„Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt“

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Interview des Kanzlers mit der „Grupo de Diarios América“ „Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt“

Auf der Reise des Kanzlers nach Argentinien, Chile und Brasilien soll es um die globalen Herausforderungen gehen, darunter auch die, die mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängen, wie zum Beispiel die Veränderung des Energiemix und die Chancen, die sich in den lateinamerikanischen Ländern in diesem Bereich bieten. „Wir suchen Partnerschaften auf Augenhöhe und voller Respekt“, so Scholz im Interview mit „La Nación" (ARG), „El Mercurio (CHL) und „O Globo" (BRA).

7 Min. Lesedauer

Bundeskanzler Olaf Scholz.

Bundeskanzler Olaf Scholz.

Foto: Bundesregierung/Kugler

Herr Bundeskanzler, sehen Sie eine Änderung in der Weltordnung, welche uns zu einer Bipolarität - Demokratien im Gegensatz zu Autokratien – führt, oder sehen Sie die Welt weiterhin, wie Sie das in Ihrer Reise nach Peking im November selbst dargestellt hatten, als eine multipolare Welt mit den Schwellenländern, einschließlich der Lateinamerikaner, als neue mögliche Machtzentren?  

Bundeskanzler Olaf Scholz: Die Welt wird multipolar, davon bin ich fest überzeugt. Es wird in Zukunft nicht zwei Blöcke geben, sondern eine ganze Reihe einflussreicher Staaten – in Asien, Afrika und auch in Lateinamerika. Und diese Welt sollte multilateral gestaltet sein, sodass möglichst viele Staaten miteinander kooperieren. Ich werbe für eine regelbasierte Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, damit wir die anstehenden Herausforderungen wie den Kampf gegen den Klimawandel, die soziale und ökologische Transformation und eine globale Gesundheitspolitik miteinander meistern können.

Betrachten Sie den Krieg in der Ukraine als einen Kampf um die Verteidigung demokratischer Werte, so wie der Präsident Selenskyi es darstellt, und falls das so ist, welche Rolle erwarten Sie von den lateinamerikanischen Ländern? 

Scholz: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein eklatanter Bruch des Völkerrechts und damit keine rein europäische Angelegenheit. Wer sich über zentrale Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen hinwegsetzt, sägt am Fundament der internationalen Ordnung. Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt. Sein neoimperialer Feldzug darf keinen Erfolg haben. Mit unseren Partnern in Argentinien, Brasilien, Chile und in vielen anderen Ländern Lateinamerikas und der Karibik verbindet uns ein festes Fundament aus Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht. Gemeinsam stehen wir für staatliche Souveränität und friedliche Konfliktbeilegung weltweit ein.

Der Krieg in der Ukraine wird bald schon ein Jahr alt. Sie haben versucht, diplomatischen Kontakt zu Putin zu halten. Glauben Sie, dass es Möglichkeiten gibt, um einen Verhandlungskanal mit dem Kreml zu eröffnen? 

Scholz: In meinen Telefonaten mit Präsident Putin habe ich mich immer wieder für ein sofortiges Ende der russischen Angriffe, einen vollständigen Rückzug der russischen Truppen und Verhandlungen ausgesprochen. Russland hingegen setzt auch fast ein Jahr nach Beginn seines Angriffskriegs weiterhin auf eine militärische Eskalation, trotz der vielen Toten auf beiden Seiten und obwohl es keines der Ziele, die es mit dem Überfall auf die Ukraine verbunden hat, erreichen konnte. 

Das Vermächtnis von Angela Merkel wurde wegen des Krieges in der Ukraine in Frage gestellt. Meinen Sie, dass Ihre Vorgängerin Fehler bei ihrer Einschätzung Russlands begangen hat, und was hat Ihre Regierung bisher getan, um diese zu korrigieren? 

Scholz: Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende und Deutschland hat sich schnell an die neue Realität angepasst. Eine Realität, in der wir nicht mehr mit Russland kooperieren. Innerhalb von wenigen Monaten haben wir die Energieversorgung in Deutschland umgestellt und uns unabhängig gemacht von Gas, Erdöl oder Kohle aus Russland. Und wir arbeiten daran, einseitige Abhängigkeiten unserer Wirtschaft zu verringen. 

