„Es darf keinen Atomkrieg geben“

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SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, sind Sie ein Pazifist? 

Scholz: Nein. 

SPIEGEL: Warum nicht? 

Scholz: In der Welt, in der wir leben, ist es notwendig, die eigene Sicherheit auch mit einer ausreichenden Verteidigungsfähigkeit zu gewährleisten. Als Abgeordneter und als Regierungsmitglied habe ich viele Male Einsätzen der Bundeswehr im Ausland zugestimmt. Das hätte ich als Pazifist nicht machen können. 

SPIEGEL: Ist die SPD eine pazifistische Partei? 

Scholz: Die SPD ist eine Friedenspartei, aber sie war nie pazifistisch. Die beiden großen sozialdemokratischen Nachkriegskanzler, Willy Brandt und Helmut Schmidt, haben die Sicherheitslage in Europa und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu ihren Lebensthemen gemacht. Ihre Entspannungspolitik basierte auf der Einbindung in die Nato. 

SPIEGEL: Joschka Fischer, der ehemalige grüne Außenminister, sagt, die deutsche Gesellschaft müsse ihren instinktiven Pazifismus überdenken. Liegt er da richtig? 

Scholz: Zur Tradition unseres Landes gehört das Wissen um die dramatischen Konsequenzen zweier von Deutschland ausgehender Weltkriege, das den Rahmen unserer Politik bildet. Aber instinktiven Pazifismus kann ich nicht erkennen. Wie hätte sonst die Regierung von Gerhard Schröder den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr unterstützen können? Wie hätte es nach 9/11 das Afghanistan-¬Engagement der Bundeswehr geben können? Über beides gab es heftige Debatten, aber da war großer Rückhalt. 

SPIEGEL: Wir halten also fest: Weder Sie noch die SPD oder die Deutschen sind pazifistisch geprägt. Warum tun Sie dann nicht alles, was in Ihrer Macht steht, um der Ukraine militärisch gegen Russland beizustehen? 

Scholz: Wir tun genau das. 

SPIEGEL: Seit Tagen drängen Kiew, die Bündnispartner und Politiker Ihrer Koalition bis hin zur Außenministerin auf die Lieferung schwerer Waffen. Warum tun Sie das nicht? 

Scholz: Dann lassen Sie uns erst mal darüber reden, was wir tun. Wir haben aus den Beständen der Bundeswehr Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrgeräte, Munition, Fahrzeuge und viel Material geliefert, das der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf unmittelbar geholfen hat – genauso wie Dutzende Verbündete. Das sehen wir an den militärischen Erfolgen der ukrainischen Armee. 

SPIEGEL: Die Ukrainer haben vor Wochen eine Liste der Waffen geschickt, die sie dringend brauchen. Was spricht dagegen, sie schnellstmöglich abzuarbeiten? 

Scholz: Die Möglichkeiten der Bundeswehr, aus ihrem Arsenal weitere Waffen zu liefern, sind weitgehend erschöpft. Was noch verfügbar gemacht werden kann, liefern wir aber auf jeden Fall noch – Panzerabwehrwaffen, Panzerrichtminen und Artilleriemunition. Deshalb haben wir im Gespräch mit der deutschen Industrie eine Liste von militärischer Ausrüstung erstellt, die rasch lieferbar ist, und sie mit dem ukrainischen Verteidigungsministerium besprochen. Wie bisher also Verteidigungswaffen und Mörser für Artilleriegefechte. Diese Waffenlieferungen bezahlen wir. Insgesamt stellt Deutschland zwei Milliarden Euro zur Verfügung, ein großer Teil davon kommt direkt der Ukraine zugute. 

SPIEGEL: Andere liefern schweres Kriegsgerät, Deutschland zückt das Scheckbuch. Ist das die Rollenverteilung in diesem Krieg? 

