Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur 63. Deutsch-Indischen Handelskammer am 02. November 2019
in Neu-Delhi

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Sehr geehrter Herr Mathur,
sehr geehrter Herr Graf,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett,
liebe Vertreter der Wirtschaftsdelegation, angeführt von Herrn Kaeser,
Herr Botschafter,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, nun schon zum zweiten Mal – aber dieses Mal hier in Neu-Delhi – bei Ihnen, bei der nunmehr 63. Jahresversammlung der Deutsch-Indischen Handelskammer dabei zu sein und sie mit Ihnen zu eröffnen. Die Deutsch-Indische Handelskammer ist nicht nur seit langem aktiv. Sie ist auch die weltweit größte deutsche Auslandshandelskammer. Das will wirklich etwas heißen, denn auf der Welt gibt es immerhin über 140 Auslandshandelskammern, die in 92 Staaten arbeiten. Schon daran lässt sich ablesen, dass Indien und Deutschland füreinander gute und verlässliche Wirtschaftspartner sind. Rund 1.800 deutschen Unternehmen sind in Indien tätig. Man darf nie vergessen – das sage ich den Gästen, die aus Deutschland hier sind –: Indien ist ein Kontinent mit großer Vielfalt und regionaler Ausbreitung. Deshalb wundert es nicht, dass auch viele unterschiedliche deutsche Firmen hier sind. Hunderttausende Arbeitsplätze werden durch deutsche Unternehmen in Indien gesichert.

Als Bundeskanzlerin bin ich 2007 erstmals nach Indien gereist. Ich konnte damals unter anderem mit dabei sein, als wir den sogenannten Science Express auf seine Fahrt durch Indien geschickt haben, um vor allem jungen Menschen die Welt der Wissenschaft näher zu bringen. An diesem Science Express waren neben wissenschaftlichen Einrichtungen auch viele Unternehmen beteiligt. Ich erwähne das, weil ich in diesem Projekt ein wunderbares Beispiel mit Symbolcharakter für die Vielfalt der deutsch-indischen Beziehungen sehe – Beziehungen, die wir seit vielen Jahren pflegen und die wir mit den ersten Regierungskonsultationen 2011 auf eine neue Stufe gehoben haben.

Gestern haben wir die fünften deutsch-indischen Regierungskonsultationen durchgeführt. Meine Delegation und ich wurden von Premierminister Modi und seiner Regierung sehr herzlich empfangen. Regierungskonsultationen haben den Vorteil, dass sie die gesamte Bandbreite der Kooperationen abbilden. Diese Bandbreite reicht von Fragen der nachhaltigen Entwicklung über Themen unserer Wirtschaftsbeziehungen, der Innovation und der Digitalisierung bis hin natürlich auch zu außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen.

Wir haben vereinbart, beim Klimaschutz und bei innovativen Technologien für mehr Nachhaltigkeit noch stärker als ohnehin schon zusammenzuarbeiten. Wir haben beschlossen, die sogenannte „Deutsch-Indische Partnerschaft für grüne urbane Mobilität“ einzugehen. Dafür werden wir in den nächsten fünf Jahren eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Unter anderem wollen wir im Bundesstaat Tamil Nadu 500 Elektro-Busse neu einsetzen sowie 2.000 alte Diesel-Busse durch energieeffizientere Modelle austauschen. Wer sich gestern die Luftqualität in Delhi angeschaut hat, hat bestimmt ein paar gute Argumente dafür, dass noch mehr Elektro-Busse gebraucht werden.

