"Wichtig ist, rechtzeitig einzugreifen"

Interview zum Kompetenznetzwerk Antisemitismus "Wichtig ist, rechtzeitig einzugreifen"

Menschenfeindliche Angriffe und Handlungen gefährden die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Die Bundesregierung fördert deshalb Präventionsprogramme. Patrick Siegele, Direktor des Anne Frank Zentrums Berlin, berichtet im Gespräch über das Kompetenznetzwerk Antisemitismus.

3 Min. Lesedauer

Patrick Siegele

Patrick Siegele ist Direktor des Anne Frank Zentrums Berlin: Eine gute Entwicklung in der Arbeit gegen Antisemitismus.

Foto: Anne Frank Zentrum/Stephan Pramme

Antisemitismus existiert leider immer noch in Deutschland. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?

Patrick Siegele: Grundsätzlich muss man sagen, dass Antisemitismus nie weg war. Es gab die Wahrnehmung in unserer Gesellschaft, dass diese Thematik mit der Vergangenheit abgeschlossen wurde. Antisemitismus hat sich aber in unterschiedlichen Formen über die Jahrzehnte - auch nach 1945 - immer wieder gezeigt.

Derzeit erleben wir eine beunruhigende Radikalisierung, die aus meiner Sicht mit drei Dingen zu tun hat: Die Corona-Pandemie und die Proteste gegen die Maßnahmen der Bundesregierung führen dazu, dass antisemitische Verschwörungstheorien wieder starke Verbreitung finden und damit alte antisemitische Klischees und Feindbilder bedient werden. Das Ganze findet aber nicht nur auf Demonstrationen statt, sondern hauptsächlich in den Sozialen Medien, die einen fruchtbaren Resonanzboden mit enormer Reichweite bieten. Und ganz aktuell kommt eine weitere Radikalisierung durch die jüngsten Auseinandersetzungen in Israel hinzu. Wann immer sich der Nahostkonflikt zuspitzt, bietet er Antisemiten eine willkommene Gelegenheit, ihre Judenfeindschaft lauthals kundzutun. Hier bleibt es aber nicht nur bei Worten, sondern diese führen auch zu gewaltvollen Übergriffen.

Wird genug gegen Antisemitismus getan?

Siegele: In Deutschland gibt es eine gute und erfreuliche Entwicklung in der Arbeit gegen Antisemitismus. Dazu hat unter anderem auch das Förderprogramm "Demokratie leben" beigetragen. Seither gibt es ein eigenständiges Themenfeld mit Schwerpunkt der Antisemitismusprävention, oder anders gesagt: antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Die hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren stark weiterentwickelt, auch unter großer Beteiligung betroffener Menschen und jüdischer Organisationen. Mit dem im Januar 2020 gegründeten Kompetenznetzwerk soll nun künftig Judenfeindlichkeit noch effektiver bekämpft werden.

Das Bundesprogramm "Demokratie leben!"  wird seit 2015 vom Bundesfamilienministerium gefördert. Unterstützt werden Projekte, die sich für ein vielfältiges und demokratisches Miteinander vor Ort einsetzen. Im Jahr 2021 wurde das Programm mit 150,5 Millionen Euro ausgestattet.

Warum war die Gründung eines Kompetenznetzwerks so wichtig und welche konkreten Verbesserungen erwarten Sie?

Siegele: Das Kompetenznetzwerk bildet einen Zusammenschluss aus fünf verschiedenen Organisationen, die über langjährige Erfahrungen in diesem Bereich verfügen. Mit Hilfe dieser Partner-Träger können wir Antisemitismus in all seinen unterschiedlichen Facetten besser behandeln und dem Phänomen stärker gerecht werden. Die einen sind spezialisiert auf die Migrations- und Einwanderungsgesellschaften, andere fokussieren sich auf das Monitoring, um aktuelle und aufschlussreichere Bilder von antisemitischen Vorfällen in Deutschland zu recherchieren und registrieren.

Außerdem spielt der Bereich der Erinnerungskultur, die Auseinandersetzung von Ursachen und Folgen des Holocaust sowie die Beratung, beispielsweise von Lehrkräften und Erzieherinnen und Erziehern, eine große Rolle. So bringt jede Organisation ihre spezifische Expertise ein. Das wiederum entspricht der Idee eines Kompetenznetzwerks – Wissen und Aufgaben bündeln und durch Austausch und Vernetzung stärker voneinander lernen und handeln.

Das Kompetenznetzwerk Antisemitismus ist ein Verbund aus den Trägern: Bildungsstätte Anne Frank, Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS), Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V., Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus und dem Anne Frank Zentrum.

Wie kann man im Alltag Antisemitismus verhindern? Und wie reagiert man, wenn man antisemitische Äußerungen oder Handlungen erfährt?

Siegele: Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu tun: Dabei ist jede und jeder gefragt, vorhandene Handlungsspielräume und Beratungsangebote zu nutzen. Wichtig ist generell: rechtzeitig einzugreifen, denn stillschweigen ist im Grunde genommen mitmachen oder mitlaufen. Wenn Menschen im eigenen Umfeld antisemitische Vorurteile oder Einstellungen geäußert haben, dann ist es immer ganz wichtig, nach dem Motiv zu fragen.

Sollte man hingegen einen antisemitischen Angriff in der Öffentlichkeit erleben, der in den Bereich geht, wo es strafrechtlich relevant wird, beispielsweise bei verbaler oder körperlicher Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden oder Menschen, die als solches wahrgenommen werden, dann sollte man sich schnell an die Polizei oder an die zivilgesellschaftliche Monitoring-Stelle RIAS wenden und Betroffene immer unterstützen.

Patrick Siegele leitete seit sieben Jahren das Anne Frank Zentrum in Berlin. Zum 1. Juni wechselt er nun nach Österreich und wird dort als Geschäftsführer von _erinnern.at tätig, dem Holocaust Education Institut des österreichisches Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung.