Sonnenallee statt Brandenburger Tor

Flüchtlinge führen durch Berlin Sonnenallee statt Brandenburger Tor

Mit Flüchtlingen Neukölln entdecken: Diese besondere Form einer Stadtführung ermöglicht einen Perspektivwechsel und führt Geflüchtete und Einheimische zusammen. Auf seiner Tour erzählt der junge Syrer Mohamad über seine Flucht, seine Integration in Berlin und über deutsche Essgewohnheiten.

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Stadtführer Mohamad Khalil im Gespräch mit einer Teilnehmerin der Tour.

Mohamad lebt seit Herbst 2015 in Deutschland – die Stadtführungen macht er seit einigen Monaten.

Foto: Judith Affolter

Diese Stadtführung beginnt nicht in Berlin-Mitte am Brandenburger Tor. Sie startet in Neukölln, vor einem Matratzen-Discounter. Und der Guide ist kein waschechter Berliner, sondern ein syrischer Flüchtling. Um halb fünf an einem Mittwochnachmittag wartet Mohamad Khalil auf seine Gruppe. Kurz noch ein Blick zur Uhr, da eilen die zehn Teilnehmer schon auf ihn zu. Freudestrahlend begrüßt er jeden Einzelnen per Handschlag.

"Hallo, ich bin Mohamad und führe Sie heute durch Neukölln", sagt der 20-Jährige in gut verständlichem Deutsch, wenn auch mit deutlichem Akzent. "Wie lange dauert die Tour?", möchte jemand aus der Gruppe wissen. "Ziemlich genau zwei Stunden", antwortet Mohamad blitzschnell. Er muss es auch wissen, schließlich ist er bereits zum elften Mal der Guide auf dieser Strecke.

Eine andere Sicht auf Berlin

Los geht`s: Zunächst über die Karl-Marx-Straße, eine der wichtigsten Einkaufsmeilen Neuköllns. Mohamad geht voran, die anderen folgen ihm auf dem staubigen Bürgersteig. Rechts und links viele arabische und türkische Restaurants, Imbissbuden, einige Friseurläden, an zahlreichen Häusern bröckelt die Fassade. Klassisch schön und touristisch sehenswert ist dieser Teil Berlins kaum.

"Genau deshalb haben wir auch diese Tour gebucht", erzählt Doreen Harnischmacher, die sich mit ihren Arbeitskollegen vom Evangelischen Erwachsenenbildungswerk Westfalen und Lippe aus Dortmund für die Stadtführung mit Mohamad entschieden hat. "Ich erwarte eine ganze andere Sicht auf Berlin als man dies normalerweise kennt."

Und genau darum geht es auch bei dieser Tour: Mohamad zeigt einen Kiez, der gerade bei Flüchtlingen eine große Rolle spielt. Wie sieht hier ihr Alltag aus? Und wie klappt es mit dem Zusammenleben? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt. Außerdem gehört es zum Konzept, dass der Guide viel über seine eigene Flucht und über sein Ankommen in Berlin erzählt. "Ich mache diese Führungen sehr gerne", sprudelt es aus ihm hinaus. "Denn so lerne ich viele neue Menschen kennen und kann gleichzeitig etwas von meiner Kultur zeigen."

Neukölln erinnert Mohamad an Aleppo

Mohamad lebt seit Herbst 2015 in Deutschland. Zuerst kam er nach Forst in der Lausitz. Dort habe er sich nicht besonders wohlgefühlt. Anders im quirligen und bunten Neukölln, wo er im Frühjahr 2016 hinzog. "Ich mag diese Vielfalt der Menschen hier. Das erinnert mich sehr an meine Heimatstadt Aleppo. Und hier in Neukölln gibt es so viele Möglichkeiten, mit anderen in Kontakt zu kommen", erzählt er mit leuchtenden Augen.

Schnell fand er Anschluss und neue Freunde. Geholfen haben ihm neben seiner offenen Art seine guten Deutschkenntnisse. "Ich habe die erste Zeit in Neukölln bei meiner Tante gewohnt, die schon einige Zeit vorher nach Berlin geflüchtet war", berichtet Mohamad. "Sie kann sehr gut Deutsch, sie hat mir viel beigebracht."

Deutsch lernte Mohamad auch in einem Integrationskurs. Dort traf er einen Mitschüler, der bereits ab und zu für das Sozialunternehmen "querstadtein" als Stadtführer aktiv war. "Als er mir davon erzählte, habe ich direkt gedacht, das muss ich auch machen, um noch mehr unter Leute zu kommen", sagt Mohamad. Mittlerweile zeigt er seit vier Monaten interessierten Gruppen sein Neukölln.