Wir wollen auch bei der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz enger zusammenarbeiten. Hier haben wir uns zwei Bereiche herausgesucht, die von großer Bedeutung sein können, wenn sich daraus etwas ergibt. Das sind zum einen der Gesundheitsbereich und zum anderen der Landwirtschaftsbereich. Die Bundeslandwirtschaftsministerin ist hier. Sie alle wissen, welche große Bedeutung die Landwirtschaft für Indien hat. 50 Prozent der Menschen sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Die Erträge sind längst noch nicht so, wie sie sein könnten. Die Verluste nach der Ernte sind groß. Die gesamten logistischen Zusammenhänge müssten verbessert werden. Auch für Kooperationen unter den vielen kleinen Landwirten kann man im ländlichen Raum noch sehr viel machen. Man muss ja Folgendes sehen: Wenn in den ländlichen Gebieten nichts passiert, strömen die Menschen in die urbanen Gebiete, die dann völlig überbeansprucht werden. Das heißt, jede Entwicklung des ländlichen Raums ist auch eine gute Nachricht hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung der urbanen Räume. Deshalb halte ich das für sehr wichtig.

Die Digitalisierung der Agrarbranche trägt dazu bei, nicht nur Erträge zu steigern, sondern auch Dünger, Pflanzenschutzmittel und Saatgut optimaler einzusetzen, was dann auch den Boden und das Grundwasser schont. Das Wasserthema ist ja hier in Indien in mehrfacher Hinsicht ein Thema. Dass auch im Gesundheitsbereich der digitale Fortschritt viele Möglichkeiten bietet, zum Beispiel, indem man über die Auswertung großer Datenmengen auch Rückschlüsse für Therapien ziehen kann, ist ja klar.

Ich bin deshalb auf die Arbeitsergebnisse der neu vereinbarten „Digital Expert Group“ sehr gespannt – einer Initiative deutscher und indischer Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die für die deutsche und indische Regierung Vorschläge für gemeinsame Projekte und politische Maßnahmen entwickeln soll. Vielleicht können Sie sich auch als Auslandshandelskammer noch einmal detailliert mit unseren verschiedenen Projekten befassen und schauen, wo für wen etwas dabei ist und wo vielleicht über das eigene Engagement hinaus noch etwas gemacht werden kann.

Meine Damen und Herren, deutsche und indische Unternehmen arbeiten aus vielen Gründen zusammen; deutsche Unternehmen sind aus vielen Gründen hier in Indien präsent. Das Land überzeugte in den letzten 20 Jahren mit einer Wachstumsrate von sieben Prozent. Indiens Markt ist nicht nur enorm groß, sondern entwickelt sich auch sehr dynamisch. Deshalb sind Sie interessiert; und aus diesem Grund begleitet mich auf dieser Reise auch eine Wirtschaftsdelegation, die mit Ausnahme von Herrn Kaeser, der mit Siemens ein großes Unternehmen verkörpert, viele Mittelständler repräsentiert, die ihren Weg durch das indische Bürokratielabyrinth natürlich auch lernen müssen. Deshalb haben wir gestern beim Roundtable mit Ministerpräsident Modi auch sehr offen über die jeweiligen Hemmnisse gesprochen, die unsere Unternehmen in Indien vorfinden, die aber auch die indischen Unternehmen in Europa vorfinden. Denn auch dort gibt es sehr viel Bürokratie. Wir werden noch einmal mit der Europäischen Kommission sprechen, ob nicht bestimmte Dinge vereinfacht werden können.

Wir sehen gute Möglichkeiten für deutsches Engagement bei der weiteren Modernisierung der indischen Infrastruktur – insbesondere bei den geplanten indischen Hochgeschwindigkeitszugverbindungen. Wir wollen auch unseren Beitrag bei der Gestaltung der Urbanisierung leisten, für Smart Cities und erneuerbare Energien. Indien hat bei erneuerbaren Energien eine Kapazität von rund 75 Gigawatt. Aber das ist für ein so großes Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben das auch schon mit 83 Millionen Einwohnern in Deutschland. Aber es ist gut, dass weitere 100 Gigawatt in den nächsten Jahren dazukommen sollen.

