Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz zum Informellen Treffen des Europäischen Rats am 6. Oktober 2023

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(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung.)


BK Scholz: Einen schönen guten Tag! Wir hatten gestern das dritte Treffen unserer Europäischen Politischen Gemeinschaft, bei dem wir miteinander sehr intensiv über viele, viele Fragen gesprochen haben. Ich glaube, man kann unterdessen sagen, dass diese Europäische Politische Gemeinschaft ein Erfolg ist, gerade weil sie Prinzipien folgt, die ansonsten bei vielen Treffen nicht gelten. Es werden keine Erklärungen verabschiedet, dafür wird viel miteinander gesprochen. Es gelingt, viele miteinander zusammenzubringen, die eben nicht dabei sind, wenn wir uns nur als Europäische Union treffen. Insofern, glaube ich, lohnt es sich, das fortzusetzen.

Das hat dazu beigetragen, dass wir uns noch einmal über die uns in Europa verbindenden Prinzipien unterhalten haben. Diese sind ja durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verletzt, der mit der Verständigung in Bezug auf unsere Sicherheitsarchitektur gebrochen hat, dass Grenzen mit Gewalt nicht mehr verschoben werden sollen. Deshalb ist es wichtig, dass sich sehr viele von uns in der Unterstützung der Ukraine versammelt sehen. Deutschland ist weit vorne dabei. Wir sind nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine und werden sicherlich unsere Unterstützung in den nächsten Jahren fortsetzen müssen, wenn der Krieg noch Jahre dauert.

Für uns ist es immer wieder bitter, zu sehen, wie es mit dem russischen Angriff und seinen Folgen ganz konkret zugeht. Das gilt ganz aktuell für den Raketenangriff auf ein Lebensmittelgeschäft und ein Café in Charkiw. Das sind erschütternde Belege für die Brutalität des russischen Angriffs und deshalb auch ein wichtiger Hinweis, warum es richtig ist, dass wir die Ukraine unterstützen.

Der Krieg hat Konsequenzen für die ganze Welt. Auch darüber haben wir miteinander gesprochen. Das gilt ganz besonders, wenn wir an die Lebensmittelversorgung denken. Deshalb ist auch hier noch einmal mein Appell, dass der russische Präsident den Weg für die im Rahmen der Schwarzmeer-Getreide-Initiative geöffneten Möglichkeiten des Lebensmitteltransports wieder freimachen soll. Es ist schlimm, dass diese, eine Zeit lang gut funktionierende Aktivität einfach unterbrochen worden ist, weil der russische Präsident das nicht mehr unterstützt und deshalb alles dafür getan hat, das zu bekämpfen. Jetzt haben wir unsere europäischen Solidaritätskorridore. Diese sind gut, wichtig und hilfreich.

Weil Putin spalten will, ist es wichtig, zusammenzukommen und Einigkeit zu demonstrieren. Das ist gestern beim Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft der Fall gewesen und natürlich heute noch stärker im Rahmen des Europäischen Rats, wo wir im Kreis der 27 Mitgliedstaaten über unsere gemeinsame Zukunft diskutiert haben. Zentrales Thema ist hier natürlich gewesen, wie wir unsere Europäische Union zukunftsfähig entwickeln wollen, auch und gerade im Hinblick auf die Erweiterung. Ich persönlich bin überzeugt, dass die Erweiterung für unser Europa gut ist und dass zuallererst die Staaten des westlichen Balkans eine gute Perspektive haben müssen, dass sie endlich Mitglied in unserer Union werden können. Die Zusage ist zwanzig Jahre her. Sie ist in Thessaloniki abgegeben worden. Jetzt muss irgendwann einmal dabei etwas herauskommen. Wir jedenfalls haben uns sehr darum bemüht, dass das gelingt, genauso wie die Beitrittsperspektive für Moldau, die Ukraine und perspektivisch auch für Georgien. Das sind die Dinge, an denen wir jetzt arbeiten und über die wir hier auch miteinander gesprochen haben.

Wenn die Europäische Union erweitert wird, muss sie auch erweiterungsfähig sein. Deshalb ist es richtig, dass wir jetzt schon angefangen haben, darüber zu diskutieren, wie das gelingen kann. Meine Position dazu habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten sehr klargemacht. Ich glaube, dass wir in bestimmten Fragestellungen, die für unsere geopolitische Souveränität als Europäische Union wichtig sind, auch mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können müssen, damit wir handlungsfähig sind und nicht ein einzelnes Mitgliedsland die notwendige Entscheidung aufhalten kann. Das gilt für Fragen der Außenpolitik und für steuerpolitische Fragen, bei denen dies auch ohne Vertragsänderung möglich ist.

Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir es hinbekommen, dass wir bei einer Erweiterung der Union sicherstellen können, dass jetzt nicht lauter neue Ministerien und Dossiers entwickelt werden. Auch das wird diskutiert werden müssen. Wir müssen über die Größe des Parlaments diskutieren. Deutschland ist nach den Prognosen des Statistischen Bundesamts ein großes Mitgliedsland mit wachsender Bevölkerung. Da kann es nicht sein, dass die relative Bedeutung der Stimme, die in Deutschland abgegeben wird, mit dem Erweiterungsprozess weiter abnimmt. Wir werden also dafür auch eine Lösung finden müssen.

Europa, die Europäische Union muss sich auch in einem neuen geopolitischen Umfeld bewegen. Deshalb ist auch hier wichtig, sich mit den Ländern des globalen Südens auf Augenhöhe zu verständigen. Das ist für Europa gerade deshalb besonders wichtig, weil wir nun auch ein Kontinent mit vielen Staaten sind, die eine gar nicht so lang zurückreichende koloniale Vergangenheit haben. Wenn die wachsend bedeutender werdenden Länder im globalen Süden - in Afrika, Asien, im Süden Amerikas - unsere Partner sein wollen, müssen sie jetzt unsere Partner werden und nicht dann, wenn es gewissermaßen ganz klar ist, weil es aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Stärke unvermeidbar ist. Ich finde, das muss jetzt geschehen. Ich bin sehr froh, dass darüber eine wachsende Einigkeit existiert, die wir hier miteinander entwickelt haben.

Wer über Zukunft diskutiert, muss das auch ökonomisch tun. Insofern finde ich, dass es wichtig ist, dass wir die Frage, wie wir eine ökonomische Solidarität im Hinblick auf erneuerbare Energien, Energieinfrastruktur, bezahlbare Energien, künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft gewährleisten können, mitdiskutieren und auch im Verhältnis zu den USA unsere eigene Position entwickeln. Wenn man sich etwa den Inflation Reduction anguckt, ist es bedeutend, dass wir selber dafür sorgen, dass wir uns mit unseren Perspektiven weiterentwickeln können.

Unvermeidbar gehören zu den Themen, die jetzt, aber auch auf Dauer diskutiert werden müssen, die Fragen der Migration, denen wir uns eigenständig gewidmet haben. Ich bin sehr froh, dass jetzt gerade eine Verständigung in der Frage der gemeinsamen europäischen Asylpolitik gelungen ist. Das war dringend erforderlich. Das ist viele, viele Jahre nicht gelungen. Es ist Bundesministerin Faeser hoch anzurechnen, dass sie es geschafft hat, dass im Rat der Innenminister eine Verständigung über die verschiedenen Einzelaspekte dieser Reform gelungen ist, auch über die zuletzt noch anstehende Krisenverordnung. Wir können hoffen, dass mit all den verschiedenen Beschlüssen des Rats aus diesem Jahr mit dem Parlament noch vor Ende der Legislaturperiode des Europäischen Parlaments ein Einvernehmen erzielt werden kann.

Für uns ist klar: Es geht um Kontrolle und Management, gerade was die irreguläre Migration betrifft. Es geht gleichzeitig darum, dass wir Arbeits- und Fachkräfte brauchen. Aber darin liegt auch eine Chance, denn wir brauchen ein Management, das wir miteinander vereinbaren. Dazu zählen Verträge, Vereinbarungen, Migrationspartnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern, die beides beinhalten: legale Wege für die gesuchten Arbeitskräfte und Fachkräfte, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studenten und Auszubildende, aber gleichzeitig auch einfache, unbürokratische kooperative Verfahren bei der Rücknahme derjenigen, die nicht in unseren Ländern bleiben können. Ich glaube, auch das kann eine gemeinsame Politik werden. Aus vielen Gründen heißt es immer, dass man ganz konkret mit Transitländern eine Verständigung über die weitere Zusammenarbeit herbeiführt.

Eines der Länder, bei denen das unmittelbar gut funktioniert hat und deshalb auch weitergeführt werden soll, ist die Türkei. Ich glaube, dass das Abkommen mit der Türkei in den letzten Jahren sehr geholfen hat. Deshalb ist es richtig, dass die Präsidentin und die Europäische Kommission aktuell mit der Türkei über die Fortsetzung dieses Abkommens verhandeln, sodass wir das weiter als eine Grundlage unserer Beziehungen nutzen können.

