Befragung der Bundesregierung mit Bundeskanzlerin Merkel

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht bei einer Regierungsbefragung im Bundestag.

In der letzten Sitzungswoche vor der parlamentarischen Sommerpause stellte sich Kanzlerin Merkel eine Stunde lang den Fragen der Abgeordneten.

Foto: Bundesregierung/Kugler

106. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 26. Juni 2019

Beginn: 13.00 Uhr


Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Befragung der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat mitgeteilt, dass heute die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, zur Verfügung steht. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das Wort.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen zu Beginn über den Europäischen Rat berichten, der am 20. und 21. Juni in Brüssel stattgefunden hat. Wir haben sehr intensiv über inhaltliche Fragen gesprochen, aber naturgemäß standen die Personalfragen dann doch im Mittelpunkt. Der Sachstand am 20. und 21. Juni war folgender: Ratspräsident Donald Tusk hat uns nach ausführlichen Konsultationen mitgeteilt, dass keiner der gegenwärtigen Spitzenkandidaten eine ausreichende Mehrheit hat. Man muss wissen: Eine Mehrheit im Rat bedeutet eine doppelte Mehrheit, und zwar 21 Mitgliedstaaten von 28 und 65 Prozent der Bevölkerung.

Wir haben deshalb beschlossen, dass erstens Donald Tusk das Europäische Parlament über diesen Sachstand informiert und zweitens wir uns am 30. Juni erneut zu einem Europäischen Rat treffen. Denn es wäre wünschenswert für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, dass vor der Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlaments von Rat und Parlament gemeinsam ein Personalpaket geschnürt wird, das den verschiedenen Belangen geografischer und parteipolitischer Art entspricht. Wir haben diesen Sachstand zu konstatieren.

Ich will hier als jemand, der der EVP-Familie angehört, sagen, dass wir weiter zu dem Spitzenkandidatenprinzip stehen, aber die Konstellationen dieses Mal sehr kompliziert sind. Es gibt keine einfache Mehrheit mehr von zwei politischen Fraktionen. Vielmehr sind die Dinge komplizierter. Insofern müssen wir weiter nach einer Lösung suchen.

Wir haben weiterhin eine strategische Agenda mit wichtigen Säulen unserer zukünftigen Arbeit vereinbart. Dazu gehört erstens die Bekämpfung des Klimawandels. Wir haben eine Diskussion geführt über die Frage: Wie verhalten wir uns zu dem Thema „Klimaneutralität bis 2050“? Deutschland gehört zu der überwiegenden Mehrzahl von Ländern, die sich zu dieser Klimaneutralität bis 2050 bekannt haben. Einige wenige Länder konnten diesem Bekenntnis nicht folgen. Da der Europäische Rat nur einstimmig beschließen kann, konnten wir leider nur den Beschluss fassen, der Ihnen zur Kenntnis gekommen ist. Wir haben uns mit dieser Frage auch deshalb beschäftigt, weil viele von uns beim UN-Sondergipfel zum Klimaschutz, der von António Guterres, dem Generalsekretär der UN, für September angesetzt ist, dann auch präsent sein werden.

Zweitens haben wir das Thema Digitalisierung als ein wichtiges Thema für die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren identifiziert, und wir haben ein sehr klares Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit abgegeben.

Das führt mich zu dem zweiten Thema, das ich kurz anschneiden möchte, nämlich dem G-20-Gipfel, der von Freitag bis Sonnabend in Osaka in Japan stattfindet. Hier werden wir wieder einmal die Frage der multilateralen Zusammenarbeit diskutieren. Die japanische Präsidentschaft hat Themen auf die Tagesordnung gesetzt, die unsere Unterstützung finden: freier Handel und Kampf gegen unfaire Handelspraktiken, Kampf gegen Protektionismus. Es geht um grundlegende Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, die weltweit eingehalten werden müssen. Es geht auch um die Frage der Datensouveränität, die die japanische Präsidentschaft auf die Tagesordnung gesetzt hat.

Außerdem werden wir über das Thema Klimawandel sprechen – Sie wissen, dass das im G-20-Format sehr kompliziert ist – und uns mit Fragen der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz beschäftigen. Die Finanzminister haben erhebliche Fortschritte erzielt, was eine faire Unternehmensbesteuerung, auch in Zeiten der digitalen Wirtschaft, angeht. Das werden wir aufgreifen und gegebenenfalls auch weiterführende Diskussionen führen.

Deutschland wird mit einer Position für den Multilateralismus auf diese Tagung fahren. Angesichts der vielen Themen der Weltagenda wird es beim G-20-Gipfel natürlich viele bilaterale Begegnungsmöglichkeiten geben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr, Frau Bundeskanzlerin. – Wir beginnen jetzt mit der Befragung. Die erste Frage stellt der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Dr. Gottfried Curio (AfD):

Herzlichen Dank. – Frau Kanzlerin, Staatssekretär Tauber hat aus Anlass des Mordfalls Lübcke empfohlen, den Grundrechteentzug nach Artikel 18 Grundgesetz anzuwenden; bisher noch stets vom Bundesverfassungsgericht verworfen, in Deutschland noch nie angewandt. Er sagt: Artikel 18 ist heute

ein Instrument nicht nur gegen Rechtsextreme, sondern auch gegen alle anderen, die sich ebenfalls dem Kampf gegen unsere Freiheit verschrieben haben.