Ein Riesenthema – so wird es mir immer wieder dargestellt – ist das Wasser- und Abfallmanagement. Hier hat Deutschland sehr gute Technologien anzubieten. Wir müssen allerdings auch sagen – das sagen uns alle Unternehmen –: B2B, von Unternehmen zu Unternehmen, funktioniert das zwar schon recht gut. Aber wenn es um das Abfallmanagement in den Städten geht, wenn also die Kunden die Einwohner sind, dann ergibt sich doch eine ganze Reihe an Schwierigkeiten, weil die Bepreisung von bestimmten Leistungen der Daseinsvorsorge keine ganz einfache Sache ist, wenn man Stadtteile mit sehr unterschiedlichen Lebens-, Niveau- und Einkommensverhältnissen hat. In den besser begüterten Stadtteilen könnte man sicher Preise verlangen, die den Leistungen entsprechen. In anderen Bereichen ist das sehr viel schwieriger. Wir haben in Chile gesehen, wie die Erhöhung der Fahrpreise um vier Cent für U-Bahnen sehr schnell große soziale Verwerfungen mit sich bringen können. Das ist sicherlich nicht ganz einfach. Aber auf Dauer müssen Umweltleistungen, Abfall, Strom und anderes natürlich bepreist werden, denn sonst wird das nicht richtig in Gang kommen.

Nun wissen wir, dass gute Absichten allein nicht ausreichen. Deshalb haben wir ein Instrument installiert, nämlich das sogenannte Fast-Track-Verfahren. Das heißt, wenn bestimmte Investitionen stocken, kann über die Botschaft bzw. den Botschafter Lindner ein Weg zum Amt des Ministerpräsidenten gefunden werden, wo diese Fälle besprochen werden und geschaut wird, wo es hakt. Die deutsche Wirtschaft hat den Wunsch geäußert, so etwas am besten in jedem Bundesstaat Indiens zu haben, weil viele Entscheidungen auf der bundesstaatlichen Ebene fallen. Da wollen wir dranbleiben. Wir müssen außerdem eine Neuregelung zum Schutz deutscher Investitionen finden. Die alte Regelung ist 2016 ausgelaufen.

Wir brauchen noch dringlicher – darüber habe ich auch gestern mit dem Ministerpräsidenten ausführlich gesprochen – einen neuen Anlauf bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein europäisch-indisches Freihandelsabkommen. Wir waren diesbezüglich schon einmal ziemlich dicht dran, aber dann haben sich doch einige strittige Fragen ergeben, die vor allem den Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen und die Landwirtschaft betreffen. Wir haben uns aber vorgenommen, mit der neuen Europäischen Kommission einen neuen Anlauf zu machen, zumal der Handelskommissar in der neuen Kommission bisher für Landwirtschaft in der alten Kommission zuständig war und sich in diesem Bereich sehr gut auskennt.

Wir, Indien und Deutschland, wollen uns insgesamt für das multilaterale Handelssystem einsetzen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat am Rande der UN-Generalversammlung mit seinem französischen Kollegen eine Versammlung mit Ländern abgehalten, die sich zur multilateralen Herangehensweise bekennen. Erfreulicherweise hat auch Indien dabei mitgemacht. Wir wollen Multilateralismus stärken. So haben das Premierminister Modi und ich gestern besprochen.

Indien gewinnt als wirtschaftsstarke und bevölkerungsreiche Nation in der internationalen Zusammenarbeit weiter an Gewicht. Das bedeutet natürlich auch eine gewachsene Verantwortung des Landes in internationalen Fragen. Wir sind schon in einigen maritimen UN-Missionen gemeinsam engagiert. Wir haben ein gemeinsames Interesse an der Entwicklung Afghanistans. Es geht natürlich auch immer um ein faires Verhältnis der Staaten zueinander. Das ist natürlich nur möglich, wenn es Verständnis füreinander gibt, wenn es die Bereitschaft gibt, einen fairen Interessenausgleich zu suchen und im Dialog Lösungen zu suchen. Das steht für eine Haltung, die Indien weltweit mit der großen Persönlichkeit von Mahatma Gandhi verkörpert, dessen 150. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Es war deshalb für mich gestern ein ganz besonderer Moment, gemeinsam mit dem Premierminister das letzte Wohnhaus Gandhis, Gandhi Smriti, zu besuchen. Für diese Gelegenheit danke ich von Herzen.