Schönen Dank.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, wie wichtig es ist, keine Beschlüsse zu treffen. Keine Beschlüsse und keine gemeinsame Erklärung gab es offenbar zum Thema Migration. Es gab sehr schrille Töne von Viktor Orbán im Vorfeld, auch vom polnischen Regierungschef. Meine Frage ist: Wie gehen Sie damit um, wie sehr schadet das Europa, und wird Europa zunehmend von diesen beiden Ländern in Geiselhaft genommen? Die nächsten Fragen zum Thema Ukrainehilfe stehen ja an, und man hat das Gefühl, alles wird mit allem verbunden und alles ist immer eine Frage von „Blockade oder nicht“.

BK Scholz: Es ist so, dass wir diese Positionen und Stellungnahmen kennen. Deshalb ist es für mich auch sehr wichtig, dass wir mit der Entscheidung der Innenminister in Europa die Grundlage für eine Gesetzgebung geschaffen haben, die dann verbindliche Regeln für alle 27 Mitgliedsstaaten schafft. Das kann nicht von Einzelnen blockiert werden. Deshalb bin ich auch zuversichtlich, dass uns dieses so wichtige Reformvorhaben für ein gutes Management und die Kontrolle von irregulärer Migration auch gelingen wird und dass dabei dann eben auch der Raum für das vorhanden ist, was wir ja gleichzeitig mit organisieren, nämlich denen Schutz zu gewähren, die ihn brauchen, und die Arbeitskräftemigration. Meine Zuversicht ist also, dass wir es gerade in diesem Feld geschafft haben, dass die jahrelangen wechselseitigen Blockaden überwunden worden sind und hier ein gemeinsames europäisches Vorgehen entwickelt wird. Das wird dann auch auszubauen sein.

Ich bin überzeugt davon, dass Europa nur gemeinsam erfolgreich sein kann. Das haben wir zum Beispiel bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und ihrer ökonomischen und sozialen Folgen gezeigt, nämlich mit dem europäischen Wiederaufbaufonds, von dem viele profitieren und der auch dafür gesorgt hat, dass die europäische Wirtschaft nicht eingebrochen ist. Das Gleiche haben wir mit einer doch erheblichen Einigkeit hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine geschafft. Putin, der russische Präsident, hat sicherlich damit gerechnet, dass sich Europa über die Frage, wie wir mit seinem Angriff auf die Ukraine umgehen, zerstreiten würde. Das Gegenteil ist der Fall: Es hat eine gemeinsame Politik gegeben. Die Töne, die man da ab und zu hört, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dann faktisch immer gelungen ist, die notwendige Einigkeit herzustellen.

Ein Satz noch: Man darf eben niemals zwei Botschaften aussenden. Länder, die die Migrationspolitik beziehungsweise den gemeinsamen europäischen Versuch, mit irregulärer Migration umzugehen, kritisieren, sollten dann nicht gleichzeitig welche sein, die diejenigen, die bei ihnen ankommen, durchwinken, damit sie in Deutschland ankommen. Ich finde, diese Klarheit muss ab und zu auch ausgesprochen werden.

Frage: Zuletzt hat es an Deutschland auch Kritik gegeben. Dabei ging es vor allem um die zivile Seenotrettung. Diese Kritik kam vor allem aus Italien. Sie haben ja heute Georgia Meloni auch getroffen. Welche Rolle hat dieses Thema heute gespielt?

BK Scholz: Die Ministerpräsidentin und ich haben uns ja nun schon sehr oft unterhalten, auch oft, wie heute, zu zweit. Das sind sehr intensive Gespräche, in denen auch sehr pragmatisch Verständigungen gefunden werden. Wir sind ja beide doch unverändert ganz froh darüber, dass wir es geschafft haben, es möglich zu machen, dass jetzt auch der letzte Baustein der europäischen Asylrechtsreform möglich geworden ist. Ansonsten, denke ich, wird es uns auch gelingen, dann ganz praktisch dafür zu sorgen, dass wir nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten.

Frage: Sind Sie Frau Meloni entgegengekommen? Haben Sie ihr nach ihrer Kritik ein Angebot machen können?