Wen meint er? Konkretisierend führt er aus, die politische Rechte könne man nicht integrieren und einbinden, und wünscht sich eine Wiederholung des historischen Statements „Der Feind steht rechts!“.

Der Innenminister fährt nun fort:

Dieser Mord motiviert mich, alle Register zu ziehen …

Er lässt jetzt einen solchen Grundrechteentzug prüfen. Man lässt nur prüfen, was man dann möglichenfalls auch umsetzen will.

Sehen Sie die Maßnahme eines Grundrechteentzugs gar bei Gleichsetzung von Rechtsextremisten und einer politischen Rechten, welcher der Feind sei, als geeignetes Mittel, Schwachstellen der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Extremismus zu schließen? Oder würden Sie sich von einem solchen Vorgehen distanzieren?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Es ist erst einmal Tatsache, dass es den Artikel 18 gibt. Ich sehe ihn als absolute Ultima Ratio. Der Kampf gegen Rechtsextremismus erfordert eine klare Abgrenzung von Rechtsextremismus. Diese nehmen wir vor, und die muss im politischen Raum durchgesetzt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus ist es ganz, ganz wichtig, dass wir dort zusammenhalten, wo es um diese Abgrenzung geht, und dass wir gar keine Lücken eröffnen, um überhaupt Gedanken zuzulassen, die solchen rechtsextremistischen Taten in irgendeiner Weise Legitimität verschaffen. Das ist eine Aufgabe des gesamten politischen Spektrums. Deshalb sage ich noch einmal: Artikel 18 ist die absolute Ultima Ratio. Er existiert in unserem Grundgesetz. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes werden sich dazu etwas gedacht haben. Aber unsere politische Arbeit findet heute in ganz anderen Bereichen statt.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Dr. Gottfried Curio (AfD):

Ja.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Bitte.

Dr. Gottfried Curio (AfD):

Danke. – Sie sagen, Sie wollen keine Lücke lassen, die es ermöglicht, gewisse Gedanken zuzulassen. Ich habe ja gefragt, ob Sie sich von diesem Vorgehen, den Grundrechteentzug erstmals seit Jahrzehnten anwenden zu wollen, distanzieren würden und ob Sie nicht auch der Meinung sind, dass die Diskussion politischer Alternativen immer essenziell für eine funktionierende Demokratie ist, hingegen ihre Unterdrückung – etwa durch Grundrechteentzug – Quelle von Spaltung und gerade nicht Zusammenhalt sein könnte.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein, ich sage noch einmal: Der Artikel existiert. Das werden Sie auch nicht bezweifeln. Trotzdem sehe ich meine politische Aufgabe in anderen Feldern, weil ich es nicht bis zu einer Ultima Ratio kommen lassen möchte. Das wollen und werden wir auch verhindern.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Martin Schulz, SPD, stellt die nächste Frage.

Martin Schulz (SPD):

Frau Merkel, im Jahre 2014 haben Sie und ich gemeinsam – Sie etwas zögerlicher als ich – den Spitzenkandidatenprozess in Gang gesetzt, der dazu führen soll, dass derjenige Spitzenkandidat einer Partei auf europäischer Ebene, der im Europäischen Parlament eine Mehrheit hinter sich versammelt, Präsident der EU-Kommission werden soll. So ist Jean-Claude Juncker ins Amt gekommen. Es war die Idee der Übertragung des Willens der Bürgerinnen und Bürger, um bei der Stimmabgabe zur Wahl zum Europäischen Parlament Einfluss nehmen zu können auf die Besetzung der Spitze der Europäischen Kommission. In meinen Augen ist dies einer der größten Demokratisierungsfortschritte, die wir in den letzten Jahren in Europa hatten.

Nun wird mir berichtet – und das schreiben auch Zeitungen –, dass Sie am Ende des Europäischen Rates gesagt haben sollen: Wenn Weber raus ist, dann sind alle raus. – Das kann ich gar nicht glauben. Da aber die Haltung der Bundesregierung im Europäischen Rat – nach Lage der Dinge können immer noch sowohl Manfred Weber als auch Frans Timmermans eine Mehrheit im Parlament bekommen – von entscheidender Bedeutung ist, möchte ich Sie deshalb konkret fragen: Stehen Sie ohne Wenn und Aber zu diesem Spitzenkandidatenprozess?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Schauen Sie, Herr Kollege Schulz, es ist so, dass wir im Jahre 2014 nach dem Spitzenkandidatenprozess – den unterstütze ich; ich habe allerdings immer auf die damit verbundenen Schwierigkeiten mit Blick auf den Rat hingewiesen – eine sehr einfache, übersichtliche Situation hatten, nämlich zwei Fraktionen, die zusammen im Europäischen Parlament eine Mehrheit hatten. Man hat sich entschieden, dass die Fraktion, die mehr Stimmen bekommen hat, dann den Kommissionspräsidenten stellt.

Jetzt haben wir keine Mehrheit von zwei Fraktionen, sondern eine kompliziertere Situation. Es werden Gespräche mit den Grünen und den Liberalen geführt. Das ist auch notwendig, um zu stabilen Mehrheiten zu kommen. Jetzt wird von den Sozialisten und der EVP das Spitzenkandidatenkonzept weiter befördert. Allerdings haben die Sozialisten nun gesagt, dass sie zwar das Spitzenkandidatenkonzept haben wollen, aber den Spitzenkandidaten der größten Gruppe im Europäischen Parlament nicht unterstützen. So etwas hat es 2014 bei Ihnen nicht gegeben. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.

