Muslime setzen Zeichen gegen Extremismus

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Im Wortlaut: de Maizière Muslime setzen Zeichen gegen Extremismus

Innenminister de Maizière bezeichnete den Aktionstag der Muslime als "großartig". Das erklärte er in einem gemeinsamen Zeitungsinterview mit dem türkischstämmigen Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses Altuğ und dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime Mazyek. Die Aktion zeige, dass sich die Mehrheit der Muslime von jeder Form der Gewalt distanziere. Um gegen Prozesse der Radikalisierung vorzugehen, seien staatliche Maßnahmen der Vorbeugung und Deradikalisierung sowie die Hilfe der Gesellschaft notwendig, so de Maizière.

  • Interview mit Thomas de Maizière
  • Welt

Das Interview im Wortlaut:

Welt: Am heutigen Freitag wollen zum ersten Mal die muslimischen Gemeinden in Deutschland eine Aktion gegen Hass und Unrecht organisieren. Was wollen Sie damit erreichen?

Zekeriya Altug: Uns sind insbesondere die Opfer wichtig, wir wollen uns solidarisch zeigen mit allen Opfern, die Vertreibung, Gewalt und Terror ausgesetzt sind. Es soll ein Friedensgebetsein, wo wir auch Allahs Gnade und Unterstützung für alle unterdrückten Menschen erbitten wollen.

Welt: Aber was wollen Sie damit erreichen?

Altug: Wir wollen unsere eigene Gemeinde sensibilisieren und eine einheitliche Haltung der Muslime in Deutschland dadurch erreichen, dass jeder in unseren Gemeinden weiß, wofür wir einstehen. Gleichzeitig wollen wir uns in der Gesellschaft positionieren. Wir wollen deutlich machen, dass Hass und Gewalt nicht im Namen des Islam legitimierbar sind. Wir wollen die Deutungshoheit der Religion diesen wenigen Extremisten entreißen und sehr deutlich sagen, dass wir, die Mehrheit der Muslime, diese Deutungshoheit haben. Das soll mit dieser Aktion in die Mehrheitsgesellschaft hineingetragen werden, damit auch die deutsche Bevölkerung weiß, wofür wir einstehen.

Welt: Wir hören in der Türkei sehr oft die Aussage, dass der Islam gegen den Terror ist. Aber einige Gruppen sind so radikal, dass sie Menschen den Kopf abschlagen. Und in Europa beteiligen sich die Jugendlichen an IS. Warum haben Sie nicht vorausgesehen, dass diese Jugendlichen so radikalisiert werden? Dass die Terroristen sich vor den Moscheen eingenistet haben, um sie zu rekrutieren?

Altug: Diese extremistischen Gruppen sind eine verschwindend kleine Minderheit, vielleicht ein Promille der Muslime in Deutschland.

Welt: Eine kleine Minderheit, deren Wirkung so groß ist, dass die Nato zu diesem Problem tagt.

Altug: Das stimmt. Seit Jahren findet diese verschwindend kleine Minderheit in Deutschland mehr Gehör als die vier größten Verbände, die über 90 Prozent der organisierten Muslime vertreten. Die meisten radikalen jungen Menschen kommen nicht, um in unseren Moscheen ihre Religion zu lernen, sondern binden sich im Internet an diese Gruppen, die in den Medien präsenter sind. Wir erreichen sie in unseren Gemeinden nicht! Wenn wir bereits radikalisierte Menschen in unseren Gemeinden sehen, dann ist es meistens zu spät; die sind nicht mehr überzeugbar. Viele dieser Kämpfer, die nach Syrien oder in den Irak reisen, sind von ihrem Umfeld her gar nicht so nah mit dem Islam verbunden. Sie finden erst in späten Jahren zum Islam, meist übers Internet, aber nicht über einen kompetenten Imam in einer Moscheegemeinde. Wir erreichen vielleicht 30, 40 Prozent der Muslime in Deutschland. Deswegen diese öffentlichen Aktionen, um auch diesen Menschen zu zeigen, wo wir stehen.

