Rede von Kulturstaatsministerin Roth bei der Tagung zum 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz

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Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Roth bei der Tagung zum 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz

Zur Eröffnung der Tagung  „20. Januar 1942. Was bleibt? Die Besprechung am Wannsee in Geschichte und Gegenwart“ der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz erinnert Kulturstaatsministerin Roth an den vor 80 Jahren geplanten Holocaust und die damit einhergehende Verantwortung der Bundesregierung. Sie sprach außerdem über ihre Vorhaben in der Erinnerungspolitik. „Denn Erinnern beschränkt sich nicht auf ein Zurückschauen; Erinnern heißt handeln, heißt unsere Gegenwart, unsere Zukunft gestalten“, so die Staatsministerin.

Mittwoch, 19. Januar 2022

− Es gilt das gesprochene Wort −

„Aus der Erfahrung unseres Lebens sagen wir: Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten! Erinnern heißt handeln!“
Das sagte die im vergangenen Sommer verstorbene Holocaust-Überlebende, die wunderbare Esther Bejarano. Ich – wir – wollen, wir werden handeln, im Sinne von Esther Bejarano, im Sinne der Überlebenden, von denen heute leider nur noch sehr wenige unter uns weilen, im Sinne unserer Verantwortung, die weder vergeht noch verjährt.
Wir wollen uns erinnern in die Zukunft! Und das heißt, wir werden handeln! Denn Erinnern beschränkt sich nicht auf ein Zurückschauen; Erinnern heißt handeln, heißt unsere Gegenwart, unsere Zukunft gestalten. Erinnern heißt, gerade in Zeiten, in denen das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist, in Zeiten des Geschichtsrevisionismus, in Zeiten, in denen die Hasser und Hetzer unsere demokratischen Institutionen verhöhnen, in denen sie einen Schlussstrich ziehen wollen, wo es keinen geben kann –gerade in diesen Zeiten, ist Erinnern ein elementarer Beitrag für unsere lebendige Demokratie, für unsere vielfältige Gesellschaft.

Doch was bedeutet „Erinnern“? Erinnern an die Millionen Opfer − an Jüdinnen und Juden, an Sinti*zze und Rom*nja, an Menschen mit Behinderung, an Homosexuelle, an engagierte Gläubige, an die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, an die aufrechten und standhaften Demokrat*innen, und auch an die Kommunist*innen − schlicht an all jene, die nicht in das menschenverachtende Bild der Nazis passten. Erinnern an die unvorstellbaren, unfassbaren Gräueltaten, die selbst vor den Schwächsten, alten Menschen, Kranken und Kindern, nicht Halt machten. Erinnern daran, dass hier am Wannsee die Verbrecher zusammensaßen und in perfider Art den Massenmord planten und ein monströses System schufen, das den Opfern schon weit vor ihrer Ermordung alle Würde, alles Menschsein nahm. Erinnern daran, dass der Vernichtung von Millionen von Menschen, Ausgrenzung, Entrechtung, erzwungene Auswanderung, Entzug von Heimat, physische Verfolgung und Enteignung, Qualen und unendliches Leid vorausgegangen waren. Erinnern an den Zivilisationsbruch.

Zum Erinnern gehört aber auch, die Auseinandersetzung mit den Tätern, mit denen, die die Vernichtung hier am Wannsee planten. Für diese Auseinandersetzung braucht es Orte wie diesen, Orte wie die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Dieser Ort ist eine der zentralen Einrichtungen, die sich dezidiert mit den NS-Tätern beschäftigt. Das dort erhaltene Protokoll des Treffens vom 20. Januar 1942 dokumentiert die Beteiligung des nationalsozialistischen Staatsapparates, von Beamten und Politikern, am Völkermord. Und ja, sie hatten Hundertausende begeisterte und fanatische Helfer*innen, die mittaten, oder wegschauten und ihren Beitrag später leugneten oder verschwiegen. Das Haus der Wannsee-Konferenz ist der so notwendige, der kritische, der brutale, der ehrliche Blick auf die bürokratische, akribische Vorbereitung des deutschen Zivilisationsbruchs – geplant und verübt vom Schreibtisch aus, als nüchtern sachliche, zynische Verwaltungsvorgänge, die ihre mörderische Wucht, ihre mörderische Gewalt, später an anderen Orten entfalteten, an Orten in ganz Europa, Orte wie Sachsenhausen, Buchenwald, Treblinka, Sobibor. Orte, für die Auschwitz symbolhaft steht.