Die Sache ist deshalb diesmal komplizierter. Wenn man in eine Debatte hineingeht und sagt: „Wir finden das Spitzenkandidatenkonzept toll; aber den Spitzenkandidaten der größten Gruppe finden wir nicht toll, sondern nur unseren Spitzenkandidaten“, dann kommen wir natürlich zu bestimmten Verwerfungen. Wenn man so vorgeht, dann darf man sich nicht wundern, dass andere sagen: Ja wenn es so losgeht, dann agieren wir nicht anders.

Wir haben doch alle miteinander eine Verantwortung für Europa. Da würde ich mir wünschen, dass wir zu einer Lösung kommen, die das Spitzenkandidatenkonzept natürlich nicht ins Abseits stellt, die aber auch Europa handlungsfähig sein lässt. Da müssen sich alle ein bisschen bewegen. Hinzu kommt, dass im Rat nicht alle vom Spitzenkandidatenkonzept überzeugt sind. Sie gehören doch auch zu denen, die die deutsch-französische Freundschaft sehr hochhalten. Aber wir müssen konstatieren, dass der französische Präsident zur Frage des Spitzenkandidaten eine andere Meinung hat als ich.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Entschuldigung, ich werde 15 Sekunden bei irgendeiner anderen Frage einsparen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Ich wollte gerade sagen: Der Prozess ist so kompliziert, –

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Der auch nur notdürftig dargestellt werden konnte.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

– dass ich in diesem Fall die Überschreitung der üblichen Zeit zulasse.

Nachfrage, Herr Kollege Schulz.

Martin Schulz (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Man merkt ja, Frau Merkel, dass Ihnen die Frage unangenehm ist.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein.

Martin Schulz (SPD):

Die Länge Ihrer Ausführung beweist das.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wem das unangenehm ist, das steht mal dahin.

Martin Schulz (SPD):

Na ja. – Man merkt, dass Ihnen die Frage unangenehm ist, deshalb: Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich die Möglichkeit zur Nachfrage habe.

Politik ist ein dynamischer Prozess, Frau Merkel. Im Europäischen Parlament haben auch in diesen Stunden alle Fraktionen erklärt, dass sie nicht vom Spitzenkandidatenprozess abweichen wollen. Deshalb gehe ich davon aus, dass sowohl Manfred Weber als auch Frans Timmermans im Parlament immer noch die Chance haben, eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Es ist das Prinzip, dass der- oder diejenige, der oder die im Parlament eine Mehrheit hinter sich versammelt – unabhängig davon, ob er oder sie der Stärkste bzw. die Stärkste ist –, Spitzenkandidat werden soll.

Sie haben recht: Im Rat ist die Lage heterogener als im Parlament. Deshalb ist die Rolle Ihrer Regierung, Ihre Rolle als Bundeskanzlerin des stärksten Mitgliedslandes der Europäischen Union gerade im Lichte der Haltung der französischen Regierung von entscheidender Bedeutung. Ich frage Sie deshalb noch einmal sehr präzise: Stehen Sie uneingeschränkt und ohne Wenn und Aber zu diesem Spitzenkandidatenprozess?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Erst einmal waren Sie damals ein fairer Verlierer. Das will ich ausdrücklich hervorheben.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben sofort und noch in der Nacht gesagt, dass Jean-Claude Juncker der Kommissionspräsident wird.

Zweitens bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie eben gesagt haben, dass sowohl Manfred Weber als auch Frans Timmermans die Chance haben, im Parlament eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Allerdings ist damit die Arbeit nicht getan; denn es kann zur Wahl des Präsidenten der Kommission überhaupt nur antreten, wer vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird. Dieser Vorschlag hängt nicht von mir alleine ab.

Es ist notwendig, die doppelte Mehrheit, wie ich es gerade gesagt habe, im Europäischen Rat zu bekommen, um dem Parlament überhaupt einen Vorschlag zu machen. Daran muss gearbeitet werden. Ich möchte, dass dies unter Berücksichtigung des Spitzenkandidatenkonzepts geschieht. Ob das im Rat gelingt, kann ich Ihnen heute nicht sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Katja Suding, FDP, stellt die nächste Frage.

Katja Suding (FDP):

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, in der Koalition gab es im letzten Jahr ein monatelanges Tauziehen um den § 219a Strafgesetzbuch. Die SPD wollte ihn abschaffen, die Union wollte ihn so lassen, wie er ist. Im Februar 2019 haben wir im Hause eine Änderung des Paragrafen verabschiedet. Sowohl die Vertreter der SPD als auch der Union haben daraufhin der Öffentlichkeit ausdrücklich versichert, dass es nun möglich sei, dass Ärztinnen und Ärzte auf ihrer Website darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.

Jetzt sind allerdings in der vorletzten Woche zwei Ärztinnen in Berlin dafür verurteilt worden, dass sie auf ihrer Website angegeben haben, dass zu ihren Leistungen auch Schwangerschaftsabbrüche gehören. Da wurde die Öffentlichkeit also getäuscht. Es besteht also immer noch keine Rechtssicherheit für die Mediziner. Die Frauen können sich noch immer nicht auf den Websites frei informieren. Ich möchte gerne wissen. Wie bewerten Sie diesen misslichen Umstand? Finden Sie nicht auch, dass die Gesetzesänderung noch nicht die notwendige Verbesserung gebracht hat?