Scholz: Falsch! In enger Abstimmung mit den USA, Frankreich, Italien, Großbritannien und Kanada haben wir Waffen geliefert für die anstehenden Gefechte in der Ostukraine. Truppentransporter und Artillerie sind schnell einsetzbar. Deshalb sind wir bereit, unseren Verbündeten beim Schnelltraining auf diesen Geräten zu helfen, und schauen, ob sich geeignetes Gerät unsererseits noch beschaffen lässt. Das militärische Gerät muss ohne langwierige Ausbildung, ohne weitere Logistik, ohne Soldaten aus unseren Ländern eingesetzt werden können. Das geht am schnellsten mit Waffen aus ehemaligen sowjetischen Beständen, mit denen die Ukrainer gut vertraut sind. Deshalb ist es kein Zufall, dass mehrere osteuropäische Nato-Partner jetzt solche Waffen liefern und bisher kein Bündnispartner westliche Kampfpanzer. Die Lücken, die durch diese Lieferungen bei den Partnern entstehen, können wir sukzessive mit Ersatz aus Deutschland füllen, wie wir es gerade im Fall Slowenien besprochen haben. Mittelfristig werden wir der Ukraine dabei helfen, ihre Verteidigungsfähigkeit auszubauen, auch mit westlichen Waffen. 

SPIEGEL: Wenn der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk deutsche Marder-Panzer fordert, hat er also nicht begriffen, dass seine Armee sie nicht bedienen kann? 

Scholz: Noch mal: Wir helfen der ukrainischen Regierung jetzt dabei, Rüstungsgüter zu beschaffen, die dem vereinbarten Rahmen unserer Bündnispartner entsprechen. Und das so schnell wie möglich, um die massive Offensive Russlands im Osten aufzuhalten. Wenn ich mich in der Welt umschaue, sehe ich, dass alle Partner sich wie wir im Rahmen unserer Vereinbarungen bewegen. 

SPIEGEL: Kanada, die USA, die Niederlande wollen sehr schnell schweres Gerät an die -Ukraine liefern. Warum fallen wir zurück? 

Scholz: Liefern kann man nur, was man hat und hergeben kann. Man muss schon genau hinsehen, wie einsatzfähig welches Material wirklich ist – und wann. Wenn ich ein Fahrzeug liefere, das von jedem Maschinengewehr durchschossen werden kann, hilft das den ukrainischen Truppen wenig. 

SPIEGEL: Kiew schlägt vor, dass Deutschland kontinuierlich sein einsatzfähiges Gerät aus der Bundeswehr liefert und es dann nach und nach ersetzt. Was spricht dagegen? 

Scholz: Die Notwendigkeit, das Bündnisgebiet jederzeit verteidigen zu können. Das ist eine schwierige Abwägung, die wir gemeinsam mit unseren Partnern ständig treffen müssen. Denn die Bedrohung des Nato-Gebiets durch Russland besteht ja fort. Das hören wir ja insbesondere von unseren baltischen Partnern, die uns um eine verstärkte Bundeswehrpräsenz bitten. Wir sind deshalb unter anderem in der Slowakei und Litauen mit Verbänden stark engagiert. Die Nato hat das Ziel ausgegeben, dass wir bei einem konventionellen Angriff zwölf Tage mit unserer Munition und unserer Ausrüstung standhalten müssen. Gerade in der jetzigen Bedrohungslage werde ich alles daransetzen, diese Verpflichtung nicht zu vergessen. 

SPIEGEL: Die US-Regierung sagt, von Joe ¬Bidens Unterschrift bis zur Lieferung der Waffen in die Ukraine vergingen nur 48 Stunden. Bei uns dauert es eher 48 Tage. 

Scholz: Das habe ich auch gelesen. Bei Lieferungen aus unseren Beständen ging es auch zügig. Das US-Militär hat deutlich größere Bestände. Die Sparpolitik bei der Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten hat ihre Spuren hinterlassen. Das ändern wir gerade. 

SPIEGEL: Ihre Kritiker, die Lieferungen schwerer Waffen fordern, haben Sie als »Jungs und Mädels« abqualifiziert, die sich ihr Wissen zusammengegoogelt hätten. Warum diese Arroganz? 

Scholz: Man merkt, wie angespannt die Lage ist, wenn ein Spruch in einem Radiointerview gleich als Beleidigung aufgefasst wird. Natürlich gibt es bei einer so aufwühlenden Frage wie Waffenlieferungen viele, die eine andere Meinung haben als ich und das auch öffentlich sagen. Das gehört in einer guten Demokratie dazu. 