BK Scholz: Real geht es ja um ganz praktische Dinge. Alle wissen, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als alle anderen Länder, obwohl wir gar keine Außengrenze haben, was ja damit zu tun hat, dass ziemlich viele Ereignisse zu beobachten sind, bei denen Flüchtlinge durchgewunken werden, ohne dass sie registriert werden. Ansonsten ist es so, dass wir uns über die Entscheidung des Deutschen Bundestags unterhalten haben.

Zusatz: Sie haben aber nicht gesagt, ob die im nächsten Jahr dann wieder so fallen wird.

BK Scholz: Wir haben über die Situation gesprochen und einander versichert, dass wir einen guten, pragmatischen Umgang finden werden.

Frage: Zu Ungarn: Da sind ja in dem Rechtsstaatsstreit noch Milliarden an Geld blockiert. Können Sie sich vorstellen, dass man die vielleicht nach und nach freigibt - es hat ja Reformen in Ungarn gegeben - und das vielleicht auch den Weg zu einer Einigung auf anderen Feldern ebnet?

BK Scholz: Es ist richtig, dass wir um die Frage des Rechtsstaats innerhalb der Europäischen Union streiten. Wir sind ja als Union zusammen, weil uns bestimmte Dinge ausmachen. Dazu gehört die „rule of law“, die Rechtsstaatlichkeit, dazu gehören die Demokratie und die Freiheit - auch die der Einzelnen, der Minderheiten und derjenigen, die mit der Regierung nicht übereinstimmen; auch das ist ganz, ganz wichtig -, und dazu gehört, dass wir offene Gesellschaften und liberale Demokratien sind. In dem Sinne ist es aus meiner Sicht richtig, dass die Kommission ihr Vorgehen wählt. Ich glaube aber, dass es keinen Sinn ergibt, das im Einzelfall zu kommentieren. Wir müssen immer so vorgehen, dass wir Forderungen haben, die sich aus den Verträgen und den Regelungen, die uns miteinander verbinden, ergeben, und natürlich muss es Konsequenzen haben, wenn jemand den Anforderungen dann auch entspricht. Aber dafür, ob das der Fall ist oder nicht, liegt die Erstbeurteilung bei der Kommission, und dann können wir uns das auch noch einmal anschauen.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, wie wichtig es ist, bei diesem Treffen Einheit zu demonstrieren. Jetzt wurde schon mehrfach auf Ungarn und auch auf Polen verwiesen, gerade in Sachen Unterstützung der Ukraine. Hat dieses Bild also nicht gerade Risse bekommen?

War diese Sorge auch Thema im Austausch mit Präsident Selensky, zumal auch noch andere Punkte hinzukommen, die Slowakeiwahl, die USA und ähnliche Themen?

BK Scholz: Ich kann aus diesem Gespräch von Zuversicht berichten, die wir gemeinsam haben. Wir teilen beide die Einschätzung, dass Präsident Biden richtigliegt, wenn er uns sagt, er werde Mehrheiten im Kongress für die weitere Unterstützung der Ukraine haben, und zwar sowohl bei Demokraten als auch bei Republikanern, weil wir alle beide aus unseren Gesprächen mit Abgeordneten und Senatoren beider Parteien des amerikanischen Kongresses ja auch wissen, dass diejenigen, die sich mit der Außenpolitik beschäftigen, diese Meinung fast durchgängig vertreten. Insofern sind wir da zuversichtlich.

Auch, was die Solidarität der europäischen Länder mit der Ukraine betrifft, sind wir zuversichtlich. Wichtig ist dabei natürlich - das wird auch durchaus anerkannt, wenn ich das sagen darf -, dass der große und beständige Beitrag zur Unterstützung der Ukraine, den Deutschland leistet, auch dabei hilft, dass der Konsens erhalten bleibt.

Frage: Darf ich doch noch einmal nach Konsequenzen bezüglich der Rechtsstaatlichkeit usw. fragen und das vielleicht auch noch einmal mit Herrn Orbán zusammenbringen, der gesagt hat, sein Land sei rechtlich vergewaltigt worden, und schon angekündigt hat, das nicht umzusetzen? Wie passt das mit Ihrer Zuversicht zusammen, dass das nicht mehr blockiert werden könne?

BK Scholz: Ich bin überzeugt, dass die Regeln, die wir miteinander vereinbaren, dann auch für alle gelten werden.