(Beifall bei der FDP)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, dass die Gesetzesänderung die Sicherheit für die Frauen und vor allen Dingen auch für die Ärztinnen und Ärzte erhöht, und ich glaube, dass wir sehr präzise dargestellt haben, was unter „Information“ zu verstehen ist. Deshalb muss an dieser Stelle die Rechtssicherheit auch höher sein. Ich kann die einzelnen Fälle hier jetzt nicht bewerten. Ich sage nur: Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, zu sagen, was „Information“ ist, um damit die Abgrenzung zur Werbung deutlich zu machen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Katja Suding (FDP):

Ja, eine kurze Nachfrage, und zwar: Das Ziel war – das war eindeutig und klar –, die Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte zu erhöhen und die Informationsrechte der Frauen zu stärken. Jetzt sehen wir aber anhand des Urteils, welches ja auf Grundlage der neuen Regelung gefällt wurde, dass dieses Ziel noch nicht erreicht ist.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Der Richter hat darauf hingewiesen!)

Können Sie sich denn vorstellen, weiter an dem Paragrafen zu arbeiten, ihn vielleicht sogar abzuschaffen, ihn zu reformieren?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere sehr präzisen und wirklich lange und sehr intensiv erarbeiteten Vorschläge nicht so sind, dass man informieren kann und die Abgrenzung zur Werbung dabei deutlich wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Roderich Kiesewetter, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):

Danke, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, ich möchte einen Gedanken aufgreifen, den Sie zu Beginn Ihrer Einführung zum Thema G 20 hatten. Japan als Gastgeber von G 20 ist ja ähnlich ausgerichtet wie wir: in Fragen des internationalen Handels, bei der Revitalisierung der internationalen Ordnung, aber eben auch bei Fragen der Konfliktbewältigung im Golf. Inwiefern sehen Sie G 20 künftig durch die Zusammenarbeit mit Staaten, die ähnlich ausgerichtet sind wie wir, als einen möglichen Konfliktregelungsmechanismus bei internationalen Konflikten, die ja zunehmen, wie jetzt gerade im Bereich des Golfs? Ich sehe hier eine Chance mit Blick auf die Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrats.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, hier muss man sehr nüchtern sein; denn alle Mitglieder des VN-Sicherheitsrates sind auch Mitglieder der G-20-Gruppe. Und wenn diese sich im G-20-Format blockieren, dann gibt es kein Kommuniqué, dann gibt es keine gemeinsamen Stellungnahmen. Also: Die Blockaden des UN-Sicherheitsrats kann man nicht durch G 20 sozusagen ungeschehen machen.

Ich glaube, dass G 20 die Möglichkeit bietet, am Rande eine Vielzahl von Gesprächen zu führen, die ja auch zur Lösung von sicherheitspolitischen Fragen beitragen können, dass wir G 20 aber auch nicht überfrachten dürfen. G 20 ist von den größten Wirtschaftsländern dieser Erde aufgrund der Finanzkrise auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs gegründet worden. Das wird der Hauptpunkt bleiben, und deshalb mache ich mir keine Illusionen über die Schlagkraft von G 20 bezüglich außenpolitischer Fragen, die im UN-Sicherheitsrat nicht zu lösen sind.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Matthias Höhn, Die Linke.

Matthias Höhn (DIE LINKE):

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor einiger Zeit in einem Interview mit der Zeitung „Die Zeit“ darauf hingewiesen, dass es bei den Ostdeutschen ein hohes Maß an Frustration und das Bedürfnis gebe, Bilanz zu ziehen, auch mit Blick auf die Jubiläen, die vor uns liegen. Ich würde Sie gerne fragen, inwiefern Sie den Eindruck haben – vor allem mit Blick auf die 1990er-Jahre –, dass die Arbeit der Treuhandanstalt Teil dieser Frustration ist, und ob Sie wie ich der Meinung sind, dass es Zeit wäre, die Arbeit der Treuhandanstalt einer Bilanz zu unterziehen.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, dass sich vielleicht zu wenige Menschen an die schonungslose Analyse des Zustands der DDR-Ökonomie von Günter Mittag erinnern und dass die Erlebnisse im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt manchmal zu dem Gedanken führen: Die Schwierigkeiten liegen vielleicht an der Treuhandanstalt. – Es lag aber eigentlich an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Man muss die Ursachen wirklich klar benennen: Es war ein harter Transformationsprozess. Ich weiß aber von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Treuhandanstalt, dass sie wirklich ihr Bestes gegeben haben. Es hat sicherlich auch Fehler gegeben – in der Ansprache, im Umgang –, aber es gab viele, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Wirtschaft in den neuen Bundesländern eine gute Chance bekommt.

Ich will an dieser Stelle auch daran erinnern, dass Herr Rohwedder, der Chef der Treuhandanstalt, im Zusammenhang mit dieser Funktion ermordet wurde.

