Rede von Bundeskanzler Scholz zum Großen Übersee-Tages und 100. Jubiläums des Übersee-Clubs e.V. Hamburg am 6. Mai 2022 in Hamburg

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Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Sehr geehrter Herr Behrendt!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages!
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft!
Sehr geehrte Abgeordnete des Bundestages und der Hamburgischen Bürgerschaft!
Sehr geehrter Ehrenbürger der Freien und Hansestadt Hamburg, Professor Michael Otto!
Sehr geehrter Herr Präses der Handelskammer!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Es ist eine große Ehre für mich, heute aus Anlass des 100. Jubiläums des Übersee-Clubs Hamburg zu Ihnen zu sprechen. Der Übersee-Club ist eine einzigartige Tradition in Hamburg, eine einzigartige Institution mit großer Reputation. Ihr Club hat sich, stillgelegt nur in der Zeit des NS-Regimes, seit 1922 über die Jahrzehnte hinweg immer wieder um den Fortschritt und Wohlstand Hamburgs verdient gemacht, sozusagen als Tauschbörse der Ideen und Konzepte oder, um es in der klassischen Formulierung Ihres Gründervaters Max Warburg zu sagen: Der Übersee-Club ist ein Sprechsaal, ein Sprechsaal für den rigorosen Wettbewerb der Argumente, der Positionen und Interessen, so wie ihn jedes freie, offene und demokratische Gemeinwesen braucht, wenn es dauerhaft erfolgreich sein will.

Das macht den Übersee-Club zwar sicherlich nicht zum einzigen, aber doch zu einem sehr bedeutenden Faktor für den besonderen Erfolg dieser Stadt. Als Hamburger darf ich sagen: unserer Stadt. Für Ihr verdienstvolles Werken und Wirken in den vergangenen 100 Jahren danke ich dem Übersee-Club und seinen vielen Mitgliedern von Herzen. Ohne den Übersee-Club wäre Hamburg heute ganz gewiss eine andere Stadt.

Meine Damen und Herren, als Erster Bürgermeister hatte ich bereits zweimal die Gelegenheit, bei Ihnen zu sprechen. Meine erste Rede vor dem Übersee-Club habe ich im Jahr 2013 gehalten. Mein allererster Satz lautete damals: „Unsere besten Jahre liegen vor uns.“ Bezogen habe ich das seinerzeit auf Hamburg, auf die Perspektiven dieser Stadt, auch wenn meine grundsätzliche Zuversicht über Hamburg hinauswies. Diese Stadt hat in den vergangenen Jahrzehnten aus eigener Kraft viel richtig gemacht.

Aber als weltoffene, weltweit eingebundene Handelsstadt bleibt Hamburg doch zugleich immer auf ein günstiges internationales Umfeld angewiesen. So gesehen wirkt mein damaliger Satz aus heutiger Sicht wie aus der Zeit gefallen. Allzu viel hat sich seitdem ereignet, was in eine völlig andere Richtung zu deuten scheint, und zwar in keine gute. Die Welt ist in Unordnung geraten. Über diese Entwicklungen will ich heute sprechen. Aber vor allem will ich darüber sprechen, welche Wege wir einschlagen werden, um den Lauf der Dinge wieder zum Besseren zu ändern, um trotz allem Fortschritt und neue Ordnung zu schaffen, jetzt erst recht.

Meine Damen und Herren, mehr als alles andere sind es die bitteren Ereignisse seit dem 24. Februar, die die globalen Perspektiven drastisch verdüstert haben. Unter Führung von Präsident Putin hat Russland die Ukraine überfallen, einen souveränen, friedlichen und demokratischen Staat in Europa, einen Staat, der nichts und niemanden bedroht hat, einen Staat, dessen Bürgerinnen und Bürger vollauf damit beschäftigt waren, ihre Städte, Regionen, Institutionen und Unternehmen aufzubauen. Russlands grausamer Angriffs- und Vernichtungskrieg mitten in Europa markiert einen radikalen Bruch mit der europäischen Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges. Weil das so ist, markiert dieser Krieg eine Zeitenwende. Das habe ich schon unmittelbar nach Ausbruch des Krieges so im Deutschen Bundestag gesagt. Mit jedem Tag, mit jeder Woche wird seither deutlicher: Putin und sein Regime vollziehen auch in zivilisatorischer Hinsicht einen Bruch, einen mutwilligen Ausstieg aus der Weltgemeinschaft, wie ihn nur wenige im 21. Jahrhundert für möglich hielten. Ein einfaches Zurück zum Status quo ante kann und wird es nach diesem Fanal nicht geben. Die Welt nach diesem Angriffs- und Vernichtungskrieg wird nicht mehr dieselbe sein wie davor. Sie ist es schon jetzt nicht mehr.