Das Wissen über dieses in der Geschichte einzigartige Verbrechen macht fassungslos – die Erinnerung daran darf niemals verblassen. Diesen Auftrag haben wir als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, diesen Auftrag hat vor allem aber auch die Politik. Ich stehe hier als Staatsministerin für Kultur und Medien und kann Ihnen versichern, dass ich, dass wir uns dieses Auftrags, dieser Verantwortung bewusst sind und handeln. Denn: Erinnern heißt handeln, handeln, auch wenn Menschen wie Ester Bejarano und andere nicht mehr da sind, die persönlich von den Gräueltaten, dem NS-Terror, der Hölle auf Erden berichten können.
Ohne die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen braucht es neue, kreative und lebendige Formen und Formate des Erinnerns, braucht es die Gedenkstätten, die Museen und Erinnerungsorte, die ihre Geschichten erzählen. So haben wir uns vorgenommen, zu handeln:

Erstens: Wir werden die Gedenkstättenkonzeption des Bundes weiterentwickeln und dabei die pädagogische Arbeit stärken. Zudem werden wir die Forschung in den Gedenkstätten fördern. Es ist uns auch ein wichtiges Anliegen, diejenigen Opfergruppen, die bisher weniger beachtet wurden, in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Ich denke da beispielsweise an die Opfer der sogenannten „Euthanasiemorde“, der Zwangssterilisationen, aber auch die sogenannten „Asozialen“.

Zweitens: Erinnerungskulturelle Arbeit für und mit jungen Menschen ist der Schlüssel dafür, dass Erinnerung nicht verblasst. Das Bundesprogramm „Jugend erinnert“ werden wir deshalb nicht nur verstetigen, sondern auch modernisieren.

Drittens: Unsere Gedenkstätten sind Teil der kulturellen Landkarte Deutschlands, sie zu pflegen und zu gestalten, ist Arbeit an unserem kulturellen Gedächtnis, ist Arbeit an unserer Kultur insgesamt. Die Gedenkstätten sind bedeutende Orte des Lernens und der Erinnerung – sind vielfältig und vielschichtig und auch ein Ergebnis von starkem bürgerschaftlichen Engagement – seit Jahrzehnten. Ehrenamtliches Engagement, das häufig in kleinen Initiativen lokal geleistet wird und unverzichtbar ist. Lokale Initiativen werden wir daher verstärkt fördern.

Viertens: Erinnern kennt keine Grenzen, muss europäisch und international gedacht werden. Der Vernichtungskrieg und die deutsche Besatzungsherrschaft prägen Europa bis heute. Bis heute haben wir blinde Flecken in unserem kollektiven Gedächtnis und auch diese müssen wir endlich aufarbeiten. Wir haben gegenüber unseren europäischen Nachbarn eine ganz besondere Verantwortung und wir selbst haben einen großen Nachholbedarf. Das haben mir zahlreiche Besuche und Begegnungen in den letzten Jahren, wie in Tympaki auf Kreta und in Kragujevac Serbien, sehr deutlich gemacht. Deshalb ist für mich klar: Wir werden die gemeinsame Aufarbeitung voranbringen, denn sie hört nie auf. Wir werden die Erinnerung an die Verbrechen in Europa wachhalten, sie sichtbarer machen, sie weiter im kollektiven Gedächtnis verankern, auch und gerade hierzulande.
Die Bundesregierung unterstützt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Errichtung des Dokumentationszentrums „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ und eines Erinnerungs- und Begegnungsortes im Gedenken an die Opfer der Besatzung Polens. Ein Ort, der geschaffen wird für: Erinnerung, Begegnung, Reflexion und Gedenken. Das Dokumentationszentrum wiederrum eröffnet die große Chance, die Geschichte Europas unter deutscher Besatzung in konsequent gesamteuropäischer Perspektive zu dokumentieren und zu vermitteln. Beide Einrichtungen sind wichtige Schritte bei der weiteren Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft – gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnerinnen und Partnern.

Und fünftens: Nur wer das Wissen und Bewusstsein über unsere Vergangenheit besitzt, kann entschieden gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft eintreten, erkennt die Zeichen, erhebt die Stimme, kann handeln.

Liebe Deborah Hartmann, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, für Ihre so wertvolle, so wichtige, so engagierte Arbeit. Sie machen das Haus der Wannsee-Konferenz zu einem wichtigen und unabdingbaren Erinnerungs- und Zukunftsort und diese Bedeutung wird auch in der diesjährigen Holocaust-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag - während der Sitzung am 27. Januar - nochmals unterstrichen. Ihre Arbeit zeigt, wie Bildungsarbeit am authentischen Ort einen unverzichtbaren Beitrag leistet und uns allen, auch im Sinne von Esther Bejarano, einen Auftrag gibt – denn „Erinnern heißt handeln“.

Ich danke Ihnen allen und wünsche Ihnen eine Tagung, die zum Nachdenken anregt, neue Erkenntnisse bietet und die blinden Flecken unserer Erinnerung kleiner werden lässt – die vielfältigen Themen und internationalen Perspektiven der Beiträge und Teilnehmerinnen und Teilnehmer versprechen es − auf neue Anregungen für eine gelebte Erinnerungskultur.