Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier,

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Sehr geehrter Herr Außenminister, lieber Sergej,
sehr geehrter Herr Rektor Kokscharow,
liebe Studierende!

Die Universität Jekaterinburg ist für mich ein besonderer Ort.

Schön, wieder zurück zu sein in Jekaterinburg! Zum 6. Mal haben Sie mich eingeladen zu einer Vorlesung an die Boris-Jelzin-Universität, die eine der angesehensten Hochschulen Russlands ist - und für mich persönlich ein ganz besonderer Ort!

Vor sechs Jahren, im Dezember 2010, haben Sie mir, Herr Rektor, im Namen dieser Universität die Ehrendoktorwürde verliehen, und ich habe dies nicht nur als große Auszeichnung empfunden, sondern damals auch als Signal: ein Signal des Aufbruchs für die deutsch-russischen Beziehungen, ein Zeichen der Ermutigung für eine Partnerschaft zwischen unseren Ländern, eine Partnerschaft, bei der es nicht nur auf die politische Ebene ankommt, sondern gerade auch auf Partnerschaft zwischen Universitäten und Schulen, zwischen Vereinen und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, zwischen Städten und Regionen, ja: letztlich auf die Bindungen zwischen Ihnen und mir, zwischen den Menschen unserer beiden Länder!

Bis heute empfinde ich den Ehrendoktortitel Ihrer Universität als große Auszeichnung. Es ist mir wichtig, regelmäßig zurückzukehren und mit Ihnen, den Studierenden, ins Gespräch zu kommen. Jekaterinburg ist über die Jahre ein Dreh- und Angelpunkt in meinem persönlichen Blick auf Russland und auf die deutsch-russischen Beziehungen geworden: ein Ort des Dialoges, der gemeinsamen Reflexion, gewissermaßen auch ein Gradmesser unserer Beziehungen. 2008, vor acht Jahren, habe ich hier das Konzept einer deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft vorgestellt – damals getragen von großem Optimismus, von der Hoffnung auf Zusammenarbeit in vielen praktischen Feldern – von der Energieversorgung bis zur Modernisierung der Industrieinfrastruktur, von Fragen der Demographie bis zum Gesundheitswesen. Sicherlich steckte in dieser Initiative auch die Hoffnung, über die praktische Zusammenarbeit in Sachfragen zu einer tieferen Partnerschaft in noch grundlegenderen Fragen zu gelangen: in Fragen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der gemeinsamen Verantwortung in der Welt.

Wir haben in den Folgejahren daran gearbeitet, einiges auf den Weg gebracht. Aber wir müssen zugeben: Viele, ja die meisten dieser Hoffnungen, haben sich nicht erfüllt, und ich will nicht verhehlen, dass ich enttäuscht darüber bin. Wenn Jekaterinburg ein Gradmesser unserer Beziehungen ist, so gilt das eben nicht nur für die Höhen, sondern auch für die Tiefen im deutsch-russischen Verhältnis. Als ich zum letzten Mal hier war – das war im Dezember 2014 - so war dies mein erster Besuch nach der Annexion der Krim durch Russland, und mitten in der eskalierenden Ukraine-Krise – ein Tiefpunkt in unserem Verhältnis, dessen Auswirkungen bis heute noch nicht überwunden sind.

Aber all das ist kein Grund, einander den Rücken zuzukehren. Im Gegenteil: Es ist umso mehr Grund, alle Anstrengungen darauf zu richten, sich nicht zu verlieren oder gar zu entfremden, sondern das Gespräch zu suchen, auch wenn es schwieriger geworden ist, und im Dialog zu bleiben – ernsthaft, respektvoll, kritisch, und vor allem: lösungsorientiert.

Deshalb bin ich heute gern wieder gekommen, um zu Ihnen und mit Ihnen zu sprechen. Fernab der Hektik von Krisentreffen, die unseren Alltag als Außenminister in diesen Zeiten bestimmen, will ich mir die Zeit nehmen, mit Ihnen etwas grundsätzlicher über das Verhältnis unserer Länder, Deutschland und Russland, zu sprechen - und das im Kontext einer Welt, die ja – aus Sicht unserer beiden Länder – immer unübersichtlicher, komplexer und leider auch gefährlicher und konfliktreicher wird.