Meine Damen und Herren, sehr viele kluge Köpfe haben in den Jahren nach 1989 geglaubt, dass eine immer engere wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Verflechtung große Kriege wie diesen unmöglich machen würde. Annäherung durch Verflechtung, Wandel durch Handel, Modernisierungspartnerschaft, so und ähnlich lauteten Leitmotive und Konzepte aus dieser Denktradition. Es ist eine gute und ehrenwerte Denktradition, und sie reicht weit zurück.

Als der Übersee-Club vor 100 Jahren gegründet wurde, waren die Folgen des Friedensvertrages von Versailles das zentrale Thema der deutschen und europäischen Politik. In seiner Rede zur Gründung des Übersee-Clubs, setzte sich Max Warburg im Juni 1922 auch mit den ökonomisch und gesellschaftlich bedrohlichen Folgen der harten Reparationsregeln des Versailler Vertrags auseinander. Wichtigster internationaler Kritiker der Versailler Reparationsansprüche war damals der große britische Ökonom John Maynard Keynes, wenige Monate später, im Oktober 1922, der erste auswärtige Redner im Übersee-Club überhaupt.

Aber nicht auf Keynes bezog sich Max Warburg in seiner programmatischen Gründungsrede, sondern auf einen in dieser Frage Gleichgesinnten, den britischen Staatsmann und vormaligen Finanzminister Reginald McKenna. Warburg zitierte ihn mit den folgenden Sätzen:

„Wir sollten endlich einsehen, dass die modernen Produktions- und Verkehrsverhältnisse so enge Handelsbeziehungen zwischen allen Ländern herbeigeführt haben, dass jedes einzelne ein untrennbarer Teil der gesamten Weltwirtschaft geworden ist. Kein Land und noch weniger eine Gruppe von Ländern kann zerstört werden, verarmen und arbeitsunfähig werden, ohne die Maschinen der Weltwirtschaft in ihrem Gang zu stören. Wenn Russland keinen Tee mehr in Indien oder China kauft, verkleinert sich unser Baumwollwarenmarkt im Osten, die Vereinigten Staaten verkaufen uns weniger Rohbaumwolle zum Schaden unserer Schifffahrt und unseres Bank- und Versicherungswesens.“

Meine Damen und Herren, das sind Sätze von bemerkenswerter und von beklemmender Aktualität. Rational betrachtet macht die enge Verflechtung der Volkswirtschaften kriegerische Konflikte längst so kostspielig, dass kein Akteur auf die Idee kommen dürfte, zu diesem Mittel zu greifen. In den vergangenen Jahrzehnten der Globalisierung hat sich diese grundlegende Einsicht auch international immer weiter ausgebreitet.

Aber jede rationale Kosten-Nutzen-Logik läuft auf Grund, wo irrationale Akteure aus ideologischer Verblendung die Idee der Kooperation in den Wind schlagen. Wir müssen konstatieren: Genau das ist jetzt eingetreten. Putins Hass auf die freiheitliche Ukraine ist größer als sein Interesse an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung seines eigenen Landes. Seine imperialistische und revanchistische Ideologie von russischer Macht und russischer Größe bedeutet ihm mehr als das Wohlergehen des eigenen Volkes. Damit richtet sich Putins brutale Aggression nicht nur gegen die Ukraine, wo die russische Armee unvorstellbares Leid und Zerstörung anrichtet. Sie richtet sich auch gegen jegliche ökonomische Vernunft; sie richtet sich gegen die Idee der friedlichen Kooperation zum allseitigen Vorteil, und sie richtet sich gegen das wohlverstandene Interesse des russischen Volkes. Damit hat Präsident Putin eine radikal neue Wirklichkeit geschaffen, in Europa und weltweit.

In dieser neuen Wirklichkeit müssen wir handlungsfähig sein. In dieser neuen Wirklichkeit müssen wir uns künftig behaupten. Wie uns das gelingen kann und dass uns das gelingen kann, auch das ist heute mein Thema.

Meine Damen und Herren, klar ist zunächst: Russland darf seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen. Hier geht es um die Souveränität der Ukraine, um die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, aber hier geht es zugleich um die Zukunft jeder regelbasierten Weltordnung schlechthin. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Friedensordnung und deren Fundament, die Charta der Vereinten Nationen und die universellen Menschenrechte. Machen wir uns das bewusst: Es ist eine Großmacht ‑ mit Sitz im UN-Sicherheitsrat noch dazu ‑, die diesen verbrecherischen Krieg vorantreibt. Kommt Putin damit durch, dann droht internationale Regellosigkeit. Schon allein deshalb darf Russland nicht die Oberhand behalten.

Darum reagieren wir gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern so entschlossen und so geschlossen auf die neue Lage. Wir leisten der Ukraine jegliche Unterstützung, die wir geben und zugleich verantworten können. Wir liefern der Ukraine in großem Umfang die Waffen, die sie benötigt, um sich wirksam zu verteidigen.

Vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte ist das einerseits alles andere als selbstverständlich, andererseits aber auch folgerichtig. Denn so ‑ und ich bin überzeugt: nur so ‑ erfüllen wir den deutschen Nachkriegskonsens des „Nie wieder!“ heute glaubwürdig mit Leben.

Zugleich bauen wir die militärische Unterstützung für unsere Verbündeten in Mittel- und Osteuropa aus. Damit helfen wir der Ukraine direkt mit ihren Waffen sowjetischer Bauart, die für die ukrainische Armee schnell und effektiv einsetzbar sind. Im Kreis der Staaten der Europäischen Union, der NATO und der G7 stimmen wir uns fast täglich ab. Gemeinsam haben wir harte Sanktionen verhängt, gemeinsam präzisieren und verschärfen wir diese Sanktionen Schritt für Schritt weiter.

Schon jetzt ist Russlands Wirtschaft schwer angeschlagen. Und immer spürbarer ‑ mit dem Ausbleiben von Ersatzteilen, Halbleitern und anderen High-Tech-Komponenten ‑ wird auch Russlands Fähigkeit zu wirksamer Kriegsführung Schaden nehmen.

Zugleich stellen wir sicher, dass die Ukraine umfassende finanzielle und humanitäre Unterstützung erhält. Im Rahmen der G7 tragen wir gemeinsam mit den internationalen Finanzorganisationen maßgeblich dazu bei, 50 Milliarden Dollar zu mobilisieren.

Meine Damen und Herren, unter dem Strich: Putin darf diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen, und er wird diesen Krieg auch nicht gewinnen. Dafür kämpfen die Ukrainer und Ukrainerinnen mit bewunderungswürdiger Tapferkeit und Geschlossenheit ‑ seit mittlerweile über 70 Tagen ‑, und dabei können sie sich auf unsere solidarische Unterstützung verlassen.

Dazu gehört übrigens auch die „strategische Partnerschaft“ zwischen Hamburg und Kiew, die Peter Tschentscher und sein Amtskollege Vitali Klitschko erst vor wenigen Tagen vereinbart haben. Dieser „Pakt für Solidarität und Zukunft“ ist eine hervorragende Sache. Er sorgt für akute Hilfe in der Not und schafft eine Perspektive für den Wiederaufbau der Infrastruktur und der Wirtschaft, und er macht deutlich: Gemeinsam mit allen unseren Freunden und Verbündeten stellen wir uns revanchistischen, imperialen und expansiven Ideologien entschlossen entgegen ‑ heute, morgen und in der Zukunft. Indem wir der Ukraine helfen, ihre Demokratie und ihre Freiheit zu verteidigen, verteidigen wir zugleich unsere Demokratie und unsere Freiheit.

Meine Damen und Herren, die grundsätzlichen Konsequenzen, die sich aus Russlands Angriffskrieg für die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ergeben, habe ich bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn im Deutschen Bundestag dargelegt. Ich will an dieser Stelle nur zwei Dinge noch einmal sehr deutlich bekräftigen: Wir arbeiten mit dem allerhöchsten Nachdruck daran, dass Deutschland so schnell wie irgend möglich wieder eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr hat, die uns zuverlässig schützt und unseren Bündnispflichten entspricht. Ebenso arbeiten wir mit allerhöchstem Nachdruck daran, Deutschlands Abhängigkeit von russischer fossiler Energie so schnell wie irgend möglich zu beenden. Das sind zwei strategische Schlüsselaufgaben, und bei beiden kommen wir mit großen Schritten voran.