Frage: Herr Bundeskanzler, der EU-Außenbeauftragte Borrell hat heute vorgeschlagen, die EU-Marinemission IRINI auf die Gewässer vor Tunesien auszuweiten, um dort die Schleuserkriminalität einzudämmen. Deutschland ist ja an IRINI beteiligt. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Eine Nachfrage zur Seenotrettung: Die Bundesregierung verweist jetzt immer auf die Beschlusslage des Bundestages. Was ist denn Ihre persönliche Meinung dazu? Halten Sie es für richtig, die Seenotrettungs-NGOs zu finanzieren?

BK Scholz: Eigentlich ist mit der Frage die Antwort gegeben: Dies ist ein Beschluss des Deutschen Bundestages, der nicht einem Antrag der Bundesregierung gefolgt ist. Ich habe den Antrag nicht gestellt, und die von mir vertretene Regierung auch nicht.

Zuruf: Vielleicht haben Sie ja trotzdem eine Meinung dazu!

BK Scholz: Das ist die Meinung, die ich habe: Dass ich den Antrag nicht gestellt habe. Ich glaube, das ist auch unmissverständlich.

Was die erste Frage betrifft: Wir werden immer sorgfältig abwägen müssen, ob bestimmte Missionen erweitert werden können, ob das Sinn macht. Wir müssen ja zum einen sicherstellen, dass das Mittelmeer kein Meer wird, das voll ist mit toten Menschen, und wir müssen zum anderen sicherstellen, dass die Schleuser nicht erfolgreich sind. Insofern sind alle Vorschläge dieser Art höchst willkommen und verdienen dann auch - was heute ja nicht passiert ist, weil das gar nicht diskutiert worden ist - eine vertiefte Erörterung.

Frage: Ich komme aus der Ukraine. Sie haben sehr viel über dieses Thema gesprochen, ich möchte diese Frage aber erneut ansprechen: Welche Bedingungen müssen für eine Lieferung von Taurus gegeben sein? Vielleicht haben Sie das gestern ja auch mit Präsident Selensky besprochen. Präsident Putin sagt immer, dass er seine eigenen roten Linie habe. Was sind Ihre roten Linien, was sind die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit diese Marschflugkörper geliefert werden können?

BK Scholz: Schönen Dank für die Frage! Es ist so, dass Deutschland die Ukraine sehr umfassend unterstützt. Wir haben das gemacht mit Panzern und Munition, mit Artillerie - sehr weit reichender Artillerie, die wir auch sehr früh zusammen mit den USA und Großbritannien geliefert haben -, wir sind ganz besonders engagiert bei der Luftverteidigung der Ukraine mit dem Flakpanzer Gepard und mit IRIS-T, wo wir auch weitere Systeme liefern. Beim Flakpanzer haben wir sichergestellt, dass die längst beendete Produktion von Munition neu angelaufen ist, sodass wir die Ukraine fortlaufend unterstützen können. Wir haben außerdem Patriot-Systeme geliefert, wo wir jetzt auch noch weitere Unterstützung zur Verfügung stellen wollen. Das ist das, was auch am meisten bei uns gewünscht worden ist. Gerade deshalb haben wir auch ganz besonders geprüft, ob wir da die Möglichkeiten haben, diesen dringenden Wunsch der Ukraine und auch vieler anderer Experten, die uns dazu geraten haben, zu erfüllen. Darum gibt es jetzt zusätzlichen Schutz durch Patriots.

Ansonsten bleibt es dabei, dass wir alle Entscheidungen immer im Einzelnen abwägen und dass es für uns dabei einen wichtigen Punkt gibt: Die Beteiligung von deutschen Soldaten auch außerhalb des Territoriums der Ukraine an irgendwelchen Aktivitäten ist für uns nicht möglich.

Frage: Eine Frage zum Thema Aufnahmefähigkeit: Sie haben heute Morgen gesagt, dass die jetzigen Nettoempfänger sich darauf einstellen müssen, künftig Nettozahler zu werden und auch zum Wohlstand oder zum Aufholen der Beitrittskandidaten, wenn sie dann Mitglieder geworden sind, beizutragen. Wenn Sie sich die großen Ausgabenposten des jetzigen Haushalts ansehen, insbesondere die Agrarfonds und die Kohäsionsfonds: Sollen diese Töpfe Ihrer Auffassung nach einfach nur neu verteilt werden, oder ist es notwendig, sich grundsätzlich darüber zu unterhalten, ob diese Politiken so fortgeführt werden können?

BK Scholz: Wir sind jetzt, wie Sie wissen, bei der Diskussion über die Frage, was für Zwischenentscheidungen wir im Zusammenhang mit dem MFR zu treffen bereit sind. Was das nächste große reguläre Mehrjahresbudget betrifft, beginnt die Diskussion dann, wenn es so weit ist.