Ich will zu Beginn eine recht grundsätzliche, vielleicht sogar provokante Frage in den Raum stellen: Können wir eigentlich lesen?

Ich sehe, einige von Ihnen schauen jetzt Ihre Nachbarn an und fragen: „Und das fragt der gute Mann an einer Universität?“ Ich weiß: An einer Universität gehört Lesen-Können zu den absoluten Mindestvoraussetzungen. Das ist in Deutschland so und in Russland nicht anders. Ich meine es aber in einem anderen Sinne: Können wir einander lesen? Und das bedeutet in der deutschen Sprache: Sind wir in der Lage, dem anderen zuzuhören, effektiv miteinander zu kommunizieren, die Signale, die der andere sendet, richtig zu interpretieren? Können wir, kurz gesagt, einander verstehen?

Zu diesem „Lesen“ gehört nicht nur das Gegenüber, sondern auch die eigene Brille, durch die wir das Gegenüber lesen. Diese Brille ist gefärbt durch unsere eigenen Erfahrungen, unsere Urteile und Vorurteile, Geschichte, Kultur, Träume und Traumata. Lesen-Können ist also alles andere als trivial. Aber es ist essenziell wichtig – gerade in einer Welt mit wachsender physischer und medialer Mobilität, einer Welt, die enger zusammenwächst, in der Gesellschaften, Kulturen, Traditionen praktisch ungebremst aufeinander treffen. Ich will Ihnen nur ein Beispiel aus meinem Bereich, der Außenpolitik, nennen. Auch da gibt es oft das Problem: Wir „lesen“ uns gegenseitig schlecht. Entweder lesen wir uns gar nicht – sondern tauschen lediglich Stereotype aus. Oder wir verfallen leichtfertig - und häufig irrigerweise - dem Glauben, dass unser Standpunkt, unsere Signale von der anderen Seite richtig verstanden werden.

Das gilt, glaube ich, auch für die deutsch-russischen Beziehungen. Oft ist es nicht einfach, aus einer Vielzahl von gleichzeitigen Signalen die jeweils „richtigen“ herauszufiltern. Welche Äußerungen sind rhetorisch zu verstehen und welche wörtlich gemeint? Manche russische Experten sagen zum Beispiel, nach der dramatischen Münchner Rede des russischen Präsidenten 2007 hätten wir die Ereignisse und den Konflikt in Georgien 2008 kommen sehen müssen. Zugleich sagen sie, nicht jede dramatisch zugespitzte Äußerung in Russland zur Sicherheitslage heute sei wörtlich zu nehmen. Was muss also wörtlich verstanden werden, und was nicht? Wann sollen wir uns Sorgen machen und wann nicht? Nehmen wir das Beispiel Syrien. Das militärische Eingreifen Russlands war für den Westen überraschend, wir konnten nicht abschätzen, mit welchen Zielen, mit welchen Mitteln - Beobachter oder auch Kampfverbände - und mit welcher Bewaffnung. Oder nehmen wir die Krim: am Anfang war von „lokalen Selbstverteidigungskräften“ die Rede, später tauchten die sogenannten „grünen Männchen“ auf, und noch später hieß es, es seien auch Spezialkräfte im Einsatz gewesen.

Ich weiß: Das sind sehr direkte, sehr konkrete Beispiele. Ich finde es aber wichtig, diese Fragen ehrlich zu stellen. Und ich bin sicher, es gibt umgekehrt auch Fragen an die deutsche oder europäische Außenpolitik von russischer Seite. Ich bin heute hier, damit wir uns diese Fragen gegenseitig offen stellen können. Das sollten wir einander zutrauen. Und uns auch zutrauen, uns selbst zu hinterfragen. Auch Sie können mir heute Fragen stellen: Wie ist deutsche Politik zu verstehen? Welche Signale sendet der Westen?