SPIEGEL: In Ihren Argumenten gegen die Lieferung schwerer Waffen schlagen Sie ständig Haken: Mal sind die Ukrainer nicht gut genug ausgebildet, mal sind die Waffen nicht startklar, mal können wir selbst nichts mehr abgeben. Merken Sie nicht, wie verwirrend diese wechselnden Botschaften sind? 

Scholz: Für Deutschland war es ein tiefgreifender Kurswechsel, als ich angekündigt habe, Waffen in dieses Kriegsgebiet zu liefern. Das möchte ich festhalten. Viele, die diesen Schritt früher kategorisch abgelehnt haben, überbieten sich jetzt mit Forderungen, noch viel mehr zu liefern – ohne die genaue Sachlage zu kennen. Das nehme ich zur Kenntnis. Aber in dieser Lage braucht es einen kühlen Kopf und gut abgewogene Entscheidungen, denn unser Land trägt Verantwortung für Frieden und Sicherheit in ganz Europa. Ich halte es nicht für gerechtfertigt, dass Deutschland und die Nato Kriegsparteien in der Ukraine werden. 

SPIEGEL: Das fordert Kiew gar nicht, man bittet verzweifelt um Waffen. Wovor haben Sie Angst? 

Scholz: Noch mal: Wir liefern Waffen, und viele unserer Verbündeten tun es auch. Es geht doch nicht um Angst, sondern um politische Verantwortung. Eine Flugverbotszone einzuführen, wie gefordert wurde, hätte die Nato zur Kriegspartei gemacht. Ich habe einen Amtseid geschworen. Ich habe sehr früh gesagt, dass wir alles tun müssen, um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden. Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben. 

SPIEGEL: Was lässt Sie denken, dass Panzerlieferungen aus Deutschland diese furcht¬baren Konsequenzen hätten? 

Scholz: Es gibt kein Lehrbuch für diese Situation, in dem man nachlesen könnte, ab welchem Punkt wir als Kriegspartei wahrgenommen werden. Das Buch wird täglich neu geschrieben, manche Lektionen liegen noch vor uns. Umso wichtiger ist es, dass wir jeden unserer Schritte genau überlegen und eng miteinander abstimmen. Eine Eskalation in Richtung Nato zu vermeiden hat für mich höchste Priorität. Deshalb schiele ich nicht auf ¬Umfragewerte oder lasse mich von schrillen Rufen irritieren. Die Konsequenzen eines Fehlers wären dramatisch. 

SPIEGEL: Haben Sie aus Ihrer Begegnung und den Telefonaten mit Wladimir Putin den Eindruck gewonnen, dass er Atomwaffen einsetzen könnte? 

Scholz: Russland steckt in dramatischen Schwierigkeiten, die Sanktionen richten gewaltige Schäden in Russlands Wirtschaft an, die Kette militärischer Niederlagen kann von keiner Regierungspropaganda mehr schöngeredet werden. Ein kalter Frieden, der nicht mit einem Abkommen besiegelt wurde, wird Russland nicht aus dem Sanktionsregime befreien. Putin steht gewaltig unter Druck. 

SPIEGEL: Wenn wir Panzer liefern, droht ein Atomschlag – warum sagen Sie das den Deutschen nicht so klar? 

Scholz: Es tut mir leid, aber mit ¬derartigen Vereinfachungen kommen wir nicht weiter! Ich bleibe dabei: Wir werden alles genau bedenken, stets neu abwägen, uns mit unseren ¬engsten Verbündeten besprechen und keine deutschen Alleingänge unternehmen. 

SPIEGEL: Ihre Umfragewerte brechen ein. Könnte das auch an dem Eindruck liegen, dass in der Ukraine Menschen massakriert werden, während in Deutschland noch Formulare ausgefüllt werden müssen? 

Scholz: Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Satz die Realität widerspiegelt? Mich haben die Gespräche mit Helmut Schmidt sehr beeindruckt, der mir seine Gefühle geschildert hat, als die demokratischen Bewegungen in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in der DDR von Panzern niedergeschlagen wurden. Diese Gespräche helfen mir heute, meiner eigenen -Verantwortung ins Auge zu sehen, wenn wir alles Erdenkliche tun, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen. 

SPIEGEL: Gibt es für Sie eine rote ¬Linie, die Putin nicht überschreiten darf? 