Das war ein ganz schwieriger Prozess. Ich danke deshalb den vielen Mitarbeitern, die damals auch etwas ganz Neues begonnen haben. Deshalb würde ich sagen: Wir können auf diese Arbeit zurückblicken. Wir können immer über Fehler oder Dinge, die nicht hundertprozentig gelungen sind, nachdenken. Aber die Treuhandanstalt hat mit dazu beigetragen, dass wir heute wieder Wirtschaftskerne in den neuen Bundesländern haben, die auch überlebensfähig sind und wachsen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Matthias Höhn (DIE LINKE):

Ja.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Bitte, Herr Kollege Höhn.

Matthias Höhn (DIE LINKE):

Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Nachfrage, weil ich mir nicht ganz sicher bin, wie ich es zu verstehen habe. Wollen Sie dem Bedürfnis der Ostdeutschen nach Bilanzierung, das Sie ja selber diagnostiziert haben, als Bundesregierung nachkommen, jetzt in der aktuellen Diskussion 30 Jahre später? Inwiefern kann die Arbeit der Treuhand in diese Bilanzierung der Bundesregierung einfließen, und in welcher Form wollen Sie die Arbeit bilanzieren?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich sehe jetzt keine Konzentration auf die Arbeit der Treuhandanstalt, um gegebenenfalls Enttäuschungen im Einigungsprozess allein darauf zurückzuführen. Es gab natürlich Enttäuschungen für die vielen Menschen, die ihre Arbeit verloren haben und nicht wieder an ihren alten Beruf anknüpfen konnten. In der ehemaligen DDR waren 11 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, nach der Wirtschafts- und Währungsreform waren es nur noch 2 Prozent. Es ist natürlich klar, dass die vielen Tierärzte, die vielen Menschen, die in der LPG gearbeitet haben, nicht sofort irgendwo hingehen und in einem ganz anderen Berufsfeld beginnen konnten. Das hat Enttäuschungen produziert.

Viele haben auch den Eindruck, dass ihre Lebensleistung in der DDR nicht ausreichend gewürdigt wurde; denn da wurde hart gearbeitet und vieles getan in einem sehr ineffizienten System. Deshalb bin ich sehr wohl bereit, zu bilanzieren – natürlich –, aber nicht mit der Konzentration allein auf die Treuhandanstalt.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Dr. Kerstin Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, heute ist Weltdrogentag, und Sie wissen, dass Deutschland das letzte Land in der EU ist, das die großformatige Werbung für Tabakprodukte im öffentlichen Raum noch zulässt. Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland auf ihrem Schulweg von dieser Werbung beeinflusst werden, was einen signifikanten Einfluss darauf hat, dass sie anfangen zu rauchen, wie wir wissen.

In der letzten Legislatur gab es einen Kabinettsentwurf zum Verbot der Tabakwerbung. Dieser hat den Bundestag nicht erreicht. Frau Mortler hat im Dezember einen neuen Gesetzentwurf von Ihnen angekündigt; das Gleiche hat die Staatssekretärin Weiss in einer der letzten Fragestunden bekräftigt.

Ich möchte gerne wissen, wie Sie es beurteilen, dass Deutschland das letzte Land ist, das diese Werbung noch zulässt, und wann Sie endlich der Prävention Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen, die zulasten der Gesundheit gehen, einräumen werden. – Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Das ist in der Tat ein hoch umstrittener Sachverhalt in der Fraktion, der ich angehöre. Ich persönlich glaube, dass wir hier handeln und die Sache zu einer Entscheidung bringen sollten. Da ich darüber berichten kann, dass wir heute im Kabinett wie versprochen über die Rüstungsexportrichtlinien diskutiert haben, was auch eine schwierige Sache war, sage ich einfach mal, dass wir bis zum Jahresende eine Haltung dazu finden. Wenn es nach mir geht, sollten wir das Tabakwerbeverbot haben, also die Werbung für Tabakprodukte verbieten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

– Man spürt, dass es bei uns in der Fraktion ein viel diskutiertes Thema ist. Aber auch das werden wir schaffen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Martin Renner, AfD.

Martin Erwin Renner (AfD):

Grüß Gott allerorten! Verehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie waren ja auf dem Kirchentag in Dortmund, der relativ wenig christlich ablief, und haben da eine Rede gehalten. In dieser Rede haben Sie gesagt, wir sollten Afrikas Interessen erfüllen, wir dürften nicht nur das machen, was wir richtig finden, sondern wir müssten das machen, was Afrika glaubt zu brauchen. Das war so in etwa die Rede, die Sie schon mal auf einem Kirchentag gehalten haben. Das war 2011 in Dresden, wo Sie gesagt haben: Wer die neue Weltordnung haben will, der wird nicht umhinkommen, Teile seiner Souveränität abzugeben.

Jetzt habe ich einfach mal die Bitte, dass Sie dem Bürger erklären, was denn „Wer die neue Weltordnung haben will“ bedeutet. Was ist die neue Weltordnung? Und wie soll der Prozess laufen, Souveränitätsrechte des Bürgers sozusagen teilweise abzugeben, um jemand anderen mit diesen Rechten auszustatten? Das wäre eine Frage, die mich brennend interessieren würde als Vertreter der Rechte unserer Bürger. – Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir haben hier am Anfang über die Europäische Union gesprochen, die ein multilaterales Projekt ist, bei dem wir sehr wohl nach einem bestimmten Schema Rechte an die Europäische Union abgeben, aber immer so, dass die Nationalstaaten die Herren – wie man sinnvollerweise sagt; man könnte auch sagen: die Frauen – der Verträge sind. Das heißt, es ist jeweils eine bewusste Entscheidung eines Deutschen Bundestages, eine bestimmte Kompetenz an eine andere Institution zu übertragen.