Das ist wichtig! Es ist besser, einmal mehr nachzufragen, um dann „richtig“ zu lesen, als gar nicht zu fragen und „falsch“ zu lesen! Das ist im Studium so, und in der Politik nicht anders. Beiden Seiten muss doch daran gelegen sein, Missverständnisse zu vermeiden – ganz besonders in der Sicherheitspolitik und ganz besonders in diesen angespannten Zeiten, wo aus Missverständnissen schnell Kurzschlüsse werden können. Wir müssen bereit sein, solchen Missverständnissen vorzubeugen, indem wir im Dialog bleiben. Das heißt: Vor dem Lesen-Können kommt das Lesen-Wollen, also das Verstehen-Wollen.

Ich mache mir Sorgen, dass das Interesse aneinander abnimmt, auf der deutschen wie auf der russischen Seite. Manchmal gibt es Stimmen in der politischen Auseinandersetzung, die am Verstehen des Anderen gar nicht interessiert sind, sondern deren Bild vom Anderen schon fertig ist. Solche, die gar nicht erst lesen, weil sie die Antwort schon vorher haben. Gerade jetzt, in Zeiten, in denen auf politischer Ebene zwischen dem Westen und Russland vieles im Argen liegt, halte ich das für absolut gefährlich – so als ob in Konflikten oder Zuspitzungen immer nur die Bestätigung vermeintlich ewiger Wahrheiten zu finden sei: die Gegnerschaft des Westens zu Russland. Solche Stimmen gibt es in Russland, und es gibt sie im Westen. Und ich finde sie beide falsch. Politik sollte sich niemals in Kategorien der Endgültigkeit bewegen – damit würde sie sich selbst zum Scheitern verurteilen, oder überflüssig machen. Und wenn Außenpolitik das Ziel hat, Konflikte zu lösen und Frieden zu erhalten, dann darf eine sogenannte Gegnerschaft zwischen dem Westen und Russland niemals Kategorie, und schon gar nicht Ideologie werden.

Ich mache mir auch Sorgen, dass das Lesen-Wollen, das Interesse aneinander, auf gesellschaftlicher Ebene abnimmt. Das beginnt ganz buchstäblich beim Lesen, beim Erlernen der jeweils anderen Sprache. Noch lernen über eine Million junger Russinnen und Russen Deutsch, damit ist es nach Englisch die am meisten gelernte Fremdsprache in Ihrem Land. Doch die Zahlen gehen zurück. Ich hoffe, dass wir das Sprach-Interesse in unseren beiden Ländern stabilisieren und ausbauen können. Darum haben wir vor zwei Jahren das deutsch-russische Sprachenjahr ausgerufen. Die Einführung einer verpflichtenden zweiten Fremdsprache für die Oberstufe hat letztes Jahr neue Chancen fürs Deutschlernen eröffnet. Wir sollten sie nutzen.

Noch etwas macht mir Sorgen: Die Zahl von jungen Deutschen und Russen, die an einem Schüleraustausch teilnehmen, ist im letzten Jahr von 11.000 Schülern auf 7.000 gefallen; und im diesjährigen gemeinsamen Jugendjahr sind die Zahlen beileibe nicht so hoch, wie wir uns das wünschen. Das hat zweifelsohne viele Gründe, aber einer davon ist verloren gegangenes Vertrauen, leider eben auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Das muss uns miteinander zu denken geben! Verlorenes Vertrauen muss doch ein Anlass sein, mehr miteinander zu sprechen und nicht weniger – ein Anlass, zu hinterfragen, welches Bild wir eigentlich voneinander haben und von der Welt um uns herum. Warum lassen wir zu, dass Unkenntnis und Fehlwahrnehmung unser Bild voneinander beeinflussen?