Meine Damen und Herren, was Sie alle heute aber vielleicht noch mehr beschäftigt, das sind die längerfristigen ökonomischen Konsequenzen der Zeitenwende, die wir gerade erleben. Schon jetzt ist klar: Zu den globalen Auswirkungen dieses Krieges gehören massiv steigende Preise für Energie und Nahrungsmittel. Versorgungsengpässe zeichnen sich ab ‑ mit allen wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Verwerfungen, die sich daraus ergeben können. Zugleich sinkt schon seit 2008 ‑ empirisch messbar und erstmals seit den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ‑ das Ausmaß der wirtschaftlichen Offenheit und der internationalen Vernetzung.

Finanz- und Schuldenkrisen, Inflation, jetzt Russlands Krieg: Die Entwicklungen der jüngsten Zeit zeigen uns eindringlich: Freier Handel, fairer Wettbewerb und offene Märkte sind keine Selbstverständlichkeiten. Gerade die Pandemie hat uns die Verletzlichkeit unserer Lieferketten drastisch vor Augen geführt. Schon machen in dieser Lage neue Schlagwörter die Runde. Von „Nearshoring“ ist die Rede, von „Slowbalization“ oder von Deglobalisierung.

Meine Damen und Herren, strategische Abhängigkeiten zu reduzieren ‑ das ist das eine. Mehr wirtschaftliche Resilienz brauchen wir nach den Erfahrungen der jüngsten Zeit unbedingt. Wir müssen in der Lage sein, Krisen aus eigener Kraft zu meistern. Darum streben wir auch stärkere Diversifizierung an ‑ bei unserer Energieversorgung und anderen strategisch wichtigen Importen und Investitionen. Aber andererseits müssen wir aufpassen, dass der Ruf nach Deglobalisierung nicht zum „decoupling“ führt, zur Abkoppelung, zur Forderung „My Country First“, zu neuer Abschottung, zu neuen Zollschranken und neuem Protektionismus.

Hier in Hamburg, erst recht vor dem Übersee-Club, muss ich niemanden von den prinzipiellen Vorzügen der Globalisierung überzeugen. Hamburgs Interessen als Handels- und Hansestadt liegen seit Jahrhunderten im freien internationalen Handel, in der Freizügigkeit von Arbeit und Kapital. Das ist unsere besondere Hamburger DNA.

Aber es geht ja nicht nur um Hamburg. In den vergangenen 40 Jahren ist weltweit der Anteil der Menschen in extremer Armut von über 40 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum ging die Kindersterblichkeit von 10 Prozent auf unter 4 Prozent zurück, und die Lebenserwartung ist, global gesehen, um volle 12 Jahre angestiegen: von 61 auf 73 Jahre.

Besonders erfreulich ist, dass sich diese Trends für die Entwicklungsländer noch viel markanter zeigen als im globalen Durchschnitt. Milliarden von Menschen weltweit verdanken ihren Aufstieg aus der Armut der globalen Arbeitsteilung.

Aber auch Deutschland insgesamt profitiert von der Globalisierung. Handel schafft Arbeitsplätze ‑ und zwar auch Arbeitsplätze hier bei uns. Allein ein Viertel aller Erwerbstätigen in unserem Land ist im Exportsektor beschäftigt. Deshalb sage ich mit aller Klarheit: Die Deglobalisierung funktioniert nicht. Sie ist keine gute Idee. Sie ist, wo sie sich messbar vollzieht, auch keine gute Entwicklung.

Auch darauf wies Max Warburg schon in seinem Redetext vor 100 Jahren hin, in dem es hieß:

„Der Versuch zur Selbstbescheidung als geschlossener Handelsstaat wäre für uns Deutsche ein Selbstmordversuch, für kein Land der Welt ein Glück.“

Daran hat sich nichts geändert. Darum haben wir allen Grund, uns dem Trend der Deglobalisierung entgegenzustemmen, gemeinsam und mit aller Kraft.