Menschen eine Stimme geben, die selten zu Wort kommen

"querstadtein" bietet seit 2013 Stadttouren durch Berlin an. Zunächst wurden sie nicht von Flüchtlingen, sondern ausschließlich von ehemals Obdachlosen geleitet. "Die Idee dahinter war, Vorurteile zu überwinden und einen lebendigen Austausch zwischen Menschen zu erreichen, die sich gewöhnlich eher nicht begegnen", sagt Tilman Höffken von "querstadtein". Im direkten Kontakt könnten die Menschen sich am ehesten in die Situation des anderen hineinversetzen. Zudem sei es das Ziel, "Menschen eine Stimme zu geben, über die viel gesprochen wird, die aber selbst eher selten zu Wort kommen".

Dieses Konzept hat das Sozialunternehmen im Zuge der Flüchtlingswelle übertragen: Seit April 2016 zeigen auch Geflüchtete ihre Sicht auf Berlin. "Wichtig ist uns vor allem, dass die Touren sowohl den Geflüchteten als auch den Teilnehmern einen Perspektivwechsel ermöglichen, man sieht die Stadt sozusagen durch eine andere Brille. Das erweitert auch den eigenen Horizont", ist Höffken überzeugt.

Die eigene Kultur vermitteln

Auf seiner Tour mit den Dortmundern stoppt Mohamad plötzlich. Neben ihm ist ein Eisentor, dahinter eine ehemalige kleine Moschee. "Hier konnten Flüchtlinge auch mal übernachten, wenn sie keine Wohnung oder keinen Heimplatz hatten", berichtet der 20-jährige Syrer. Er selbst ist auch Muslim, was auf der Tour allerdings weniger eine Rolle spielt. Vielmehr geht es um seine Zugehörigkeit zu den Kurden.

"Was glauben Sie, wie viele Kurden gibt es?", fragt Mohamad in die Runde. "Vier Millionen", rät einer. "Zwei Millionen", versucht sich ein anderer. "Leider falsch", sagt Mohamad mit einem breiten Grinsen im Gesicht: "Es gibt mindestens 25 Millionen Kurden". Ungläubiges Staunen.

Weil wohl viele Gruppen mit der Antwort daneben liegen, hat Mohamad vorsichtshalber eine Karte eingesteckt, die er jetzt in die Höhe hält. Zu sehen sind die Länder, auf die die meisten Kurden verteilt sind: Türkei, Syrien, Irak und Iran.

Im Gespräch mit der Gruppe macht Mohamad deutlich, wie viel ihm seine Kultur und Traditionen bedeuten. Um dies auch in Berlin leben zu können, hat er sich hier einer kurdischen Tanzgruppe angeschlossen. Und weil die Tour nicht nur lehrreich sein, sondern auch Spaß machen soll, zückt er sein Smartphone und zeigt ein kurzes Video: Mohamad ganz in seinem Element als Tänzer in einer kurdischen Tracht. Das stimmt die Dortmunder nach dem weniger erfolgreichen Ratespiel wieder heiter.

Migranten-Vielfalt in Neukölln

Nächste Station: das Rathaus Neukölln. Mohamad macht die Gruppe auf die Steinplatten vor dem Eingang aufmerksam. Dort sind Prozentzahlen eingraviert, die deutlich machen, aus welchen Herkunftsländern die Zuwanderer in diesem Kiez kommen. Insgesamt haben in Neukölln etwa 44 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. Viele haben polnische, italienische, bulgarische, rumänische oder arabische Wurzeln.

Mohamad sieht es für Flüchtlinge als Startvorteil in Deutschland, wenn sie sich zunächst in Gegenden mit vielen anderen Migranten aufhalten können. Vielen falle dann allein wegen der Sprache die Kontaktaufnahme leichter. Er betont aber auch, wie wichtig es sei, nach und nach auf einheimische Deutsche zuzugehen. "Man muss sich halt einfach nur trauen. Vielleicht auch mal in einen Verein gehen" meint er.

Islamisten drohten Mohamad

Dass Mohamad vor Unbekanntem nicht zurückschreckt, zeigt sich schon daran, dass er als Jugendlicher ganz allein nach Deutschland geflüchtet ist und einen Großteil seiner Familie in Syrien zurücklassen musste. Auslöser war vor drei Jahren eine Busfahrt von Aleppo in eine nahe gelegene syrische Kleinstadt. Islamisten hätten den Bus plötzlich gestoppt, berichtet Mohamad. Dann hätten sie ihn als frischgebackenen Abiturienten gefragt, ob er schon für das Assad-Regime beim Militär sei. Er habe das verneint, zunächst habe ihm aber keiner geglaubt.