Scholz: Wir müssen unsere Prinzipien täglich mit der Wirklichkeit abgleichen. Aber an den Prinzipien selbst ändert sich nichts: Wir treten dem furchtbaren Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslöst. 

SPIEGEL: Der Einsatz von Chemiewaffen wäre für Sie keine rote Linie? 

Scholz: Ich habe Präsident Putin ¬davor gewarnt, B- und C-Waffen ¬einzusetzen. Diese ernste Warnung haben auch andere ihm gegenüber formuliert. 

SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, hinterher sagen zu müssen: Wir hätten mehr tun müssen, um dieses Töten zu ¬stoppen? 

Scholz: Wer es nicht für möglich hält, über eigenes Handeln nachträglich anders zu urteilen als mittendrin im Geschehen, kann nicht verantwortlich handeln. Trotzdem muss ich jetzt handeln. Die Prinzipien, die ich im Gespräch mit Ihnen geschildert habe, tragen mein Handeln. 

SPIEGEL: Was ist Ihr wichtigstes Ziel in der jetzigen Lage? Muss die Ukra¬ine diesen Krieg gewinnen? Muss der Krieg möglichst schnell zu Ende sein? Oder muss Deutschland bestmöglich verschont bleiben? 

Scholz: Es muss einen Waffenstillstand geben, die russischen Truppen müssen sich zurückziehen. Es muss eine Friedensvereinbarung geben, die der Ukraine ermöglicht, sich in Zukunft selbst zu verteidigen. Wir werden sie so ausrüsten, dass ihre Sicherheit garantiert ist. Und wir stehen als Garantiemacht zur Verfügung. Einen Diktatfrieden, wie er Putin lange vorgeschwebt hat, wird es nicht geben. 

SPIEGEL: Wie kann ein Friedensschluss aussehen? 

Scholz: Die Ukraine wird die Bedingungen für einen Friedensschluss formulieren, niemand kann das stellvertretend machen. Das wäre unangemessen. 

SPIEGEL: Sie betonen die Souveränität der Ukraine, zugleich erfüllen Sie ihr aus Angst vor wirtschaftlichen Verwerfungen nicht den Wunsch eines sofortigen Gasembargos. Wir Deutschen füllen Putins Kriegskasse also weiter. Verstehen Sie, dass Kiew Ihre Worte als Hohn empfinden kann? 

Scholz: Erstens: Ich sehe überhaupt nicht, dass ein Gasembargo den Krieg beenden würde. Wäre Putin für wirtschaftliche Argumente zugänglich, hätte er diesen Wahnsinnskrieg nie begonnen. Zweitens: Sie tun so, als ginge es uns ums Geldverdienen. Aber es geht darum, dass wir eine dramatische Wirtschaftskrise vermeiden wollen, den Verlust von Millionen Arbeitsplätzen und von Fabriken, die nie wieder aufmachen würden. Das hätte erhebliche Konsequenzen für unser Land, für ganz Europa, und es würde auch die Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine stark in Mitleidenschaft ziehen. Deshalb ist es meine Verantwortung zu sagen: Das können wir nicht zulassen. Und drittens, denkt eigentlich jemand an die globalen Folgen? 

SPIEGEL: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gesagt: Wir sind mit der Errichtung eines gemein¬samen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird, gescheitert. Stimmen Sie dem zu? 

Scholz: Russland muss akzeptieren, dass sich nahe seiner Grenze offene Gesellschaften zu einer starken Europäischen Union zusammengefunden haben, die über die größte Wirtschaftskraft eines ökonomischen Raums in der Welt verfügt. In einer Rede, die ich 2016 als Hamburger Bürgermeister in Sankt Petersburg halten durfte, habe ich genau das formuliert. Und Russland sollte klar sein, dass niemand den Plan hat, Russland militärisch anzugreifen oder von außen einen Regierungswechsel herbeizuführen. 

SPIEGEL: Müssen wir nach der Invasion ernsthaft Putin versichern, dass wir seinem Land nichts Böses wollen? 

Scholz: Meine Antwort bezog sich auf das Jahr 2016. Richtig bleibt bis heute, dass es Sicherheit in Europa nur geben kann, wenn wir die Souveränität der Nationen und die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkennen. Dieses Prinzip hat Russland brutal missachtet, nicht erst mit der Invasion, sondern schon mit der Annexion der Krim, mit dem Inszenieren des Aufstands in den Donbass-Regionen und in anderen Teilen der Welt. Wenn Staatschefs in Geschichtsbüchern blättern und gucken, wo früher Grenzen verlaufen sind, um daraus Konsequenzen für die heutige Zeit abzuleiten, ist der Friede bedroht. 

