Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 vor dem Europäischen Parlament am 8. Juli 2020 in Brüssel

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Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament,
meine Damen und Herren,

es ist mir eine Freude, zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor dem Plenum des Europäischen Parlaments zu sprechen. Wie die meisten von Ihnen habe auch ich die direkten Begegnungen mit Menschen, die Gespräche von Angesicht zu Angesicht, vermisst.

Für mich ist dies nun die erste Auslandsreise nach Ausbruch der Pandemie; und sie führt mich bewusst und mit ganzer Überzeugung zu Ihnen, ins Herz der europäischen Demokratie. In diesen Zeiten, in denen die Europäische Union diese Krise gestärkt bestehen will, braucht es das Europäische Parlament.

Die Aufgaben vor uns sind gewaltig; und sie verlangen gewaltige Anstrengungen. Sie brauchen eine parlamentarische Auseinandersetzung, sie brauchen politische Vermittlung, sie brauchen kulturelle Übersetzungen in die verschiedenen Länder und Regionen. Und dafür braucht es Sie. Daher ist es mir eine besondere Ehre, Ihnen heute die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft vorzustellen.

Mir sind fünf Themen in dieser Zeit besonders wichtig: unsere Grundrechte, der Zusammenhalt, der Klimaschutz, die Digitalisierung und Europas Verantwortung in der Welt. Diese fünf Themen sind wichtig, weil wir Europa nachhaltig wandeln müssen, wenn wir Europa schützen und bewahren wollen. Nur dann wird Europa auch in einer sich rasant verändernden globalen Ordnung souverän und verantwortungsvoll seine eigene Rolle einnehmen können.

Uns allen ist bewusst, dass mein heutiger Besuch vor dem Hintergrund der größten Bewährungsprobe in der Geschichte der Europäischen Union stattfindet. Die weltweite Coronavirus-Pandemie hat auch in Europa Menschen hart und unerbittlich getroffen. Wir haben über hunderttausend Tote allein in Europa zu beklagen. Viele Bürgerinnen und Bürger konnten von ihren geliebten Menschen aufgrund der strengen Quarantäneregeln nicht einmal Abschied in der letzten Stunde nehmen. Das darf nicht vergessen werden bei allem Einsatz für den Neuanfang, bei allem Engagement für die ökonomische Erholung: die Trauer um die Toten, der Schmerz über die unmöglichen Abschiede. Das wird uns noch lange begleiten.

Unsere Wirtschaft wurde und wird europaweit schwer erschüttert. Millionen Beschäftigte haben ihren Arbeitsplatz verloren. Zusätzlich zu den Sorgen um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern so auch noch die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz dazugekommen. Sie alle brauchen jetzt unsere gemeinsame Unterstützung.

Um die Infektionsketten zu durchbrechen, mussten vorübergehend die elementarsten Grundrechte eingeschränkt werden. Das war ein sehr hoher Preis, denn für diese Grundrechte haben Generationen in Europa hart gerungen. Menschen- und Bürgerrechte sind das wertvollste Gut, das wir in Europa haben. Sie dürfen nur aus sehr gewichtigen Gründen und nur sehr kurzfristig eingeschränkt werden. Eine Pandemie darf nie Vorwand sein, um demokratische Prinzipien auszuhebeln.

Jedes Land Europas erinnert sich anders an die eigenen historischen Umbrüche, an die unterschiedlichen Kämpfe für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Und zugleich eint uns genau diese Errungenschaft der Grundrechte in Europa. Für mich, die ich 35 Jahre meines Lebens in einem System der Unfreiheit gelebt habe, war die Einschränkung dieser Rechte in der Pandemie eine Entscheidung, die mir unendlich schwergefallen ist.

In dieser historischen Phase übernimmt nun Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Diese Aufgabe erfüllt mich mit Respekt, aber auch mit großer Leidenschaft. Denn ich glaube an Europa. Ich bin überzeugt von Europa – nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft.

Europa ist nicht nur etwas, das uns übergeben wurde, etwas Schicksalhaftes, das uns verpflichtet, sondern Europa ist etwas Lebendiges, das wir gestalten und verändern können. Europa nimmt uns keine Handlungsmöglichkeiten, sondern in einer globalisierten Welt gibt Europa uns erst welche. Nicht ohne, sondern nur mit Europa können wir unsere Überzeugungen und Freiheiten erhalten.

Dafür brauchen wir eben mehr denn je die Orientierung an den Grundrechten, zugleich mehr denn je die wechselseitige Unterstützung und den gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Europa wird nur dann Europa bleiben, wenn es auf dieser Grundlage innovative Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels und der Digitalisierung gibt und sich seiner Verantwortung in der Welt stellt.