Davon zu trennen sind unsere Beziehungen zu Afrika. Die Beziehungen zu Afrika beruhen aus meiner Perspektive zu oft darauf, dass wir in unserer Entwicklungspolitik glauben, zu wissen, was richtig ist. Ich bin sehr froh, dass die Afrikanische Union mit ihrer Agenda 2063 für sich Dinge priorisiert hat, die sie für die Entwicklung ihres Kontinents wichtig findet. Das heißt nicht, dass wir ihnen in allem folgen, sondern dass wir aufhören sollten, zu glauben, Entwicklungspolitik sei ein karitativer Akt und jeder, der von uns etwas bekommt, müsse sich darüber freuen. Vielmehr zeigt das eine emanzipatorische Diskussion darüber, wie wir uns am besten entwickeln und ergänzen können. Das heißt auch, dass wir etwas von Afrika lernen können; davon bin ich zutiefst überzeugt. Zu glauben, wir wüssten alles, und zu meinen, dort gebe es keine interessanten kulturellen Erfahrungen, hieße, ganz andere Blicke auf die Zukunft und damit ein Riesenpotenzial beiseite zu legen. Das möchte ich für uns nicht.

Europa, das tut uns gut. Der Papst hat mal gesagt: Europa erscheint ihm in Bezug auf eine Perspektive für die Zukunft ein bisschen wie eine Großmutter, da manches Lebendige entwichen ist – wobei ich damit nicht etwa die Großmütter beleidigen will. Vielleicht können uns Länder, deren Bevölkerung ein Durchschnittsalter von 15 Jahren hat, einen ganz anderen Blick auf die Zukunft ermöglichen. Das möchte ich auch hier und heute gerne sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Martin Erwin Renner (AfD):

Ja, aber sicher, klar. – Sie benutzen gerne Wörter wie „Multikulturalismus“, „Multilateralismus“, „Universalismus“ und „Globalismus“. Bei diesen ganzen Ismen: Spielt da auch das Wohl des Bürgers unserer Gesellschaft noch eine Rolle?

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

Sind diese ganzen Ismen vielleicht auch nur Camouflage, um andere Interessen und Intentionen zu verdecken, um beispielsweise irgendwie herausgehobene Positionen in irgendwelchen supranationalen Staatsorganisationen zu bekommen?

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welch ein Niveau! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!)

Sind Sie tatsächlich davon überzeugt, dass Sie dem Wohl des Bürgers noch dienen, was Sie im Amtseid geschworen haben?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Mich leitet das Wohl der Bürgerinnen und Bürger bei dem, was ich tue. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in Zeiten der Globalisierung – ich bitte, die Endung zu beachten –

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

gut daran tun, immer auch die Interessen anderer zu bedenken. Denn wenn man sich nur noch auf seine eigenen Interessen konzentriert, führt man ein Land in die Katastrophe. Davon bin ich zutiefst überzeugt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Die nächste Frage stellt Dr. Marco Buschmann, FDP.

Dr. Marco Buschmann (FDP):

Frau Bundeskanzlerin, ich möchte zurückkommen auf den Vorschlag des Innenministers und eines Parlamentarischen Staatssekretärs Ihrer Regierung, in der Auseinandersetzung mit Extremisten Grundrechte nach Artikel 18 des Grundgesetzes zu entziehen. Nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist die Bundesregierung unter anderem zuständig dafür, ein solches Verfahren einzuleiten. Sie müssten also auch persönlich daran mitwirken. Vor dem Hintergrund, dass diese Verfahren immer erfolglos waren, möchte ich Sie fragen: Halten Sie diese Vorschläge für klug eingedenk der Tatsache, dass sich rechte Hetzer als Märtyrer stilisieren können und durch dieses Ausnahmeverfahren eine Bühne bekommen und im Falle, dass es erfolglos ist, möglicherweise sogar von sich behaupten, durch das Bundesverfassungsgericht reingewaschen zu sein?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, ich konzentriere mich – ich habe es schon gesagt – auf andere Aktivitäten im Kampf gegen den Rechtsextremismus und habe nicht die Absicht, Grundrechte zu entziehen. Dennoch ist im Zuge der Meinungsbildung der Hinweis nicht verboten, dass unser Grundgesetz interessanterweise einen solchen Artikel enthält.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Marco Buschmann (FDP):

Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär, der diesen Vorschlag gemacht hat, heute ganz konkret davon gesprochen, dass er Bloggern die Grundrechte entziehen möchte. Ist Ihnen ein Blogger oder eine Äußerung von Herrn Seehofer oder von Herrn Tauber über einen Blogger bekannt, auf den die Voraussetzungen des Artikels 18 Grundgesetz heute zutreffen könnten?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU.

Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, das Klimakabinett und die zuständigen Ministerien erarbeiten gerade umfangreiche Maßnahmen für mehr Klimaschutz in allen Sektoren. Ziel ist, eine umfassende Klimaschutzgesetzgebung bis zum Ende dieses Jahres zu verabschieden, die es in der Form so noch nicht gegeben hat. Daneben wird im Klimakabinett auch intensiv über die Frage der CO2-Bepreisung diskutiert. Daher meine Frage: Wie sehen Sie die Chancen, das europäische Emissionshandelssystem, das bereits eine Bepreisung vorsieht, auf europäischer Ebene oder zumindest in einer Koalition der Willigen auf andere Sektoren auszuweiten?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir haben im Zusammenhang mit der Frage der Bepreisung verschiedene Aktivitäten entfaltet. Unter anderem werden uns der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung am 12. Juli ein Gutachten zur Bepreisung im Nicht-ETS-Bereich vorlegen. Die Idee, dass wir alle europäischen Länder davon überzeugen können, das ETS-System in der gebotenen Eile auf die Sektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft auszuweiten, ist, glaube ich, nicht zielführend, weil wir hierfür wieder einstimmige Entscheidungen brauchen. Das geht nicht ohne den Europäischen Rat. Eine Koalition der Willigen wird möglich sein. Wir werden uns insbesondere mit den Niederlanden und mit Frankreich darüber unterhalten, wie sie die Frage der Bepreisung angehen. Ob daraus eine Koalition der Willigen entsteht, kann ich heute noch nicht sagen. Aber wir müssen dann ein Extrasystem erfinden, weil wir nicht einfach ins europäische System einspeisen können, wenn es dazu keine Beschlussfassung der gesamten Europäischen Union gibt.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Susann Rüthrich von der SPD stellt die nächste Frage.

Susann Rüthrich (SPD):

Frau Bundeskanzlerin, als Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und als Kinderbeauftragte meiner Fraktion habe ich mich sehr gefreut, dass wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen und dort ausdrücklich zu verankern. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist eingesetzt, die uns im Herbst einen Formulierungsvorschlag vorlegen wird. Wir sind sehr gespannt darauf. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist das Vorhaben sehr wichtig; denn durch im Grundgesetz verankerte Kinderrechte würde der Staat stärker in die Pflicht genommen, wenn es um kindgerechte Lebensverhältnisse, um Kinderschutz und um gleiche Entwicklungschancen geht. Kinder sollen auch an den Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt werden. Das stärkt nicht nur die Kinder, sondern die ganze Familie. Frau Bundeskanzlerin, teilen Sie unsere Auffassung? Und werden Sie sich persönlich weiter für die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz und damit für deren Stärkung einsetzen und das zur vorrangigen Aufgabe machen, sodass wir am Ende des Jahres das Grundgesetz hoffentlich tatsächlich entsprechend ändern können?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Das Vorhaben ist nicht nur Teil unseres Koalitionsvertrages, sondern es war auch Teil des Regierungsprogramms von CDU und CSU. Insofern sind wir überzeugt, dass wir etwas finden müssen. Neben mir sitzt ja jemand, der morgen eine andere Funktion annehmen wird. Wir werden sehr intensiv zusammenarbeiten.

Als Nichtjuristin kann man sich manchmal gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, den einfachen Satz „Kinderrechte ins Grundgesetz“ auch wirklich umzusetzen. Aber diese Hürden werden wir überwinden. Wir müssen das hinbekommen. Ich weiß nicht genau, ob es Dezember oder Januar wird, aber ich kann sagen: Ich fühle mich dem Vorhaben vollständig verpflichtet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Susanne Ferschl, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Susanne Ferschl (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, mittlerweile hat Deutschland den größten Niedriglohnbereich in Westeuropa. Jeder fünfte Beschäftigte ist von Niedriglohn betroffen.

(Christian Lindner [FDP]: Niedrigste Arbeitslosigkeit!)

In Ostdeutschland ist die Situation noch dramatischer. Dort sind doppelt so viele Beschäftigte wie in Westdeutschland vom Niedriglohn betroffen. Klar ist, dass sich Kolleginnen und Kollegen gewerkschaftlich organisieren müssen, um für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu streiten, so wie aktuell die IG Metall, die die Arbeitszeitangleichung auf eine 35-Stunden-Woche für die Beschäftigten in Ostdeutschland fordert. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen an der Stelle ganz viel Erfolg.

Meine Frage an Sie: Was wollen Sie ganz konkret unternehmen, um den riesigen Niedriglohnsektor endlich einzudämmen? Was wollen Sie 30 Jahre nach dem Mauerfall tun, um den Kolleginnen und Kollegen in den neuen Bundesländern endlich die gleichen Arbeitsbedingungen und die gleichen Löhne zu bieten?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Da wir gesehen haben, dass die Tarifpartner nicht mehr flächendeckend in der Lage sind, Lohnverhandlungen zu führen, weil es sehr viele Betriebe gibt, die eben nicht tarifgebunden sind, haben wir uns entschieden, einen Mindestlohn einzuführen. Wir haben auch in Übereinstimmung mit den Tarifpartnern eine Mindestlohnkommission eingesetzt. Wir sehen, dass die wachsenden Durchschnittslöhne in Deutschland, die wir ja glücklicherweise haben, dazu führen, dass auch der Mindestlohn ansteigt. Das ist eine gute Nachricht.

Ansonsten setzen wir auf Bildung, vor allen Dingen auf Qualifizierung, weil Qualifizierung eine bessere Chance auf höhere Löhne bietet. Deshalb haben wir als Bundesregierung eine umfassende Weiterbildungsstrategie verabschiedet.