"Ich hatte eine solche Angst, dass sie mir etwas antun. Ich habe gezittert, konnte nicht mehr reden", erinnert sich Mohamad, auch in diesem Moment sichtlich bewegt. "Da bekomme ich Gänsehaut", flüstert jemand aus der Dortmunder Gruppe. Doch Mohamad hatte Glück. Die Islamisten hatten ein Einsehen – aber nur in dem Moment. "Sie sagten zu mir, dass ich auf keinen Fall zurückkommen soll". Da habe für ihn festgestanden, dass er Syrien verlassen müsse.

Flucht in einem Gummiboot

Die Flucht führte ihn in die Türkei, wo er sich zunächst ein Jahr bei seinem Bruder aufhielt, der schon zuvor Syrien verlassen hatte. In dieser Zeit wartete Mohamad auf ein Visum für Deutschland – vergeblich. Kurzentschlossen habe er sich von Istanbul alleine auf den Weg zu seiner Tante nach Deutschland gemacht. Wie viele andere Flüchtlinge fiel Mohamad Schleppern in die Hände. Für 200 Dollar, für ihn ein Vermögen, wollten sie Mohamad über die Ägäis nach Griechenland bringen – in einem Gummiboot.

Auf der Fahrt sei dreimal hintereinander der Motor ausgegangen. "Ich habe nicht mehr geglaubt, überhaupt noch anzukommen", erzählt Mohamad. Mit viel Glück hätten sie dann doch eine griechische Insel erreicht und er sei in Sicherheit gewesen. Von dort habe er sich über Serbien und Österreich nach Deutschland durchgeschlagen.

Heimatgefühl in der Sonnenallee

Nach diesen bewegenden Worten ist es erst einmal ruhig in der Gruppe. Das ändert sich schlagartig, als sie den Endpunkt der Tour erreicht: die Sonnenallee. "Das ist die arabische Straße", sagt Mohamad, und kämpft dabei mit seiner Stimme gegen den Lärm von aufheulenden Motoren und quietschenden Reifen an. Notgedrungen lautstark unterhalten sich jetzt auch die Dortmunder: Über die vielen Shisha-Bars, die Gemüsehändler und die vielen arabischen Bäckereien, aus denen eine Wolke aus Düften nach Pistazien und gebackenem Teig wabert.

Viele Bürgerkriegsflüchtlinge zogen in den 1980er-Jahren aus dem Libanon in die Sonnenallee. Mit der Flüchtlingswelle 2015 kamen auch viele Syrer hierhin. "Es ist sehr schön für mich, in der Sonnenallee zu sein", meint Mohamad.

"Hier kann ich all das kaufen, was es auch in meiner Heimat Syrien gibt." Einmal sei er sogar von Forst, wo er zunächst untergebracht war, zum Einkaufen zur Sonnenallee gefahren. 150 Kilometer für Baklava-Gebäck und für Hummus, eine orientalische Spezialität, die aus pürierten Kichererbsen oder Bohnen hergestellt wird. Hummus habe es ihm besonders angetan. Er wundere sich nur, dass die "Deutschen das hier in der Mittagszeit zu sich nehmen". Er kenne das nur als Frühstück, erzählt er und grinst.

Sein Ziel: Maschinenbau studieren

Doch auch wenn ihm die Essgewohnheiten noch ein wenig fremd sind und die Sonnenallee wohl zunächst noch Heimatgefühl und Sehnsuchtsort bleiben wird: Mohamad will sich langfristig in Deutschland integrieren. Was die Gruppe besonders beeindruckt: Der junge Syrer will an der Technischen Universität Berlin Maschinenbau studieren, ist dort schon als Gasthörer eingeschrieben. "Ich finde es toll, wie motiviert Mohamad ist, hier in Deutschland etwas aus seinem Leben zu machen", sagt die Dortmunderin Doreen Harnischmacher.

Zustimmend nicken die anderen, und zum Schluss der Tour bedanken sie sich bei Mohamad für ganz besondere Eindrücke aus Berlin und für seine Offenheit, über sich selbst zu erzählen. Strahlend verabschiedet sich Mohamad.

Da sagt noch jemand aus der Gruppe: "Ich finde es aber nicht so gut, dass hier in der Sonnenallee viele nur Arabisch und kaum Deutsch sprechen." Mohamad überlegt einen kurzen Moment, und sagt: "Stimmt, man sollte unbedingt beides können". Mehr braucht er nicht zu sagen. Ist er doch schließlich selbst das beste Beispiel für jemanden, dem es wichtig ist, sich auch in der neuen Kultur zurechtzufinden.

Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat "querstadtein" als Modellprojekt im Bereich Flucht und Asyl gefördert. Als nächstes will das Sozialunternehmen Stadttouren anbieten, bei denen Menschen mit Behinderungen ihren Blick auf Berlin zeigen.