Das sind die großen Aufgaben, aber ich bin zuversichtlich. Denken Sie an das, was Europa schon an Prüfungen und Konflikten bestanden hat. Denken Sie etwa an die gescheiterte Verfassung für Europa vor 15 Jahren oder an die Wirtschafts- und Finanzkrisen, über die wir hart gestritten haben. Oder denken Sie an die Flüchtlingsbewegungen vor fünf Jahren. Das war nie leicht. Das hat immer auch zu Verletzungen geführt. Aber auch die bittersten Krisen haben geholfen, die Nöte und Bedürfnisse des jeweils anderen besser zu verstehen. Wir haben miteinander gelernt.

Europa hat all diese Krisen überstanden, weil am Ende allen bewusst war, was unverzichtbar ist: die Grundrechte und der Zusammenhalt. Die Menschen- und die Bürgerrechte, die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die Freiheit zur individuellen persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Entfaltung, der Schutz vor Diskriminierung und Missachtung, nicht zuletzt die Gleichberechtigung – die nicht nur behauptete, sondern realisierte Gleichberechtigung –: sie bilden das ethisch-politische Fundament, auf dem Europa ruht. Das sind die Rechte, die für alle gelten. Sie gelten nicht für die einen mehr und die anderen weniger. Sie gelten nicht für die einen immer und für die anderen nur manchmal. Sie gelten.

Das ist das Versprechen Europas, das wir garantieren müssen: dass die Bürgerinnen und Bürger wirklich frei darin sein dürfen, ihren religiösen Glauben, ihre kulturellen oder politischen Überzeugungen zu leben, dass sie ihren jeweiligen Vorstellungen vom Glück oder dem guten Leben anhängen dürfen.

Die Demokratie, auch die europäische Demokratie, lebt von der öffentlichen, kritischen Debatte. Eine Demokratie, in der oppositionelle Stimmen unerwünscht sind, eine Demokratie, in der soziale oder kulturelle und religiöse Vielfalt unerwünscht ist, ist keine.

Die Pandemie hat uns allen nur zu deutlich vor Augen geführt, wie kostbar die Grundrechte sind, wie elementar die Freiheiten sind, die sie garantieren. Über den Schutz dieser Grundrechte wachen in der Europäischen Union starke Institutionen: die Europäische Kommission, der Europäische Gerichtshof und das Europäische Parlament. Die Grundrechte sind das erste, was mir in dieser Ratspräsidentschaft am Herzen liegt.

Gestützt und ergänzt werden muss das durch das zweite Prinzip, das Europa ausmacht: unseren Zusammenhalt. Denn Europa wird nur gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, wenn wir bereit sind – bei allen Differenzen –, gemeinsame Lösungen zu finden, und wenn wir bereit sind, die Welt auch mit den Augen des anderen zu betrachten und Verständnis für die andere Perspektive zu zeigen. Europa wird nach der Krise stärker werden als zuvor, wenn wir den Gemeinsinn stärken. Allein kommt niemand durch diese Krise. Wir alle sind verwundbar. Europäische Solidarität ist nicht einfach nur eine humane Geste, sondern eine nachhaltige Investition. Europäischer Zusammenhalt ist nicht nur etwas, das politisch geboten ist, sondern etwas, das sich lohnen wird.

Das ist auch das Leitmotiv unserer Ratspräsidentschaft: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Dieser Aufgabe werde ich mich gemeinsam mit der Bundesregierung mit aller Leidenschaft widmen.

Aber dafür brauche ich Sie. Um diesen Gemeinsinn in der EU zu schützen, braucht es das Parlament. Denn Sie sind die Vermittler des gegenseitigen Verständnisses, das wir brauchen, um Kompromisse zu erreichen. Sie vertreten fast 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger in 27 Staaten. Sie sind die Übersetzer der europäischen Prinzipien. Sie erläutern den Menschen Europa und vermitteln so zwischen Brüssel, Straßburg und Ihren Heimatregionen. Sie kommunizieren nicht nur in 24 Sprachen, sondern Sie leben mit dieser Vielfalt der Perspektiven und Erfahrungen. Wer, wenn nicht Sie, könnte den Menschen in Europa die Haltung anderer Mitgliedstaaten erklären?

