Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Erwerb des Archivs Wolf Biermann durch die Staatsbibliothek zu Berlin

„Eintracht zu stiften ist seine Sache nicht“, urteilte der strenge Marcel Reich-Ranicki einmal über Wolf Biermann. Der Literaturpapst meinte es aber ausnahmsweise nicht kritisch − wie sonst so häufig −, sondern in diesem Fall voller Anerkennung. Ja, Eintracht zu stiften, ist seine Sache nicht: Deshalb war er der SED-Diktatur ein Dorn im Auge. Und nicht zuletzt deshalb sind sein Archiv und seine Tagebücher, um die es heute geht, so bedeutend.

Tatsächlich spiegelt sich in einer Biografie selten so viel Zeitgeschichte wie in dem bewegten Leben Wolf Biermanns. Und so ist es ein doppeltes Glück, dass Sie, lieber Herr Biermann, sich entgegen mancher Selbstzweifel entschlossen haben, Ihre Erlebnisse und Erinnerungen aufzuschreiben, nicht nur in Ihrer Autobiografie, sondern vor allem in Ihren Tagebüchern, die Sie seit 1954 führen. Mittlerweile gibt es bereits Aufzeichnungen aus 67 Jahren – voll mit persönlichen Einträgen, Selbstreflexionen, kritischen Betrachtungen, Berichten über Debatten, Begegnungen und Ereignissen, und literarischen und lyrischen Entwürfen. Es ist die persönliche Geschichte Wolf Biermanns. Aber es ist gleichzeitig eben auch Zeitgeschichte und Politik. Diese Verflechtung belegt auch das Archiv mit vielfältigen Dokumenten wie Schulheften, Manuskripten, Briefen, Autografen, Rezensionen und vielen anderen Papieren.

Kurzum: Das Archiv Wolf Biermann mit seinen persönlichen Tagebüchern ist ein detailreiches Zeugnis deutsch-deutscher Geschichte. Man muss seine Positionen nicht alle teilen, um sagen zu können, dass Wolf Biermann zu den wichtigsten Künstlern und Intellektuellen in Deutschland gehört − und bis heute mit klaren und bisweilen scharfen Worten zu einem lebendigen Diskurs beiträgt. Dabei waren es gerade Erfahrungen politischer Repression und menschlicher Enttäuschung, die ihn zu einem ebenso poetischen wie polemischen Verfechter von Demokratie und Freiheit gemacht haben. 

Mit seinen Liedern und Gedichten war er Stimme des Protests gegen das SED-Regime. Selbst nachdem gegen ihn ein Auftritts- und Publikationsverbot verhängt wurde, wurde er gehört und gelesen. Als er 1976 nach einer Kölner Konzertreise nicht mehr in die für ihn zur Heimat gewordene DDR zurückkehren durfte, bewegte das die Menschen tief. Für viele Oppositionelle war die Ausbürgerung Wolf Biermanns Anlass für Protest, sie trieb viele Menschen in die Opposition.

So trägt sein Archiv zu einem präziseren Bild der SED-Diktatur bei – es ist Zeugnis all der Entwicklungen, die schließlich zu ihrem Sturz und in die Friedliche Revolution führten. Ich freue mich deshalb sehr, dass Wolf Biermann dieses Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin anvertraut, wo das umfangreiche Material bewahrt und der Forschung zugänglich gemacht werden kann. Das Archiv ist hier bestens aufgehoben – in einer der bedeutendsten Bibliotheken der Welt, in guter Gesellschaft mit Handschriften, Nachlässen und anderen Sondersammlungen von nationalem und internationalem Niveau. Neben Beethoven und Bach steht jetzt also bald auch Biermann.

Letztgenannter sticht dabei gewissermaßen hervor, weil er nicht nur als Liedermacher und Schriftsteller eine enorme Strahlkraft besaß und besitzt, sondern eben auch als Zeitzeuge. Seine Zeitzeugnisse durch den Ankauf seines Archivs in der Staatsbibliothek zu Berlin zu bewahren, ist für die heutige, aber gerade auch für nachfolgende Generationen wichtig. Denn seine Vita und sein Werk machen sichtbar, was es für Künstler – jedoch nicht nur für sie! − bedeutet, in einer Diktatur zu leben; welche hohe Güter die Freiheit der Kunst, die Freiheit der Meinung, die Freiheit des Wortes sind. Und dass es immer wieder Mut braucht, sie einzufordern. Deshalb hat der Bund den Ankauf dieses wertvollen Konvoluts gerne unterstützt. 

Wichtig für das Gelingen eines solchen Ankaufs sind starke Allianzen. Mein besonderer Dank gilt daher der Kulturstiftung der Länder als Partnerin in unserer Förderkoalition. Herzlichen Dank dafür, sehr geehrter Herr Professor Hilgert, sehr geehrter Herr Professor Druffner! Unsere enge Zusammenarbeit wird mit solchen Anlässen wie heute auf wunderbare Weise belohnt.

Wie so vieles in Wolf Biermanns Biografie war auch die Freundschaft zu Reich-Ranicki nicht unkompliziert. Obwohl sie am Ende nicht hielt, bleiben – zum Beispiel – die Briefe zwischen den beiden ein großartiges Zeugnis deutscher und literarischer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und es bleibt Marcel Reich-Ranickis Werben für den jungen Wolf Biermann. So machte er den Liedermacher in der ZEIT bereits 1965 einem breiten westdeutschen Publikum bekannt. Er beendete den Artikel mit den Worten: „Auf jeden Fall haben wir allen Anlaß, vor dem respektlosen Bänkelsänger Wolf Biermann aus Ostberlin den Hut zu lüften – nicht ohne Respekt.“

Meinen Hut kann ich heute nicht lüften, Ihnen aber, lieber Wolf Biermann, 
für Ihr Lebenswerk meinen allergrößten Respekt aussprechen.