Aiman Mazyek: Dieser Tag ist für uns ein Tag, wo wir bei den Opfern sind, und dabei spielt es keine Rolle, ob sie Muslime, Juden, Jesiden, Christen oder andere sind. Wir wollen nicht schweigen zu diesem Unrecht und dem, was diese Menschen vorgeben, im Namen des Islam zu tun. Sie sind Verbrecher, Mörder, die den Islam kidnappen. Wir wollen deutlich machen, dass die Mehrheit der Muslime nicht nur hierzulande, sondern weltweit anders denkt und handelt. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, wir distanzieren uns immer wieder - reicht das denn? Und wir sind der Meinung, nein. Es reicht nicht. Wir brauchen proaktive Veranstaltungen, wo wir deutlich machen, für welche Werte wir stehen. Deswegen wird der Charakter dieses Tages auch ein religiöser sein, es wird ein Gebet für Frieden in der Welt und in unserem Land stattfinden. Wir werden auch auf Gewalt aufmerksam machen, die Muslime erfahren. Die Brandanschläge auf Moscheen, die in den letzten Wochen zugenommen haben, sind bedrohliche Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wir wollen, dass in unserer Gesellschaft kein Hass ist zwischen den Völker- und Religionsgruppen. Wir verstehen uns als Teil dieser Gesellschaft. Wir sind sehr dankbar, dass der Minister sprechen wird, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden und der Evangelischen Kirche.

Welt: Wie knüpfen Muslime in Deutschland Kontakt zum IS?

Thomas de Maizière: In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime, und wir beobachten mit Sorge, dass die Zahl der radikalisierten Menschen aus dem Bereich des Salafismus steigt. 6.000 Radikalisierte sind nicht wenig, aber im Verhältnis zu vier Millionen Muslimen eine kleine Zahl. Die Aktion der Muslime gegen Extremismus ist großartig. Sie zeigt, dass sich die Mehrheit der Muslime von jeder Form der Gewalt distanziert. Ich unterstütze ausdrücklich, dass mit diesem Friedensgebet auch darauf hingewiesen wird, dass Muslime in Deutschland Opfer von Gewalt und Islamfeindlichkeit sind. Wir haben seit Anfang 2012 knapp 80 Straftaten rund um Moscheen, und wir haben in den letzten Monaten fünf Brandanschläge gehabt. Wir haben die Blutspur, die die Mörderbande vom NSU in Deutschland hinterlassen hat, nicht vergessen. Und wir haben letzten Sonntag zusammengestanden, als es um Rassismus und Anschläge gegen Juden in Deutschland ging. Religion soll Frieden stiften und nicht Hass säen. Das ist eine gemeinsame Überzeugung von Christen, Juden und Muslimen.

Welt: Andererseits kämpfen und töten radikale Muslime aus Deutschland in den Kriegsgebieten.

de Maizière: Wir schätzen, dass sich ungefähr 400 junge Menschen aus Deutschland so radikalisiert haben, dass sie unter einer fälschlichen Berufung auf den Islam aus Deutschland Krieg und Terror nach Syrien und in den Irak tragen. Und möglicherweise einige davon auch wieder zurück. Die Ausgereisten sind überwiegend Männer, aber auch ein paar Frauen. Deutsche, Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit und Ausländer. Die Reisen in Dschihadgebiete sind kein neues Phänomen, denn wir hatten schon den Export von Terroristen aus Deutschland in Afghanistan und Pakistan. Das Erstaunliche ist, dass die Prozesse der Radikalisierung zum Teil in Wochen oder Monaten geschehen. Wir müssen verstehen, woran das genau liegt. Vielleicht finden diese jungen Menschen keine Antworten auf Fragen wie: Was ist der Sinn des Lebens? Welche Bedeutung habe ich? Warum bin ich in der Schule oder im Job nicht erfolgreich? Es gibt Menschen, die einfache Antworten auf diese Fragen anbieten. Islamistische Propaganda im Internet gibt solche Antworten. Das führt bei eher nicht so gefestigten Menschen zu einer Faszination.

Welt: Was tun Sie dagegen?

de Maizière: Dagegen muss man hart, auch polizeilich vorgehen. Ich habe am vergangenen Freitag jedwede Betätigung von und für IS in Deutschland verboten. Das ist eine der schärfsten Maßnahmen, die unser Rechtsstaat vorsieht. Aber alleine mit der Polizei bekommt man das nicht in den Griff. Wir brauchen staatliche Maßnahmen der Vorbeugung und Deradikalisierung, die wir zum Teil auch schon haben. Aber wir brauchen auch die Hilfe der Gesellschaft, der Nachbarn, der Freunde, der Eltern. Und auch insbesondere der Muslime in Deutschland.