Deswegen bitte ich Sie als Mittler und Vermittler des Zusammenhalts um Ihre Unterstützung in dieser schwierigen Zeit. Helfen Sie uns, das wechselseitige Verständnis füreinander zu vertiefen. Helfen Sie uns, Europas Zusammenhalt zu stärken.

Die höchste Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft ist es, dass Europa geeint und gestärkt aus der Krise kommt. Aber wir wollen Europa nicht nur kurzfristig stabilisieren – das wäre zu wenig. Wir wollen auch ein Europa, das Hoffnung macht. Wir wollen ein Europa, das sich selbstbewusst und mutig den Aufgaben der Gegenwart stellt. Wir wollen ein Europa, das zukunftsfähig ist, das innovativ und nachhaltig seinen Platz in der Welt behauptet. Wir wollen einen Aufbruch für Europa.

Dieser Überzeugung folgt auch die deutsch-französische Initiative von Mitte Mai. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron habe ich einen europäischen Aufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen. Ich freue mich, dass die Europäische Kommission viele Aspekte dieser deutsch-französischen Initiative in ihrem Vorschlag zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zum Aufbauprogramm berücksichtigt. Auf dieser Grundlage wird derzeit im Europäischen Rat unter Leitung von Charles Michel diskutiert.

Unser gemeinsames Ziel ist es, möglichst rasch eine Einigung zu finden. Denn die Tiefe des wirtschaftlichen Einbruchs mahnt uns zur Eile. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Darunter würden nur die Schwächsten leiden. Ich hoffe sehr, dass wir noch in diesem Sommer zu einer Übereinkunft gelangen können. Das wird noch viel Kompromissbereitschaft von allen Seiten erfordern – auch von Ihnen.

Die Lage ist außergewöhnlich, ja, einmalig in der Geschichte der Europäischen Union. Deswegen ist Deutschland auch für die außergewöhnliche und einmalige Kraftanstrengung in einer Größenordnung von 500 Milliarden Euro eingetreten. Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns auch europäisch einig werden.

Ich bin davon überzeugt, dass die soziale Dimension ebenso entscheidend ist wie die wirtschaftliche. Ein sozial und wirtschaftlich gerechtes Europa ist für den demokratischen Zusammenhalt entscheidend. Es ist das beste Rezept gegen all jene, die unsere Demokratien schwächen und unsere Gemeinsamkeiten infrage stellen wollen.

Auch aus diesem Grund werden wir in unserer Ratspräsidentschaft unser Augenmerk ganz besonders auch auf junge Menschen und Kinder richten. Sie sind Europas Zukunft und von der Krise besonders stark betroffen. Daher wollen wir unter anderem mit einer europäischen Jugendarbeitsagenda ihre Entwicklung fördern und sie mit einer gestärkten Jugendgarantie auf den Weg in ihr Berufsleben aktiv unterstützen.

Wir dürfen nicht naiv sein. In vielen Mitgliedstaaten warten die Europagegner nur darauf, die Krise für ihre Zwecke zu missbrauchen. All jenen müssen wir jetzt zeigen, wo der Mehrwert der Zusammenarbeit in der Europäischen Union liegt. Wir müssen zeigen, dass die Rückkehr zum Nationalismus nicht mehr, sondern weniger Kontrolle bedeutet und dass uns nur gemeinsames Handeln als Europa schützt und stärkt.

Deswegen ist es richtig und wichtig, dass die besonders von der Krise betroffenen Regionen und vor allem die Menschen, die dort leben, auf unsere Solidarität zählen können. Es liegt in unserem ureigenen Interesse. Aber gleichzeitig heißt das im Ergebnis immer auch, dass die Kraftanstrengung, die jetzt zum Wohle aller notwendig ist, nicht einseitig die wirtschaftlich starken Mitgliedstaaten über Gebühr belasten darf, sondern dass jeder von uns gefordert ist, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Also bedenken Sie auch, was die einzelnen Mitgliedstaaten leisten können und was nicht – wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Bei all dem bitte ich Sie als europäische Abgeordnete heute um Ihre Unterstützung. Ich bin davon überzeugt, dass jeder in dieser Krise zur außergewöhnlichen Solidarität bereit ist. Deutschland ist es.

Die Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen wird unsere Ratspräsidentschaft prägen. Zugleich müssen wir immer auch die weiterhin bestehenden anderen großen Herausforderungen unserer Zeit im Blick haben. Das sind die Themen drei, vier und fünf, auf die es für Europa ankommen wird.