Die Krisen, so komplex und schmerzhaft wie sie sein mögen, können auch Chancen bringen. Wo sieht Deutschland diese Chancen der Zusammenarbeit mit Ländern wie denen Lateinamerikas, welche wichtige Lebensmittelhersteller sind, manche auch Energie und erneuerbare Energien erzeugen, von Windenergie über grünen Wasserstoff in Chile und Argentinien. In beiden Ländern liegen auch große Lithiumreserven, welche wichtig sind für elektrisch betriebene Fahrzeuge. Wie ich verstehe, reisen Sie mit einer Delegation von Unternehmern. 

Scholz: Bei Erneuerbare Energien, grünem Wasserstoff und einem verantwortungsvollen Rohstoffhandel wollen wir ganz konkret stärker zusammenarbeiten mit unseren Partnern in Lateinamerika und der Karibik. Die Fähigkeiten und Potentiale unserer dortigen Partner schätzen wir sehr. Wir suchen Partnschaften auf Augenhöhe und voller Respekt. Unser Ziel ist, gemeinsam Akzente zu setzen für weltweiten Klima-, Umwelt- und Biodiversitätsschutz, für die Dekarbonisierung und grüne Transformation unserer Industrien.

In diesem Zusammenhang sagen viele, dass Europa Umweltschutzmaßnahmen von anderen Ländern fordert, während in Europa selbst der Verbrauch an fossilen Kraftstoffen aufgrund des Krieges gestiegen ist. Betrachten Sie das als widersprüchlich? Sie regieren in einer Koalition mit den Grünen, einer Partei, welche sich selbst als ökologisch definiert. 

Scholz: Richtig ist, dass wir in diesem Jahr mehr fossile Energie einsetzen müssen, weil wir nicht mehr auf Energielieferungen aus Russland setzen können. Übergangsweise nutzen wir noch Kohle und Gas. Aber Deutschland will bis 2030 rund 80 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien gewinnen und bis 2045 komplett klimaneutral sein. Zusammen mit unseren Lateinamerikanischen Partnern wollen wir weltweit Erneuerbare Energien stärken, die Erzeugung von grünem Wasserstoff für einen funktionierenden Weltmarkt voranbringen und gemeinsam erreichen, dass Wohlstand auch CO2 neutral möglich ist. Dieser Umbau unserer Industrien ist die größte technologische Modernisierung der vergangenen hundert Jahren und wir werden dabei die sozialen Auswirkungen für unsere Bürgerinnen und Bürger im Auge behalten.

Mit der neuen Regierung von Lula in Brasilien, sehen Sie bessere Erfolgsaussichten für das Abkommen zwischen Mercosur und EU? Was fehlt, um den Vertrag voranzutreiben? 

Scholz: Deutschland ist eine Handelsnation und darum bemüht, seine Wirtschaftsbeziehungen weiter zu diversifizieren. Dabei legen wir Wert auf moderne Standards, auch zu den Themen Nachhaltigkeit, Umweltschutz und faire Arbeitsbedingungen, im Einvernehmen mit unseren Partnern. Wir unterstützen sehr die Bemühungen der EU-Kommission mit den MERCOSUR-Partnern zeitnah eine Einigung zu erreichen.

Neulich hat die deutsche Polizei eine rechtsextreme Gruppe aufgelöst, welche anscheinend einen Putsch geplant haben soll. Die deutsche rechtsextreme Szene hat auch Verbindungen mit der brasilianischen rechtsextremen Szene. Hält die deutsche Regierung ein Auge auf diese und auch auf andere Verbindungen? 

Scholz: Den deutschen Sicherheitsbehörden ist im Dezember ein harter Schlag gegen eine diffuse extremistische Szene gelungen, die unseren Staat und die Verfassungsordnung ablehnen und auch vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschrecken. Durch das Einschreiten konnten die Behörden wohl Schlimmeres verhindern. Auch die Ereignisse in Washington D.C. 2021 und vor wenigen Wochen in Brasília haben uns gezeigt, welche Gefahren von Extremistinnen und Extremisten ausgehen. Die erfolgreiche Reaktion auf diese Gefahr zeigt uns, wie wehrhaft die Demokratie sein muss, um sich zu schützen.

