelle Einwände hat oder weil Frau Merkel meint, das sei weniger wichtig. Dann kann ich Ihnen nur sagen: Herr Glos, Ihre – wie heißt das? – privilegierte Partnerschaft, so sagte mir der Herr Schäuble, wollen Sie gemeinsam mit den Türken entwickeln. Das gibt es gar nicht respektive ist schon längst Realität.

Mit Ihrer Türkeipolitik – das sage ich Ihnen mit meiner ganzen Erfahrung aus sieben Jahren –, Frau Merkel, versündigen Sie sich an den Sicherheitsinteressen Europas und Deutschlands.

Sie lagen bei der Irakpolitik falsch. Ich werde den Artikel in der "Washington Post" nie vergessen: Bundeskanzler Schröder spricht nicht für alle Deutschen. Dieser Artikel ist sehr nachlesenswert. Sie wollen Kanzlerin werden. Aber Sie haben nicht den kühlen Kopf und die Fähigkeit zur Analyse, die man in solchen Situationen braucht. Im Falle des Irakkriegs haben Sie eine falsche Position bezogen. Was Sie jetzt in der Türkeipolitik machen, halte ich für noch gefährlicher.

Heute haben Sie sich über die Mehrheit gefreut. Entscheidend wird es darauf ankommen, dass Sie am 18. September die Mehrheit nicht bekommen. Wir werden klar machen: Ökologische und soziale Erneuerung ist die Alternative zu einer Politik der kalten Herzen und der Systemveränderung von rechts.