Wir begehen in diesem Jahr ja verschiedene Jubiläen. Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Zwei Jahre zuvor – im Jahr 1947 – hatte Indien seine Unabhängigkeit erreicht. Und zwei Jahre danach – im Jahr 1951 – haben Deutschland und Indien diplomatische Beziehungen aufgenommen. Das waren wichtige Schritte. Auch die Auslandshandelskammern haben seitdem großartige Arbeit geleistet. Ich will Ihnen hier allen, insbesondere dem Vorstand, noch einmal sagen, dass wir das schätzen. Sie sind neben dem politischen Botschafter weitere wichtige Botschafter in Indien, in diesem großen Land.

Ich darf Ihnen verraten, dass auf Sie vielleicht noch mehr Arbeit zukommt. Denn wir haben kürzlich ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet. Ich denke, gerade die Tatsache, dass inzwischen schon fast 20.000 indische Studenten in Deutschland studieren, ist eine gute Nachricht. Immer mehr Universitäten bieten englische Curricula an. Das heißt, die Sprachbarriere ist nicht mehr so gravierend, wie das früher einmal der Fall war. Wir freuen uns trotzdem über jeden, der Deutsch lernt. Das Goethe-Institut leistet in diese Richtung ja auch viel Arbeit. Man muss nicht mehr unbedingt fließend Deutsch sprechen, um in Deutschland eine Ausbildung zu machen. Als Erstes geht es um Fachkräftewissen; und dann werden die Deutschkenntnisse schon noch wichtiger und besser werden. Unser Vorschlag ist, dass die Auslandshandelskammern Anlaufpunkte für Menschen sind, die Fachkräfte in Deutschland sein wollen, sozusagen Angebote vermitteln und dann in enger Kooperation mit den Botschaften die Visa-Anträge ausfüllen. Wir wissen ja alle, dass manch einer klagt, wie lange die Visa-Bearbeitung dauert. Wir wollen, damit dieses Fachkräfteeinwanderungsgesetz funktioniert, einen Mechanismus aufsetzen, der ab März des nächsten Jahres von Anfang an funktioniert. Das werden wir Ende des Jahres mit der deutschen Wirtschaft besprechen. Ich könnte mir denken, dass es auch auf indischer Seite durchaus ein gewisses Interesse gibt, Fachkräfte nach Deutschland zu schicken.

Indien wird 2022  75 Jahre Unabhängigkeit feiern und genau in diesem Jahr die G20-Präsidentschaft übernehmen. Deutschland wird dann die G7-Präsidenschaft innehaben. Wir werden uns schon einmal überlegen, was wir an deutsch-indischen Höhepunkten in diesem Jahr miteinander vereinbaren können. Ich möchte jedenfalls damit schließen, zu sagen, dass ich glaube, dass unsere Zusammenarbeit noch deutlich mehr Potenzial hat. Indien wird 2030 mehr Einwohner haben als China. Indien wird nach der zweiten Wahl von Herrn Modi seine internationale Rolle stärken. Indien hat eine junge Bevölkerung, die in Wohlstand leben möchte, die aber auch Leistung erbringen möchte.

Insofern gebührt Ihnen Dank dafür, dass Sie hier Arbeitsplätze schaffen, dass Sie hier Erfahrungen weitergeben, dass Sie hoffentlich auch hier in Indien Geld verdienen. Das wollen wir natürlich auch. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass diese Beziehungen noch kräftiger, noch lebendiger und noch intensiver werden. Auf der politischen Seite ist der Wille jedenfalls vorhanden. Das haben wir mit diesen deutsch-indischen Regierungskonsultationen unterstrichen.

Herzlichen Dank dafür, dass ich heute bei der Eröffnung dabei sein durfte.