„Das Ziel ist der Schutz der Kinder“

  • Bundesregierung | Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Interview mit der Vorstandsvorsitzenden von SOS-Kinderdorf „Das Ziel ist der Schutz der Kinder“

Kindern und Jugendlichen aus ukrainischen Heimen in Deutschland eine sichere Bleibe bieten: Dabei hilft SOS-Kinderdorf im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Was ist das vorrangige Ziel bei der Vermittlung, wie gelingt die Integration? Darüber spricht die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf, Professorin Sabina Schutter, im Interview.

6 Min. Lesedauer

Frau Prof. Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf

Prof. Dr. Sabina Schutter ist Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf.

Foto: SOS-Kinderdorf e.V. / Andre Kirsch

Frau Professorin Schutter, SOS-Kinderdorf engagiert sich seit Jahren in der Ukraine. Welche Auswirkungen hat der russische Angriffskrieg konkret auf Ihre dortige Arbeit?

Prof. Schutter: Der Krieg hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Kinder und Familien in unseren Programmen, in der Ukraine insgesamt und auf unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort. Zum einen befinden sich einige Büros und Angebote in den Teilen der Ukraine, die im Zentrum der Angriffe stehen, wie zum Beispiel die Region Luhansk im Osten. Zum anderen betrifft der Krieg auch die Kinder und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer SOS-Kinderdörfer im Zentrum und im Westen des Landes – sei es, weil Raketen in der Nähe einschlagen, Freunde und Verwandte in Gefahr schweben oder die berechtigte Sorge besteht, dass die Invasoren auch dorthin vordringen. Als Organisation hat SOS-Kinderdorf in der Ukraine darum schon sehr früh gefährdete Einrichtungen evakuiert, in den Westen des Landes oder nach Polen, und auch viele von uns betreute Pflegefamilien bei der Evakuierung und Flucht unterstützt. Und wir helfen Tag für Tag Kindern und Familien in der Not, mit Unterkunft, lebensnotwendigen Gütern und Traumaberatung, aber auch mit längerfristigen Angeboten wie einem Rehabilitationsprogramm für Kinder mit Kriegsverletzungen. 

Seit einigen Wochen betreibt SOS-Kinderdorf die „SOS Meldestelle Ukrainische Waisenhäuser und Kinderheime“. Wie sind Ihre Erfahrungen bisher? 

Prof. Schutter: Seit dem 31. März betreiben wir im Auftrag des Bundesfamilienministeriums die SOS Meldestelle. Anfangs war die Meldestelle besonders stark frequentiert, vor allem durch Anrufer, die Unterkünfte für die Unterbringung von Kindergruppen mit Betreuungspersonen anboten, oder die selbst einzelne Kinder aufnehmen wollten - wofür die Meldestelle zwar gar nicht zuständig ist, aber wir konnten diese Anrufe weitervermitteln. Dann erreichen uns Anfragen für die Unterbringung von Kindergruppen mit Begleitpersonal und Pflegefamilien, die gemeinsam nach Deutschland einreisen wollen, sowie Anfragen zum Procedere der Evakuierung insgesamt und zu rechtlichen Themen. Bislang haben wir insgesamt knapp 300 Anrufe in der Meldestelle erhalten.

Die Evakuierung von Kindergruppen aus dem Ausland in die Kinder- und Jugendhilfe ist ja insgesamt für alle Beteiligten ein neues Verfahren, für das viele Aspekte der Durchführung zwischen Bund, Ländern und der Zivilgesellschaft geklärt werden mussten. Auch die zwischenstaatliche Abstimmung zwischen der Ukraine und Deutschland wirft immer neue Fragen auf. Hier hoffen wir im Interesse des Kindeswohls, dass es bald zu einer Vereinbarung kommt damit ganze Kindergruppen einfacher ausreisen können und sie in Deutschland Zuflucht finden können.

Der Ukraine-Krieg zwingt auch viele Heim- und Waisenkinder zur Flucht. Damit sie in Deutschland schneller eine Unterkunft finden und möglichst in Gruppen zusammenbleiben können, gibt es seit dem 31. März 2022 eine Melde- und Koordinierungsstelle. SOS-Kinderdorf betreibt diese „SOS Meldestelle Ukrainische Waisenhäuser und Kinderheime“  im Auftrag des Bundesfamilienministeriums.

Was ist Ihr vorrangigstes Ziel bei der Vermittlung in Deutschland?

Prof. Schutter: Das Ziel ist der Schutz der Kinder. Es geht darum eine Situation zu schaffen, in der das Kindeswohl bestmöglich gewährleistet wird. Weil die bekannten Bezugspersonen und die bestehenden persönlichen Beziehungen den Kindern in der Ausnahmesituation Halt geben können, ist es sinnvoll,  geflüchtete Kindergruppen zunächst nicht zu trennen, sofern nicht zwingende Gründe des Kinderschutzes dagegen sprechen. Wir unterstützen das Bundesfamilienministerium und die Länder dabei, indem wir helfen, die Anfragen für die Unterbringung von Kindergruppen sowie Angebote für größere Unterkünfte in ein geregeltes Verteilverfahren zu überführen. Das Verteilverfahren des Bundesverwaltungsamts erfolgt dabei weitestgehend nach dem Königsteiner Schlüssel

Wie gut funktioniert die Aufnahme von ukrainischen Kindern in Kitas und Schulen? Werden sie integriert?

Prof. Schutter: Unsere SOS-Kinderdörfer in Deutschland helfen vielen geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Familien seit ihrer Ankunft in Deutschland und unterstützen vor Ort bei der Integration. Über die Arbeit von SOS-Kinderdorf erreichen uns auch Informationen über die evakuierten Kindergruppen. Für die Integration der Kinder ist die Sprache das größte Hindernis, auch wenn dies für die Kinder im Vorschulalter noch kein so großes Problem darstellt. Aber spätestens mit der Einschulung stellt sich dann die Frage, was dem Kindeswohl am meisten dient: Sollen die Kinder in reguläre Schulklassen integriert werden, auch wenn sie die Sprache nicht sprechen und es keine Sprachmittler gibt – oder soll es Extra-Klassen in ukrainischer Sprache geben, auch wenn dies der Integration nicht unbedingt förderlich ist? Oder kann es eine Kombination der beiden Unterrichtsformen geben? Hier wird es spannend sein zu sehen, wie die einzelnen Länder das gerade auch im kommenden Schuljahr umsetzen werden, da wir aktuell nicht davon ausgehen, dass bis dahin der Krieg beendet ist, alles wieder aufgebaut ist und die Kinder wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Inwieweit gibt es weiter eine große Hilfsbereitschaft in Deutschland für die ukrainischen Flüchtlinge?

Prof. Schutter: Die Hilfsbereitschaft in Deutschland für die geflüchteten Menschen aus der Ukraine ist großartig. Seit Beginn des Krieges erreichen uns Anfragen von besorgten und engagierten Menschen, die helfen wollen, sei es durch Geldspenden, durch Sachspenden oder durch konkrete Hilfsangebote zur Unterbringung geflüchteter Menschen. Und das zeigt sich nicht nur bei SOS-Kinderdorf, sondern bei allen Hilfsorganisationen, bei den Spendenbündnissen, in den Kirchen und Kommunen vor Ort. Auch bei unserer eigenen Mitarbeiterschaft hat sich gezeigt, wie groß die Hilfsbereitschaft ist, um den Menschen in Not zu helfen – und das nach zwei Jahren Pandemie, die ja gerade in der sozialen Arbeit auch große Belastungen mit sich gebracht hat. 

Was brauchen die ukrainischen Kinder, die jetzt in Deutschland sind, am dringendsten?

Prof. Schutter: Das unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen Kindern und Jugendlichen, die vor Kriegen geflohen sind. Wir müssen die Bedürfnisse der Kinder und jungen Menschen, die jetzt bei uns sind, flexibel und unbürokratisch erfüllen – denn wie gesagt wir wissen nicht, wie schnell sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können und ob das überhaupt alle wollen. Die Frage der Perspektive ist für die Kinder sehr wichtig, vor allem, weil sie ein anderes Zeitempfinden als Erwachsene haben: Ein Jahr fühlt sich für Kinder ganz anderes an als für Erwachsene. Zwar wird vielfach geäußert, dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer schnellstmöglich zurückkehren wollen, aber je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird das.

Die Menschen, insbesondere die Kinder, können nicht über einen längeren Zeitraum in einem Schwebezustand bleiben – ihr Leben und ihre Entwicklung kann nicht einfach auf Pause gestellt werden, bis der Krieg vorbei und das Land wieder aufgebaut ist – und das Land, in das sie dann zurückkehren können, wird auch nicht mehr dasselbe sein. Sie brauchen behutsame Hilfe, wie sie sich wieder eine Perspektive erarbeiten und ihr Leben wieder selbstbestimmt gestalten können.

Dazu gehören Bildungsangebote, die ihre Situation anerkennen und auf die Herausforderungen der Verarbeitung der Kriegserlebnisse und den Spracherwerb eingehen. Dabei kann für die Schülerinnen und Schüler eine Mischung von ukrainischem Onlineunterricht und deutschem Schulsystem hilfreich sein, aber auch andere Modelle könnten passen. Die jungen Menschen, die eher am Ende ihrer Schullaufbahn stehen, müssen wir dabei unterstützen, eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen und ihnen zusichern, dass sie das auch in Deutschland beenden können.  Darüber hinaus gibt es Kinder, die besonders vulnerabel sind, zum Beispiel Kinder mit Beeinträchtigungen oder Kinder ohne elterliche Fürsorge. Hier ist das Wichtigste, dass wir diese Kinder schnell in die normalen Systeme der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe integrieren ohne dafür die aus gutem Grund bestehenden Fachstandards und Fachkräfteschlüssel abzusenken.