SPIEGEL: Wenn Moskau dieses Prinzip schon 2014 verletzt hat, war es dann nicht ein Fehler, das deutsch-russische Gaspipelineprojekt Nord Stream 2 weiterlaufen zu lassen? 

Scholz: Was die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle betrifft, hätte man früh dafür sorgen müssen, dass man innerhalb kürzester Zeit auch von anderen Lieferanten bedient werden kann. Notfalls hätte Deutschland Flüssiggasterminals und Importinfrastrukturen für die ostdeutschen Ölraffinerien finanzieren müssen, selbst wenn sie nicht wirtschaftlich gewesen wären. Das ist der eigentliche Fehler, der mich schon lange umtreibt. 

SPIEGEL: Nord Stream 2 war nie essenziell für unsere Energieversorgung. 

Scholz: Richtig. Das Problem ist nicht, dass es zwei, drei oder vier Pipelines gibt, sondern dass alle aus Russland kommen. 

SPIEGEL: Russland ging es bei Nord Stream 2 aber darum, die Ukraine von der Gasdurchleitung auszuschließen. Warum haben Sie dieses Ansinnen so lange unterstützt? 

Scholz: Gleichzeitig haben wir gerade deshalb die weitere Durchleitung von Gas durch die Ukraine vertraglich abgesichert. Und wenn Sie schon geostrategisch argumentieren, dann müssen Sie auch sagen: Der SPIEGEL hätte vielleicht LNG-Terminals nicht ständig kritisieren sollen. 

SPIEGEL: Warum geht Ihnen nicht über die Lippen: Nord Stream 2 war ein Fehler? 

Scholz: Wir haben in Reaktion auf die russische Aggression die Inbetriebnahme verhindert. Und geostrategisch hätten wir schon viel früher unsere Importe diversifizieren müssen. Und es wäre auch früher schon richtig gewesen, den Ausbau der erneuerbaren Energien so zu beschleunigen, dass wir auch der Umwelt wegen vom Import und der Nutzung fossiler Ressourcen unabhängig werden. 

SPIEGEL: Sehen Sie wenigstens die Gründung einer von russischen Geldern finanzierten Stiftung für den Bau von Nord Stream 2 ¬heute als Fehler an? 

Scholz: Das ist eine Entscheidung, die die Regierung und der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern getroffen haben. 

SPIEGEL: Über die Sie und die damalige Kanzlerin Angela Merkel vorab informiert wurden. Haben Sie Ihrer Genossin und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig davon abgeraten? 

Scholz: Es gehört zur Natur solcher Gespräche, dass sie vertraulich bleiben. 

SPIEGEL: In Mecklenburg-Vorpommern wird es vermutlich einen Untersuchungsausschuss geben. Muss die SPD ihre Russlandpolitik der vergangenen Jahre aufarbeiten? 

Scholz: Seit Adenauers Zeiten gibt es diese verfälschenden und verleumderischen Darstellungen der Europa- und Russlandpolitik der SPD, das ärgert mich. Was die SPD auszeichnet, ist die klare Entspannungspolitik durch Brandt und Schmidt. Eine Politik, die möglich gemacht hat, dass der Eiserne Vorhang verschwindet, dass viele Länder Osteuropas die Demokratie gewinnen konnten und dass wir heute in der Europäischen Union vereint sind. Es war immer eine Politik, die auf eine starke Bundeswehr und die Eingebundenheit in den Westen gesetzt hat. Das ist die Tradition, für die ich stehe. 

SPIEGEL: Steinmeier spricht von Fehlern. Matthias Platzeck, der Ex-Ministerpräsident von Brandenburg und zuletzt Leiter des Deutsch-Russischen Forums, sagt, er habe sich in Putin getäuscht. Beides Politiker der SPD. 

Scholz: Zählen Sie Frau Merkel jetzt auch zur SPD? 

SPIEGEL: Wenn sie hier säße, würden wir sie genauso nach Fehlern der CDU-Russlandpolitik fragen. Aber jetzt regieren Sie. 