Zunächst: der Klimawandel. Vor etwa einem halben Jahr hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in diesem Haus ihr Klimaschutzprogramm vorgestellt. Sie hat eindringliche Worte an Sie gerichtet und betont, dass Europa jetzt handeln müsse, wenn unser Planet lebensfähig bleiben wolle. Auch ich bin davon überzeugt, dass eine globale Lösung des Klimawandels nur dann möglich ist, wenn Europa eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnimmt. Die Strategie für einen grünen Deal der Europäischen Kommission ist daher für uns eine wichtige Leitlinie. Mit ihrer engen Begleitung im Verlauf unserer Ratspräsidentschaft wollen wir den Wandel hin zu einer kohlenstoffneutralen Wirtschaft und Gesellschaft und zu einer grünen Wirtschaft mit starken und innovativen Unternehmen schaffen – einer Wirtschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas für die kommenden Generationen schützt und stärkt.

Dabei ist mir wichtig, dass wir Europas Klimaneutralität bis 2050 rechtlich festschreiben. Deswegen begrüße ich die Überlegungen der Europäischen Kommission, als Zwischenschritt die Emissionen bis zum Jahr 2030 auf 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. In dieser Perspektive werden wir auch die Arbeiten am Europäischen Klimaschutzgesetz begleiten.

Die weitere große Herausforderung und der vierte Punkt, der uns während unserer Präsidentschaft besonders wichtig ist, ist der digitale Wandel. Wie auch der Klimaschutz erfordert er, dass wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften nachhaltig ändern. Das löst bei vielen Menschen Angst aus – Angst vor dem Verlust von Vertrautem und Angst vor dem Tempo der Veränderung. Und das ist auch verständlich.

Aber lassen Sie mich sehr deutlich sagen: Das Engagement für die Digitalisierung wie für den Klimaschutz bedeutet nicht, dass wir alles Etablierte aufgeben und damit die Arbeitsplätze von Millionen Europäerinnen und Europäern aufs Spiel setzen. Im Gegenteil, es geht um einen notwendigen Wandel unserer Gesellschaft, der langfristig mehr Schutz und mehr Nachhaltigkeit bieten wird. Denn gerade auch in den vergangenen Wochen und Monaten ist uns Europas digitale Abhängigkeit von Drittstaaten erneut deutlich geworden. Dies haben viele von uns im Verlauf ihrer täglichen digitalen Kommunikation zweifellos festgestellt – sei es bei der Technologie oder bei den Dienstleistungen. Es ist wichtig, dass Europa digital souverän wird. Gerade in den Schlüsselbereichen wie der künstlichen Intelligenz und dem Quantencomputing, aber auch beim Aufbau einer vertrauenswürdigen und sicheren digitalen Infrastruktur wollen wir vorankommen.

Entscheidend ist auch der effektive Schutz unserer Demokratien vor Cyberbedrohungen und Desinformationskampagnen. Denn eine Demokratie braucht eine Öffentlichkeit, in der Wissen und Informationen geteilt werden können und in der sich Bürgerinnen und Bürger austauschen und darüber verständigen können, wie sie leben wollen. Wir erleben es gerade: Mit Lüge und Desinformation lässt sich die Pandemie nicht bekämpfen, ebenso wenig wie mit Hass und Hetze. Dem Fakten leugnenden Populismus werden seine Grenzen aufgezeigt. In einer Demokratie braucht es Wahrheit und Transparenz. Das zeichnet Europa aus; und dafür wird sich Deutschland in seiner Ratspräsidentschaft stark machen.

Der fünfte Punkt ist Europas Verantwortung in einer globalisierten Welt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass Europa an seinen Außengrenzen neben Großbritannien und dem westlichen Balkan unter anderem von Russland, Belarus, der Ukraine, der Türkei, Syrien, dem Libanon, Jordanien, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko umgeben ist. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit globaler Umbrüche, in der sich die Kraftfelder verschieben und Europa – bei aller Einbindung vieler Mitgliedstaaten in das transatlantische Bündnis – mehr auf sich selbst gestellt ist.

Wir können und müssen selbst entscheiden, wer Europa in dieser sich rasant verändernden Weltordnung sein will. Es kommt mehr denn je darauf an, ob wir es ernst meinen mit Europa und ob wir ein Europa wollen, das seine Freiheit und seine Identität auch in Zeiten der Globalisierung bewahrt. In dieser Lage ergibt sich die Notwendigkeit einer starken europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Ein wichtiger Partner dabei ist und bleibt das Vereinigte Königreich. Die Gestaltung unseres künftigen Verhältnisses wird uns im kommenden Halbjahr stark beschäftigen. Die Fortschritte in den Verhandlungen sind bisher – um es zurückhaltend zu sagen – übersichtlich. Wir haben mit Großbritannien vereinbart, die Verhandlungen zu beschleunigen, um noch im Herbst ein Abkommen zu schließen, das dann bis Ende des Jahres ratifiziert werden müsste. Ich werde mich weiterhin für eine gute Lösung stark machen. Aber wir sollten auch für den Fall vorsorgen, dass ein Abkommen doch nicht zustande kommt.