Aber, meine Damen und Herren, das heißt keineswegs, dass wir das Unbehagen an bestimmten Auswüchsen der Globalisierung ignorieren könnten oder sollten. Wir müssen dieses Unbehagen wahrnehmen, und wir müssen es auch sehr ernst nehmen. Denn wenn wir das nicht tun, dann könnten sich am Ende diejenigen durchsetzen, die das Kind mit dem Bade ausschütten wollen.

Globalisierung versus Deglobalisierung ‑ das ist die falsche Entgegensetzung. Was wir tatsächlich brauchen, ist eine kluge Globalisierung mit starken Regeln und starken Institutionen. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige Globalisierung, die Rücksicht nimmt auf die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und auf künftige Generationen. Was wir brauchen, ist solidarische Globalisierung, die messbar und subjektiv erlebbar allen Bürgerinnen und Bürgern überall zugutekommt.

Meine Damen und Herren, kluge, nachhaltige und solidarische Globalisierung – so ein Leitbild kann Orientierung und Richtung geben. Was es wert ist, das erweist sich in der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit zu verbessern gelingt nur durch internationale Zusammenarbeit.

Als G7-Präsidentschaft stehen wir dabei dieses Jahr ganz besonders in der Verantwortung. Auch hier hat der russische Angriffskrieg unmittelbare Folgen für unsere Agenda und unsere Ziele. Die Verknappung von Lebensmitteln und Energie, die Engpässe in den Lieferketten, die drastischen Preissteigerungen – hier rund um den Hamburger Hafen können Sie das alles ja hautnah und in Echtzeit mitverfolgen. Die gesamte globale Ernährungssicherheit ist durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine massiv bedroht. Das erzeugt neue Spannungen, neue Krisen in der internationalen Gemeinschaft.

Bei den Abstimmungen in der UN-Generalversammlung im März haben sich jeweils 141 und 140 Staaten auf die Seite des Rechts, der Freiheit und des Friedens gestellt. Das war eine eindrucksvolle Manifestation des Zusammenhalts gegen Gewalt und Rechtsbruch. Aber dieser internationale Zusammenhalt ist fragil. Darum werden wir uns mit all unserer Kraft dafür einsetzen, dass die globale Allianz, die fest hinter der regelbasierten internationalen Ordnung steht, jetzt keine Risse bekommt.

Eine absolut zentrale Aufgabe unserer G7-Präsidentschaft ist deshalb das, was neudeutsch „Outreach“ genannt wird: Wir gehen aktiv auf unsere internationalen Partner zu, wo immer wir nur können. Darum lade ich zum G7-Gipfel Ende Juni in Elmau nicht nur Vertreterinnen und Vertreter von internationalen Organisationen ein, sondern auch Staats- und Regierungschefs aus anderen Weltregionen ‑ aus Indonesien, Indien, Senegal und Südafrika ‑, um mit ihnen über die großen Zukunftsfragen zu sprechen.

Es muss völlig klar sein: Die G7 ist kein exklusiver Klub der reichen westlichen Industrienationen. In der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts versteht sich die G7 entweder als Kern einer starken globalen Allianz für Demokratie und Multilateralismus ‑ oder sie wird nicht mehr viel erreichen. Mehr denn je ist es jetzt wichtig, dass wir zeigen: Wir nehmen unsere Verantwortung für die großen globalen Herausforderungen wahr. Und genau darum stärken wir Partnerschaften weltweit. Auch hier lautet das Stichwort: Diversifizierung. Das gilt für die Pandemie; das gilt für die Klimakrise und die nachhaltige Transformation der Industrie, und das gilt jetzt eben auch im Hinblick auf die weltweiten Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Meine Damen und Herren, der Kampf gegen die globale Klimakrise ist übrigens ein weiteres Beispiel dafür, dass Deglobalisierung tatsächlich das Letzte ist, was der Welt in dieser Zeit weiterhelfen würde. Denn es reicht ja nicht, wenn die großen Industriestaaten finden, jetzt sei es aber mal höchste Zeit, Klimaneutralität anzustreben und Emissionen einzuschränken. Das allein würde nur zu Carbon Leakage führen, dazu, dass besonders heftig CO2-emittierende Unternehmen in Länder mit laxer Klimapolitik abwandern. Also brauchen wir internationale Partner weit über die G7 hinaus, die sich wie wir einer ehrgeizigen Klimapolitik verschreiben.