Es gibt jemanden, von dem wir uns eine Scheibe abschneiden sollten. Jemand, der sein Leben lang zur Verständigung von Deutschen und Russen beigetragen hat. Er hieß Lew Kopelew, wurde 1912 in Kiew geboren, kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee, lebte dann in Moskau und später in Köln. Niemand sonst hat sich so intensiv mit den Bildern beschäftigt, die Russen und Deutsche voneinander haben. In seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, dem sogenannten „Wuppertaler Projekt“, beschreibt er die wechselvolle Geschichte des Russlandbilds der Deutschen und des Deutschlandbilds der Russen seit ihren Anfängen. Zehn Buch-Bände und 1.000 Jahre Geschichte umfasst seine Studie. Niemals zuvor oder danach hat jemand versucht, den „Anderen“ so gründlich „lesen“ zu wollen, in all seiner Vielfalt, seinen Ängsten und Hoffnungen, auch seinen Widersprüchen. Ich finde, wir sollten uns daran ein Beispiel nehmen! Damit meine ich nicht: Auch Sie sollten zehn Bücher schreiben – Sie haben mit Ihrem Studium sicherlich genug zu tun... Aber ich finde, wir sollten uns die Neugier aneinander bewahren – und den Mut, aufeinander zuzugehen, einander Fragen zu stellen, auch kritische. Denn - so war ein Grundsatz Lew Kopelews - durch das Bild des Fremden wird auch das Eigene fassbar. Nicht umsonst nannte er sein Werk daher die „West-östlichen Spiegelungen“.

Es ist Zeit für ein Update dieser Spiegelungen. Eine Umfrage der Hamburger Körber-Stiftung hat dazu einen Beitrag geleistet, indem sie Anfang dieses Jahres Deutsche und Russen über ihr Fremdbild und ihr Eigenbild befragt hat. Die gute Nachricht ist: Der gegenseitige Respekt unserer Völker voreinander und der Wille zur Zusammenarbeit ist bei Russen und Deutschen nach wie vor stark ausgeprägt. 95 Prozent der Deutschen sehen in Russland ein Land mit großer Tradition und Kultur. Umgekehrt billigen 86 Prozent der Russen auch Deutschland diese Eigenschaft zu. Genauso groß ist der Anteil derer, die befürworten, dass sich Russland und die EU in den nächsten Jahren politisch wieder annähern sollen. Und ich kann Ihnen versichern: Ich gehöre auch zu dieser Gruppe!

Ganz anders aber sieht es aus bei der Frage der Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Sowohl die Hälfte der Deutschen als auch die Hälfte der Russen gaben in der besagten Umfrage zu Protokoll, dass Russland nicht zu Europa gehöre. In Russland ist die Zahl derer, die eine Zugehörigkeit Russlands zu Europa ablehnen, gewachsen: 2008 war es nämlich nicht die Hälfte, sondern nur ein Drittel gewesen, das Russland außerhalb Europas sah! Die Daten dieser Umfragen lassen einen kleinen Einblick zu in unsere Selbst- und Fremdbilder. Aber sie sind eben nur ein kleiner Ausschnitt: Selbst- und Fremdbilder entstehen aus unendlich vielen Wahrnehmungen und Perspektiven, und diese Perspektiven verändern sich. Deshalb hat Lew Kopelew ja zehn Bände damit gefüllt… Wir brauchen Neugier, wir müssen einander Fragen stellen, um diese vielen Perspektiven zusammenzutragen. Ich habe einige solcher Fragen mitgebracht, die ich heute stellen will. Und ich bin sicher: Auch Sie, die Studierenden, haben solche Fragen. Wir sollten diese Fragen offen stellen und unterschiedliche Wahrnehmungen offenlegen.

Zunächst habe ich Fragen in Bezug auf unsere jüngere Geschichte, auf die Ordnung, in der wir leben oder leben wollen. Wenn wir an 1989/90 und die Jahre danach denken, dann haben viele Deutsche und Russen sehr unterschiedliche Assoziationen.

Wir Deutsche haben die Wiedervereinigung unseres Landes vor Augen und den großen Moment, als 1990 alle Staaten der KSZE, auch Russland, die Charta von Paris unterzeichnet haben, um gemeinsam die Teilung Europas zu überwinden und das Zeitalter der Konfrontation zu beenden. So denken wir.