(Für Argentinien)
In welchen Bereichen könnten die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern vorangetrieben werden? Ist Energie ein Kernpunkt Ihres Besuches?

Scholz: Mit meinem Besuch in Argentinien werde ich die bereits engen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern vertiefen und voranbringen, allen voran auf dem Sektor der Erneuerbaren Energien. Hier werden wir mit der beabsichtigten Aufnahme des deutsch-argentinischen Energiedialogs einen großen Schritt vorangehen. Auch im diplomatischen und mutilateralen Bereich wollen wir noch stärker zusammenarbeiten.

Inwieweit wird die Beziehung belastet durch die Nähe Argentiniens zu den in Frage gestellten Regierungssystemen wie in Venezuela, Kuba oder Nicaragua?

Scholz: Argentinien spielt in Lateinamerika und der Karibik eine wichtige Rolle als Gestaltungsmacht und Vermittler in der Region. Wir schätzen diese Bemühungen unserer argentinischen Partner. Auch zu regionalpolitischen Fragen wie die Beziehungen zu einzelnen Ländern in Lateinamerika und der Karibik führen unsere Regierungen einen engen Austausch. 

(Für Brasilien)
Im Falle Brasiliens wird Deutschland nach dem Abgang von Jair Bolsonaro und der Rückkehr von Lula da Silva als Präsident die Investitionen in den Amazonasfonds wiederaufnehmen. Welches sind die Erwartungen der deutschen Regierung an Brasilien im Umweltbereich? Gibt es Pläne, die Investitionen zu erhöhen? 

Scholz: Ich kenne Präsident Lula gut und freue mich auf die Zusammenarbeit mit seiner Regierung. Klima- und Umweltschutz und der Schutz des Amazonas werden wichtige Themen für uns sein. Anfang des Jahres haben wir angekündigt, sofort 35 Millionen Euro in den Amazonienfonds einzuzahlen. Mit Präsident Lula teile ich das Anliegen, die grüne Transition unserer Wirtschaften und Gesellschaften sozial gerecht und nachhaltig zu gestalten. Auch dazu werden wir eng zusammenarbeiten.

(Für Chile)
Chile hat gerade sein strategisches Partnerschaftsabkommen mit der EU erneuert. Welche Bereiche sind in diesem Zusammenhang für deutsche Investoren und, parallel dazu, für Ihre Regierung in Chile von besonderem Interesse, um die bilateralen Beziehungen, die auch von langjährigen familiären und kulturellen Kontakten geprägt sind, zu vertiefen? 

Scholz: Die Einigung zwischen der EU und Chile auf ein modernisiertes Abkommen im Dezember war eine gute Nachricht, denn der Ausbau der Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Chile – wie auch mit der gesamten Region – ist nicht zuletzt auch geopolitisch von großer Bedeutung. Die Möglichkeiten für vertieften Handel und mehr Investitionen, die daraus erwachsen, sind natürlich groß und betreffen viele Bereiche. Erneuerbare Energien sind dabei nur ein wesentlicher Sektor. Wir hoffen darum, dass das Abkommen so schnell wie möglich in Kraft treten kann. Das Abkommen leitet auch einen intensivierten politischen Dialog ein und stärkt unsere Zusammenarbeit bei gemeinsamen globalen Herausforderungen wie der Bekämpfung des Klimawandels und dem Umweltschutz. Dies wird auch für die weitere Vertiefung der bilateralen Beziehungen hilfreich sein.

Die Grupo de Diarios América (GDA), zu der die Zeitungen „La Nación" (ARG), „El Mercurio (CHL) und „O Globo" (BRA) gehören, ist ein 1991 gegründeter bedeutender Medienverbund, der in Lateinamerika die demokratischen Werte, die Presse- und Meinungsfreiheit durch hochwertigen Journalismus für seine Leserschaft fördert.