Welt: Haben die muslimischen Verbände nicht versagt? Fünf Selbstmordattentate im Irak und in Syrien wurden von Deutschen verübt.

Mazyek: Die Brutalität der Kriege, die Anzahl der Opfer hat zugenommen. Wir haben eine neue Dimension erreicht. Die Radikalisierung von Jugendlichen erfolgt durch das Internet heute schneller. Wir sprechen viele Muslime an und betreuen sie. Etwa 30, 35 Prozent der vier Millionen Muslime in Deutschland besuchen regelmäßig eine Moschee. Radikalisieren tun sich meist Personen, die gar nicht in die Gemeinden gehen, die das Gefühl haben, dass in den Moscheen ein weich gespülter Islam vermittelt wird. Die gehen direkt den Weg des Internets.

Welt: Wie kann man sie aufhalten?

Mazyek: Wir brauchen ein Klima in Deutschland, das den Familien dieser Jugendlichen und auch den Gemeinden die Möglichkeit bietet, junge Leute, die dabei sind, sich zu radikalisieren, wieder zurückzuholen. Das geht zunächst nur mit religiöser Ansprache. Polizeiliche Maßnahmen sind wichtig. Verfolgung, Verbote, Passentzug, um die Ausreise zu verhindern. Aber zusätzlich müssen wir Imame und Vorstände qualifizieren.

de Maizière: Die Zahl der gewaltbereiten Islamisten hat im vergangenen Jahr dramatisch zugenommen. Bei aller Besorgnis über das Schicksal der Menschen vor Ort und auch der Sicherheit in Deutschland, sehe ich für uns auch eine große Chance. Wenn wir ehrlich sind, gab es bei einem beträchtlichen Teil der nichtmuslimischen Bevölkerung in Deutschland einen Generalverdacht. Wir können jetzt damit aufräumen. Es ist sehr überzeugend, wenn sich die Muslime in diesem Land vom Terror distanzieren und verurteilen, dass der IS ihre Religion missbraucht.

Altug: Ich stimme unserem Minister zu. Nach dem elften September mussten wir Muslime in Deutschland uns das erste Mal fragen: Wofür stehen wir? Zu wem gehören wir? Bis dahin haben wir uns als Gäste gefühlt, und wir wurden auch als Gäste behandelt. Danach haben sich die muslimischen Verbände neu positioniert - zunächst intern. Heute sagen wir klar: Deutschland ist unsere Heimat. Allein Ditib hat 24.000 ehrenamtliche Mitarbeitet, als Jugendleiter, als Jugendleiter, als Kassenwart, wir erreichen rund 500.000 Muslime in Deutschland. Wir klären auf. Aus unseren Gemeinden gehen diese Radikalen nicht hervor. Dennoch müssen wir selbstkritisch sein. Nach 50 Jahren Migrationsgeschichte müssen wir uns fragen: Wieso hat das 40 Jahre gedauert, bis wir als Muslime wahrgenommen wurden? Uns fehlte der Schulterschluss mit der Gesellschaft. Nicht, dass wir das nicht gewollt haben - wir haben es nicht geschafft, die Mehrheitsgesellschaft zu erreichen. Das machen wir jetzt besser! Unser Innenminister und viele deutsche Politiker unterstützen nun unser heutiges Friedensgebet. Es wird nicht das letzte sein.

Welt: Vor allem Muslime können Islamisten wieder einfangen. Es gibt in deutschen Moscheen Prediger, die dem Salafismus nahestehen, aber der Gewalt abschwören. Müsste man mit denen stärker zusammenarbeiten?

Altug: Man kann aus theologischer Perspektive eine salafistische Grundhaltung haben, solange man sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt und die Rechte der Menschen respektiert. Wir wissen aber, dass in solchen Moscheen - auch wenn der Imam von der Kanzel aus gemäßigt spricht - außerhalb der Gebetsräume ganz andere Töne anklingen. Bei diesen Gruppen genießen die großen muslimischen Gemeinden keinen guten Ruf