Viele Russen hingegen denken an den Zusammenbruch der Sowjetunion, der im Rückblick nicht als Befreiung, sondern von vielen als Katastrophe gesehen wird, als Trauma, das bis heute nachwirkt. Nicht wenige Russen fragen: Waren die 90er Jahre in Russland nicht eine Zeit der politischen Unsicherheit, des wirtschaftlichen Abstiegs und der zerplatzten Träume?

Viele Deutsche fragen: Aber war das Ende der Sowjetunion nicht vor allem das Ende eines Systems von Unfreiheit und mangelnden Perspektiven, für den Einzelnen wie für die Volkswirtschaft? Aber wir Deutsche müssen uns zugleich selbstkritisch fragen, ob wir die 90er Jahre nicht zu pauschal als freiheitlich oder sogar demokratisch gesehen haben und ausblenden, welche negativen Folgen ein völlig ungeregelter Übergang von einer Staatsökonomie zur Konkurrenzwirtschaft hatte – insbesondere die radikale Privatisierung von Staatsvermögen und -betrieben in der ehemaligen Sowjetunion, samt Kapitaltransfer auf ausländische Privatkonten?

Haben wir im Westen manchmal nicht zu leichtfertig Fälle von rücksichtsloser Bereicherung zulasten der Gesellschaft als notwendige Begleiterscheinung einer freien Marktwirtschaft gesehen? Haben wir nicht klar genug bedacht, dass individuelle Freiheit von etwas einhergehen muss mit dem Gebrauch der Freiheit für etwas, für eine gerechtere Gesellschaft, für Bildungschancen, für eine Verantwortung für das Gemeinwesen?

Das sind schwierige Fragen. Und ähnlich schwierige Fragen gibt es natürlich beim Thema Sicherheit. In den 1990er gab es grausame Konflikte, zum Beispiel auf dem Balkan, aber es gab auch viele europäische Staaten, die sich auf den Weg machten in Richtung Demokratie und Wohlstand, manche zum ersten Mal in ihrer Geschichte eigenständig und ohne Bevormundung. Hier in Russland fragen aber viele: Müssen wir den Beitritt so vieler Staaten zunächst zur EU vor allem zur NATO nicht als Bedrohung verstehen? Gerade um das Gefühl der gegenseitigen Bedrohung zu entkräften, haben wir 1997 gemeinsam die NATO-Russland-Grundakte geschlossen und den NATO-Russland-Rat geschaffen. Aber wir müssen uns fragen, ob wir diesen Rat - von beiden Seiten - wirklich mit Leben gefüllt haben, mit konkreten Projekten, die Vertrauen schaffen - oder ob wir ihn nur verwaltet haben? Ich setze mich jedenfalls dafür ein, dass wir die Möglichkeiten des NATO-Russland-Rates gerade in schwierigen Zeiten nutzen sollten. Beim jüngsten Gipfel der NATO in Warschau wurde das als politische Verantwortung bekräftigt, und der NATO-Russland-Rat ist, zumindest auf Ebene der Botschafter, auch nach dem Gipfel wieder zusammengetreten.

Beim Blick auf die jüngere Geschichte gibt es auch große Unterschiede, bei der Frage, wo die Bruchstellen in den internationalen Beziehungen liegen, die unser Verhältnis grundlegend veränderten.

Viele in Russland fragen: Was ist mit der Intervention im Kosovo 1999 oder den militärischen Aktivitäten des Westens in Libyen? Im Westen wird gefragt: Was war 2014? Wie konnte Russland, ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki und ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates, auf der Krim und in der Ostukraine, offen die Souveränität eines anderen Staates verletzen?

Wir müssen uns gemeinsam fragen: Bekennen wir uns zu den Regeln einer Friedensordnung, die wir uns selbst gegeben haben, um die jahrhundertealte Logik der Konfrontation zu überwinden? Achten und schützen wir die Gleichberechtigung und Souveränität anderer Staaten – und stimmen wir möglichen Grenzveränderungen aufgrund der Selbstbestimmungsrechts der Völker nur dann zu, wenn sie im Einklang mit dem Völkerrecht vollzogen werden? Ich möchte diese Fragen mit „Ja!“ beantworten. Und ich wünsche mir, dass Russland - als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und zudem als weltweit größter Vielvölkerstaat - sie auch mit „Ja“ beantworten möchte.