Ich will gerne nicht verhehlen, dass ich die letzten Male immer ein bisschen enttäuscht war, weil alle Versuche, Innovation zu fördern, moderne Dinge voranzubringen, am Ende wieder weniger gelungen waren, weil man die Politiken, die man schon immer gemacht hat, weiter umfassend fördern wollte. Aus meiner Sicht wäre es richtig, wenn wir uns ein bisschen mehr trauen würden, auch umzuverteilen zugunsten von Dingen, die für die geopolitische Souveränität Europas von Bedeutung sind. Da geht es dann eben um innovative Fähigkeiten: unsere Fähigkeiten bei künstlicher Intelligenz, Digitalisierung, die Frage der Leistungsfähigkeit unseres Stromnetzes, unseres Glasfasernetzes, des Mobilfunknetzes, auch mit den modernen Entwicklungsmöglichkeiten, die damit verbunden sind, die Frage der Kreislaufwirtschaft usw. usf. Das wird sicherlich wieder heftig werden, aber ich bin in diesem Zusammenhang auf der Seite der Modernisierung, wenn es denn in einiger Zeit ansteht.

Frage: Herr Bundeskanzler, Russland sagt, es habe einen neuen nuklearfähigen Marschflugkörper erfolgreich getestet. Wladimir Putin sagt auch, er erwäge neue Nukleartests. Haben Sie diese nukleare Drohung hier auf diesem Gipfel diskutiert? Welche Einzelpunkte zu welchen Themen nehmen Sie in Ihre bilateralen Gespräche mit dem französischen Präsidenten kommende Woche mit?

BK Scholz: Nein, wir haben über diese Fragen nicht diskutiert. Dass Russland sein Atomwaffenarsenal beständig weiter ausbaut, ist etwas, was wir nicht gerade aktuell feststellen, sondern das ist ja überall der Fall und wird ja auch immer sehr laut verkündet - warum wohl, frage ich einmal. Am Ende des Tages ist das jetzt aber nichts Neues, sondern etwas, das stattfindet. Es ist ja auch eine der vielen bedrückenden Entscheidungen des russischen Präsidenten, Stück für Stück aus allen Rüstungskontrollvereinbarungen ausgestiegen zu sein. Das ist keine gute Entwicklung für die Welt, darum sollten wir auch nicht herumreden.

Deutschland und Frankreich haben eine große Verantwortung für das Gelingen der Europäischen Union und den Erfolg unseres gemeinsamen Europas. Dass wir diese Verpflichtungen auch weiter wahrnehmen müssen, ist die wichtigste Botschaft, die ich aus den heutigen Beratungen mitnehme. Deshalb ist es sehr gut, dass wir unmittelbar nach dieser jetzigen Beratung und vor den nächsten Beratungen auch ein bisschen mehr Zeit haben, um auch mit einer nicht so gedrängten Tagesordnung gemeinsame Perspektiven als deutsche und französische Regierung zu entwickeln.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben heute unter anderem auch über die Revision des mehrjährigen Finanzrahmens gesprochen, in dem von der Kommission 50 Milliarden Euro zusätzlich für die Ukraine vorgesehen sind, um die Finanzierung von 2024 bis 2027 zu sichern, aber auch - was wiederum umstritten ist und dafür sorgt, dass diese Diskussion festgefahren ist - ungefähr 66 Milliarden Euro für andere Zwecke. Wie könnte aus Ihrer Sicht eine Lösung bei diesem Thema aussehen? Wie haben Sie sich heute bei den Beratungen zu diesem Thema verhalten?

BK Scholz: Wir haben nicht über den MFR verhandelt, aber fast niemand hat die Gelegenheit ausgelassen, dazu auch noch etwas zu sagen. Ich habe dazu auch etwas gesagt, nämlich dass ich glaube, dass wir noch weit weg von einer Lösung sind. Dass wir als Europäische Union die Finanzierung der Ukraine gewährleisten müssen, was das Budget beziehungsweise den Haushalt des Landes betrifft, dessen Wirtschaft zusammengebrochen ist und das so viele neue Ausgaben tätigen muss, ist offensichtlich und auch der gemeinsame Wille. Aber im Hinblick auf viele andere Fragen, würde ich sagen, ist der Ehrgeiz, die Dinge durch Umbuchungen und Neupriorisierungen im vorhandenen Budget zu lösen, noch unterentwickelt.