Scholz: Deshalb die klare Aussage: Ich folge einem klaren Kurs, und das seit sehr langer Zeit. Auch weil er die Demokratie im Osten gefördert hat. Als Transatlantiker ist es un¬sere Aufgabe, uns nicht nur auf uns selbst zu beziehen, sondern zu verstehen, dass der Wunsch, als Demokratie in einer freien Gesellschaft zu leben, universalistisch ist. Was Russland anbelangt, habe ich mich schon länger von kritischen Stimmen beeindrucken lassen, von literarischen Aufarbeitungen wie Masha Gessens Buch »Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor«. Das hat meine Überzeugung geprägt, dass Russland den Weg zur Autokratie schon lange beschritten hat. 

SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass Sie auf manche Leute etwas arrogant wirken, weil Sie immer schon den richtigen Kurs gekannt haben wollen – und mit Fehlern Ihrer Partei nichts zu tun haben wollen? 

Scholz: Nein, das stimmt nicht. Ich werfe aber Ihnen vor, dass Sie fast wie Adenauer ein Zerrbild von sozialdemokratischer Politik zeichnen und dringend darauf bestehen, dass wir endlich zugeben, so zu sein, wie andere von uns behaupten, dass wir seien. Die sozialdemokratische Partei ist eine fest in das transatlantische Bündnis und den Westen eingebundene Partei, die die Vorwürfe, die da erhoben werden, nicht akzeptieren muss. 

SPIEGEL: Dann also lieber gar keine Debatte? 

Scholz: Ich lehne keine Debatte ab. Ich befürworte jede Diskussion über die künftige Politik. Aber ich weise zurück, dass die Eintrittskarte für eine Debatte eine Lüge ist. 

SPIEGEL: Dass Steinmeier einen Teil seiner Politik als Außenminister als gescheitert ansieht, ist ja keine Lüge. 

Scholz: Weder dem früheren Außenminister noch der früheren Bundeskanzlerin ist vorzuhalten, dass sie versucht haben, in Europa eine Ordnung zu schaffen, in der kein Land das andere überfällt. Sie haben alles dafür getan, um zu verhindern, dass es zu dem Krieg kommt, den wir jetzt leider erleben. Dass das misslungen ist, liegt nicht an Frau Merkel oder Herrn Steinmeier, sondern am putinschen Imperialismus, der sich über alles, was an Vereinbarungen und Verständigung erzielt worden ist, hinweggesetzt hat. Putin ist der Aggressor, niemand sonst. 

SPIEGEL: Sie haben Ende Februar im Bundestag eine »Zeitenwende« angekündigt. Danach folgte wenig. Worauf müssen sich die Deutschen denn nun einstellen? 

Scholz: Erstens setzen wir 100 Milliarden Euro ein, um die Bundeswehr besser auszustatten. Wir haben damit viele andere in Europa ermutigt, den gleichen Weg zu gehen. Zweitens beschleunigen wir mit viel Kraft die Energiewende, damit wir unabhängiger werden von Energieimporten. Der dritte Teil ist die starke, souveräne Europäische Union – Gemeinschaft bringt uns Schutz. Dazu gehört auch, dass die Staaten des westlichen Balkans in die EU gehören. Da haben wir uns viel zu lange im Klein-Klein verloren. Für all diese Entscheidungen haben wir eine breite Mehrheit im Parlament. Was die Bundeswehr betrifft, hoffentlich eine patriotische Mehrheit weit über die Grenzen der Koalition hinaus. 

SPIEGEL: Viele Deutsche standen der Bundeswehr bislang skeptisch gegenüber. Sind sie bereit für eine schlagkräftigere Armee? 

Scholz: Ja, auch weil sie wissen, dass eine besser ausgerüstete Bundeswehr nicht einen Wechsel zu einer aggressiveren Politik Deutschlands bedeutet. Das ist das Beson¬dere an dieser Zeitenwende: Es geht um unser Land, das sich als Demokratie nach all den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine Weise neu aufgestellt hat, das niemand mehr ein militärisch stärkeres Deutschland fürchtet. 

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 
 

DER SPIEGEL 17/2022. Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteurin Melanie Amann und der SPIEGEL-Redakteur Martin Knobbe

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