Nun, und wo wir von staatlicher Souveränität sprechen, geht es auch um die Frage: Wenn Staaten souverän sind, wie werden umgekehrt die Rechte von Minderheiten innerhalb der Staaten geschützt? Manche in Russland haben gesagt: Wenn in der Ukraine nach den Umwälzungen 2014 die russischsprachige Bevölkerung gefährdet war, mussten wir sie dann nicht schützen? Wenn man die Frage in Russland mehrheitlich mit "Ja" beantwortet, ist es dann nicht verständlich, dass andere Staaten mit russischsprachigen Minderheiten, zum Beispiel im Baltikum, heute auch Sorgen haben und fragen: Was müssen wir jetzt befürchten?

Unsere Haltung hierzu ist: Die Prinzipien von Souveränität und Nichteinmischung erlauben es nicht dem einen Staat, sich zur Schutzmacht von Volksgruppen in einem anderen Staat aufzuschwingen. Doch umgekehrt gilt: Auch die Souveränität des Staates hat klare Grenzen, und diese Grenzen gegenüber dem Individuum sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt und können bei Nichtbeachtung sogar zu einer internationalen Schutzverantwortung führen. Wenn Staaten von anderen Staaten die Achtung ihrer Souveränität verlangen, dann müssen sie dafür Sorge tragen, dass die Rechte der Menschen innerhalb ihrer Grenzen geschützt sind. Genau das haben wir auch unseren Partnern in der Ukraine gesagt, als es zum Beispiel um die russischen Sprachenrechte ging.

Ich finde: Jedem Staat als Mitglied der Völkergemeinschaft müssen wir abverlangen, die Rechte aller seiner Bürger zu schützen – und ich füge hinzu: erst recht in dieser Welt, in der Menschen immer mobiler und Gesellschaften immer vielfältiger werden! Und wenn dem nicht so wäre, wenn diese Verantwortlichkeit verloren ginge, wäre das nicht gerade für einen Vielvölkerstaat wie Russland sehr problematisch?

Und so streife ich schließlich ein drittes Feld, in dem es sich lohnt, einander Fragen zu stellen: Wie sollten Gesellschaften heute zusammenleben? Welche Werte sind uns in unserer Demokratie wichtig? Wie gehen wir mit Einwanderung und wachsender Vielfalt um? Ist das eine Chance für unsere Gesellschaft oder eine Gefahr?

Ich weiß, dass in Russland viele die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung verfolgt haben und fragen: Wie wollt Ihr es in Deutschland schaffen, so viele Menschen bei Euch aufzunehmen und zu integrieren? Oder gar: Wird Eure Demokratie daran nicht zugrunde gehen?

Wir sind nicht naiv. Ähnliche und andere Fragen haben wir auch in Deutschland zu beantworten. Unser Prinzip bleibt: Menschen, die Zuflucht vor Krieg und Gewalt suchen, haben zunächst einmal ein Recht auf Schutz. So war es schon oft in der Geschichte, zum Beispiel im 17. Jahrhundert, als die Hugenotten aus Frankreich fliehen mussten, oder in den frühen 1920er Jahren, als einige Millionen Russen vor dem Bürgerkrieg in den Westen flohen, und so ist es heute. Das ist eine Frage der Mitmenschlichkeit, und dazu sollten alle, je nach ihrer Leistungsfähigkeit, beitragen.

Aber nicht nur der Umgang mit den Flüchtlingen wirft Fragen auf, sondern auch die Gründe ihrer Flucht! Wir müssen uns fragen, in Deutschland und in Russland: Welche Verantwortung tragen wir, um die Not und die Gewalt zu beenden, die so viele Menschen in die Flucht treibt? Ich denke natürlich an Syrien. Ich bin überzeugt: Wir können diesen schrecklichen Konflikt nur gemeinsam beenden helfen. Russland trägt hier besondere Verantwortung, gerade jetzt in Aleppo, wenn es um die Waffenruhe und um humanitäre Zugänge geht. Die Lage in Aleppo ist für die Menschen unerträglich - die Waffen müssen schweigen, damit die Bevölkerung mit dem Notwendigsten versorgt werden kann.