de Maizière: Ich bin beeindruckt von der Zahl Ihrer ehrenamtlichen Mitarbeiter: 24.000. Ich wünsche mir, dass sich diese Menschen nicht nur in den Moscheegemeinden der Ditib engagieren, sondern gleichzeitig Elternvertreter in der Schule ihrer Kinder werden, beim Technischen Hilfswerk mitmachen, sich mit den Kirchenvorständen treffen. Ich als evangelischer Christ würde mir wünschen, dass die Kirchenvorstände in Stadtteiltreffs etwa auch auf muslimische Gemeinden zugehen. Wir haben Tausende Moscheen in Deutschland. Mein Verständnis eines friedlichen Zusammenlebens ist, dass wir aufeinander zugehen und miteinander sprechen. Um der Radikalisierung zu begegnen, gibt es Beratungsangebote. Jeder Bruder, jede Freundin, jeder Vater eines Betroffenen, der droht, abzugleiten, kann sich an das Bundesamt für Migration in Nürnberg wenden. Wir haben bisher 250 solcher Betreuungsfälle. Aber das staatliche Angebot ersetzt nicht die gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir alle müssen frühzeitig Zeichen erkennen, wenn Menschen abgleiten und sie von solchen Irr-wegen zurückführen.

Mazyek: Imame brauchen ein Rüstzeug, Schulungen in Rhetorik, Anti-Ideologie. Das fehlt bislang. Ich trenne nicht zwischen der Moschee und dem sonstigen Leben. Für mich ist das ein und dieselbe Gemeinschaft. Die meisten Muslime sehen das heute so. Aber leider nicht alle. Einige unterscheiden doch zwischen "Moschee" und "der Welt da draußen". Wenn sich ein Extremist oder Neosalafist zu erkennen gibt, haben die Gemeinden Angst, am Pranger zu stehen. Aber eigentlich hätten sie eine kleine Chance, ihn zurückzugewinnen. Deswegen müssen wir diese Gemeinden in Zukunft stärken.

de Maizière: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Es gibt Schulen, es gibt Bürgermeister, die sagen: Bei uns läuft alles gut, obwohl sie wissen, dass es ein Problem gibt mit Drogen oder Rechtsextremismus. Denn es ist unangenehm, solche Probleme zuzugeben. Wir haben aber gelernt, dass dieses Verhalten das Problem vergrößert. Wir brauchen den Mut, die Probleme hart und offen anzusprechen, etwa: "In dieser Gemeinde gibt es ein Problem! Wie können wir das gemeinsam lösen?" Wenn wir Muslime alleine lassen, die nicht den Mut haben, das Problem der Radikalisierung offen anzusprechen, werden wir es nicht in den Griff bekommen.

Welt: Der Türkei wird vorgeworfen, dass sie Transitland und Rückzugsraum für Terroristen sei. Sie waren neulich in Ankara und haben Ihren Amtskollegen Efkan Ala getroffen. Haben Sie dieses Problem angesprochen?

de Maizière: Natürlich. Wir haben den allergrößten Respekt davor, dass die Türkei Hunderttausende Flüchtlinge aufnimmt. Das verdient Lob und nicht Kritik. Zweitens: Ich begrüße sehr, dass die Türkei mit der kurdischen Seite konstruktive Gespräche für einen Friedensprozess führt. Dass wird jetzt beschleunigt durch die Konflikte mit dem IS, das ist gut. Die Regierung in der Türkei hat sich gerade in den letzten Tagen klar und hart gegen den IS ausgesprochen. Und das begrüßen wir. Was die Zusammenarbeit im Blick auf die Durchreise von solchen Kämpfern angeht, so ist unsere Zusammenarbeit gut, sie kann noch besser werden. Wir müssen uns über die Reisebewegungen von Dschihadisten austauschen. Das ist aufwendig, da müssen auch Nachrichtendienste zusammenarbeiten. Auch darüber habe ich natürlich im Rahmen meines Besuchs gesprochen.

Welt: Aus der deutschen Islamkonferenz wurde der Aspekt der inneren Sicherheit ausgeklammert. In welchem Rahmen werden Sie mit den muslimischen Verbänden nun darüber reden?

de Maizière: In der Islamkonferenz reden wir jetzt über Wohlfahrt und Seelsorge. Das ist aber nicht die einzige Gelegenheit, bei der wir miteinander sprechen. Im Übrigen haben wir bereits eine Kooperation für Sicherheit und Zusammenhalt. Und die bewährt sich gerade jetzt.

Das Gespräch führten Manuel Bewarder, Fatih Cekirge, Celal Özcan und Freia Peters für

und Hürriyet.