Ein zentrales Ziel unserer deutschen G7-Präsidentschaft ist es deshalb, deutliche Fortschritte hin zu einem internationalen Klimaklub zu machen, der allen Staaten offensteht, die sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichtet. Möglichst alle sollen mitmachen, weil wir ohne die Zusammenarbeit zwischen Emittenten, Schwellen- und Entwicklungsländern beim Klimaschutz nicht weiterkommen. Zugleich verpflichten sich diejenigen, die mitmachen, auf die Einhaltung bestimmter Mindeststandards. So beenden wir den Wettbewerb um die laxesten Regeln und schaffen stattdessen faire, klimafreundliche Wettbewerbsbedingungen. Dafür brauchen wir mehr Kooperation, mehr Allianzen, mehr globale Zusammenarbeit und nicht weniger.

Das gilt erst recht, wenn wir den Wiederaufstieg Asiens und das Entstehen einer multipolaren Welt in Rechnung stellen. Beides erleben wir ja derzeit. Die bipolare Welt des Kalten Kriegs ist endgültig Geschichte und wird auch nicht von einer neuen Bipolarität zwischen den USA und China abgelöst. Dafür gibt es im 21. Jahrhundert zu viele Akteure, die Mitsprache einfordern und Einfluss nehmen. Indien und Japan, Südkorea, Indonesien und Vietnam zählen zum Beispiel dazu, aber auch bevölkerungsreiche Länder in Afrika und in Südamerika.

Überall auf der Welt haben sich Gesellschaften auf den Weg gemacht. Überall auf der Welt ergreifen viele Millionen Menschen entschlossen die Chancen und die neuen Möglichkeiten, die ihnen die Globalisierung bringt. Um es sehr deutlich zu sagen: Sie schlagen ihre eigenen Wege ein. Sie warten nicht auf uns.

Ihre stärkere Einbeziehung, ihre größere Mitsprache im Rahmen der internationalen Ordnung ‑ das liegt deshalb in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. Nur so werden wir diese Länder davon überzeugen, dass es sich lohnt, die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts weiterhin multilateral zu organisieren. Zugleich werden wir unsere Interessen als Europäer in dieser multipolaren Welt mit größerem Nachdruck verteidigen müssen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist ein souveränes Europa. Ein Europa, das gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und anderen Demokratien dafür sorgt, dass Demokratie in der multipolaren Welt eine Perspektive hat.

Meine Damen und Herren, diese Perspektive ist realistisch. Weltweit haben sich im vorigen Jahr 137 Staaten auf eine globale effektive Mindestbesteuerung geeinigt. Das ist ein eindrucksvoller Erfolg des Multilateralismus. Es zeigt den Mehrwert von multilateralen Formaten wie den G20, so herausfordernd die Zusammenarbeit mit manchen Partnern dort schon immer war und jetzt noch mehr ist.

Was wir bei der Mindeststeuer erreicht haben, das ist ein wichtiges Zeichen, ein Zeichen der Entschlossenheit und der Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft. Dieses Zeichen kann ein Vorbild sein auf anderen wichtigen Feldern: für einen fairen, freien und regelbasierten Handel, für Menschenrechte, für die internationale Zusammenarbeit im Gesundheitssektor, für einen wirksamen globalen Klima- und Umweltschutz.

Genau darin liegt die zentrale Botschaft, die ich Ihnen allen ‑ und dem Übersee-Club auf dem Weg in sein zweites Jahrhundert ‑ mitgeben möchte: Die Zeiten mögen schwierig sein, die Interessen zuwiderlaufend, die Konflikte enorm – und trotzdem bleibt Fortschritt für eine bessere, freiere und gerechtere Welt möglich. Wir dürfen nur niemals aufhören, für diesen Fortschritt zu kämpfen.

Und wir müssen jede sich ergebende Gelegenheit zum Fortschritt ergreifen, auch da, wo er noch so unmöglich erscheint. Ja, Russlands Aggression gegen die Ukraine ist die größte Katastrophe unserer Zeit. Aber zugleich hat dieser Krieg eine völlig neue Entschlossenheit und Einigkeit der westlichen Demokratien hervorgebracht. Wer hätte das noch vor wenigen Monaten für möglich gehalten?

Diese Entschlossenheit werden wir bewahren. Auf dieser Einigkeit werden wir aufbauen. Dann wird vieles möglich, was bis vor Kurzem noch unmöglich erschien. Und dann liegen unsere besten Jahre immer noch vor uns.

Schönen Dank!