Aber auch darüber hinaus, wenn endlich eine Zeit des Wiederaufbaus in Syrien kommt, dann sollten besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten - in Palmyra, in Aleppo oder in Homs -, um nur diese Beispiele zu nennen. Ich bin überzeugt: Wenn wir gemeinsam Verantwortung für das kulturelle Erbe der Menschheit in dieser Krisenregion übernehmen, dann leisten wir zugleich einen Beitrag für eine kulturelle Annäherung zwischen unseren Ländern. Von deutscher Seite haben wir in dem Projekt „Stunde Null“ unsere Kräfte hierfür gebündelt und ich würde mich sehr freuen, wenn Russland das Angebot der Zusammenarbeit annehmen würde!

Ich habe zu Anfang gesagt: Wer einander „lesen“ und verstehen möchte, muss sich selbst und dem anderen Fragen stellen. Das habe ich heute getan, und ich hoffe, dass auch Sie in der anschließenden Diskussion noch viele Fragen stellen werden. Eines ist gewiss: Heute werden wir die Fragen nicht alle beantworten. Deswegen verstehen Sie meine Rede bitte in erster Linie als Einladung zu einem dauerhafteren Dialog. Die Fragen, die wir heute anreißen, zeigen doch, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind, und wie dringend wir das gegenseitige „Lesevermögen“ erhöhen müssen.

Deshalb werbe ich für den Dialog, und zwar einen Doppelten Dialog – darüber, was uns verbindet, aber auch darüber, was uns trennt.

Durch diese Art von Dialog, so hoffe ich, werden wir einander besser „lesen“ lernen. Und wer liest, hat ja zuerst einmal viele Fragen, und nicht so viele Antworten.

Auch Lew Kopelew und seine Mitstreiter begannen die Arbeit der Verständigung mit Fragen. Ein wunderbares Buch aus dem Jahr 1981, das er gemeinsam mit dem deutschen Schriftsteller Heinrich Böll veröffentlicht hat, trägt im Titel eine der schwierigsten und schicksalhaftesten Fragen im deutsch-russischen Verhältnis überhaupt. Das Buch heißt: „Warum haben wir aufeinander geschossen?“

Kopelew hatte im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gegen die Wehrmacht gekämpft. Böll hatte in der Wehrmacht gegen die Rote Armee gekämpft. Einige Jahre nach dem Krieg lernten die beiden sich kennen und wurden enge Freunde. Es war Heinrich Böll, der Kopelew und seine Frau Raissa nach Köln eingeladen hat, wo sie bis an ihr Lebensende blieben. Die Geschichte dieser Freundschaft trägt Mahnung und Hoffnung in sich zugleich: Mahnung vor den Extremen, die in dieser deutsch-russischen Beziehung stecken; und zugleich Hoffnung auf Verständigung, die damals möglich war und - da bin ich sicher - auch heute möglich ist.

Deshalb, trotz aller Widrigkeiten, die es auch heute zwischen unseren Ländern gibt: Wir müssen aufeinander zugehen, die Kanäle nutzen, die wir haben - den Petersburger Dialog zum Beispiel oder die gemeinsame Sommeruniversität, die jetzt vor Ihnen liegt. Sie ist ein ermutigendes Beispiel, wie die junge Generation von Deutschen und Russen zusammenkommt. Wir müssen zueinanderfinden und wir müssen zusammenarbeiten! Das gilt in den großen Fragen - Krieg und Frieden, Ukraine und Syrien - ebenso wie im Verhältnis der Menschen unserer beiden Länder zueinander. Wir Älteren setzen auf den Willen und die Bereitschaft der Jüngeren, Verantwortung zu übernehmen. Bleiben Sie neugierig auf das jeweils andere Land und arbeiten Sie für eine gute Zukunft in den deutsch-russischen Beziehungen. Das ist meine Bitte an Sie. Vielen Dank.