Während unserer Präsidentschaft sollten wir alles daransetzen, auch auf drei weiteren außenpolitischen Feldern Fortschritte zu erzielen; und zwar erstens bei der Beitrittskonferenz zumindest mit Nordmazedonien, gegebenenfalls auch Albanien – einem wichtigen Schritt auf dem Weg, den Staaten des westlichen Balkans eine Beitrittsperspektive zu geben –, und zweitens in unseren Beziehungen mit unserem Nachbarkontinent Afrika und der Afrikanischen Union, die wir bei einem EU-Afrika-Gipfel zukunftsgerichtet vertiefen wollen. Hierzu gehören auch weiterhin Fragen unserer Migrationszusammenarbeit. So viele Menschen wie noch nie zuvor sind auf der Flucht. Deshalb stehen wir in besonderer Verantwortung, bei einem für Europa so zentralen Thema wie der Asyl- und Migrationspolitik weiterzukommen. Diese Frage erfordert viel politische Sensibilität, aber wir dürfen nicht wegschauen, sondern müssen uns gemeinsam dieser humanitären und politischen Aufgabe stellen.

Drittens und nicht zuletzt werden uns unsere strategischen Beziehungen mit China beschäftigen, die durch enge handelspolitische Verbindungen, aber gleichermaßen auch sehr unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen, vorneweg bei der Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, geprägt sind. Auch wenn der EU-China-Gipfel im September leider nicht stattfinden kann, wollen wir den offenen Dialog mit China fortsetzen.

Während der deutschen Ratspräsidentschaft wollen wir außerdem unsere Überlegungen darüber fortführen, ob wir in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik am Einstimmigkeitsprinzip festhalten wollen oder nicht und welche Lehren Europa aus der Coronaviruskrise ziehen soll, zum Beispiel mit Blick darauf, wie Europas Souveränität im Gesundheitssektor gestärkt werden könnte. Diese Debatte sollten wir auch im Rahmen einer Konferenz zur Zukunft Europas führen, die von der Europäischen Kommission im vergangenen Jahr vorgeschlagen wurde und zu der Sie mit Ihren Entschließungen viele Ideen entwickelt haben. Ich plädiere für eine Konferenz, die sich auf wenige Themen konzentriert, mit konkreten Ergebnissen aufwartet und Bürgerinnen und Bürger aus und in verschiedenen Mitgliedstaaten zu Diskussionen zusammenführt. Hierzu habe ich heute auch schon mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments David Sassoli gesprochen.

Herr Präsident, Frau Kommissionspräsidentin, meine Damen und Herren, wollen wir Europa? Dann braucht es das, wovon ich heute gesprochen habe. Dann braucht es die Grundrechte und den Zusammenhalt. Dann braucht es Antworten auf den Klimawandel und die Digitalisierung. Dann braucht es Europas Verantwortung in der Welt. Dann müssen wir Europa grüner, digitaler und damit innovativer und wettbewerbsfähiger gestalten. Denn Europa soll international für eine Ordnung des Rechts und für Innovation und Nachhaltigkeit stehen. Das ist die Vision für Europa.

Lassen Sie mich mit einem persönlichen Gedanken schließen. Ich bin Musikliebhaberin. So ist es mir eine große Freude, dass in unserer Ratspräsidentschaft ein ganz besonderer Jahrestag liegt. Im Dezember 2020 wäre der Komponist der Europahymne, Ludwig van Beethoven, 250 Jahre alt geworden. Mich erfüllt diese 9. Sinfonie immer noch und immer wieder neu. Bei jedem Hören entdecke ich in der Musik etwas anderes, das mich trifft und beeindruckt, so wie Europa auch. Es lässt sich immer wieder neu entdecken. Und es beeindruckt mich immer noch.

So lassen Sie mich heute mit dem Wunsch enden, dass die Botschaft dieser Musik, die Idee der Brüderlichkeit und Eintracht, uns in Europa leiten möge. Welche Botschaft könnte passender sein als die, dass dieses Europa zu Großem fähig ist, wenn wir einander beistehen und zusammenhalten?!

Herzlichen Dank!