Ansonsten heißt es, alles zu tun, damit wir wettbewerbsfähig genug sind, um gute Arbeitsplätze in Deutschland zu halten und zu verhindern, dass solche Arbeitsplätze woandershin abwandern. Darum haben wir ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz gemacht – das hängt damit zusammen –, damit nicht ein Mangel an Fachkräften zum Thema wird. Gleichzeitig sind wir stolz darauf, dass wir die geringste Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa haben.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Susanne Ferschl (DIE LINKE):

Ja. – Eine Nachfrage zum Thema Arbeitszeit: Frau Bundeskanzlerin, 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es immer noch so, dass die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen in der Metall- und Elektrobranche drei Stunden länger arbeiten als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Die Arbeitgeber sagen, die ostdeutschen Beschäftigten seien nicht so produktiv. Stimmen Sie mit mir überein, dass das nicht eine Frage der Produktivität der ostdeutschen Beschäftigten ist, und werden Sie die Arbeitgeber aufrufen, ihre Blockadehaltung zu beenden?

(Christian Lindner [FDP]: Produktivität ist doch nicht nur orientiert an dem Arbeitnehmer!)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Es ist gute Sitte in Deutschland, sich nicht in die Tarifgespräche einzumischen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie wissen sehr wohl, dass Anfang der 90er-Jahre die Forderung nach einer sehr schnellen Angleichung der Arbeitszeiten der Tarifautonomie in den neuen Ländern einen großen Schaden zugefügt hat. Das ist jedenfalls meine Meinung. Wir haben seitdem nicht tarifgebundene Arbeitgeber in den Arbeitgeberorganisationen. Das alles hat die Dinge nicht vereinfacht.

Ich wünsche mir natürlich gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Deshalb muss dieser Prozess vorangebracht werden – das sage ich jetzt in so allgemeiner Form –; aber die konkreten Gespräche müssen die Tarifpartner miteinander führen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Danke, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, viele bewundern ja zu Recht Ihre Kenntnis in vielen Detailfragen, so zum Beispiel beim Thema Pestizide, wo Sie ganz klare Positionen zu einzelnen Wirkstoffen vertreten. So haben Sie vor exakt zwei Jahren, kurz vor der letzten Bundestagswahl, beim Deutschen Bauerntag den dort versammelten Bauern versprochen, dass Sie für die weitere Glyphosat-Nutzung einstehen. Sie haben sich also klar für die weitere Glyphosat-Nutzung ausgesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vor ein paar Wochen, Anfang Mai, haben Sie im Berliner Naturkundemuseum Schülerinnen und Schülern den Glyphosat-Ausstieg versprochen, also den Ausstieg. Deshalb frage ich Sie: War das ein relativ schneller persönlicher Erkenntnisprozess bei Ihnen? Sind Sie in zwei Jahren von der Glyphosat-Befürworterin zur Glyphosat-Gegnerin geworden? Oder haben einfach die Bauern die Antwort bekommen, die sie hören wollten, und die Schülerinnen und Schüler die Antwort, die sie hören wollten?

(Beifall des Abg. Hansjörg Müller [AfD])

Beides zusammen geht jedenfalls schlecht. Deshalb frage ich mich: Welche der beiden Aussagen stimmt nun? Wollen Sie Glyphosat weiter nutzen oder aussteigen?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Schauen Sie, man kann nicht zum gleichen Zeitpunkt beim einen dies und beim anderen jenes sagen; aber hier ist der Zeitstrahl zu berücksichtigen. Sie kramen ja schon in Ihren Unterlagen, um vorzulesen, was ich vor zwei Jahren gesagt habe. Das ist alles gut und richtig. Wir haben in der Frage der Glyphosat-Nutzung, glaube ich, einen Entwicklungsprozess durchschritten. Gucken Sie in unseren Koalitionsvertrag. Es ist ganz klar, dass Glyphosat in einigen Bereichen inzwischen gar nicht mehr genutzt wird, in Parks und an ähnlichen Orten. Ansonsten haben wir eine Strategie zum Ausstieg. Das sagen, glaube ich, auch die europäischen Richtlinien. Ich habe die Zeiträume jetzt nicht ganz genau im Blick; aber das entwickelt sich, und wir werden dahin kommen, dass es eines Tages keinen Glyphosat-Einsatz mehr gibt. Man kann die Bauern aber nicht von einem Tag auf den anderen vor eine komplette Veränderung stellen, sondern man muss einen solchen Prozess vernünftig organisieren, wie wir das zum Beispiel auch beim Ausstieg aus der Kohle machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Gerne.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Bitte.

Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Da bin ich ganz bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin. Von einem Tag auf den anderen geht das nicht. Die Glyphosat-Debatte ist aber nicht erst vor zwei Jahren entstanden, sondern sie läuft schon einige Jahre.

Seit einigen Monaten können sich die Agrarministerin und die Umweltministerin in Ihrem Kabinett nicht einigen, wie das gehen soll, wie der Weg beschritten werden soll, den Sie gerade kurz skizziert haben. Wir erleben keinen Schritt in Richtung Ausstieg. Stattdessen lassen die Bundesbehörden weitere Glyphosat-Produkte zu. Da Sie sagen, dass Ihnen der Glyphosat-Ausstieg – Schritt für Schritt, also nicht über den Zaun gebrochen – am Herzen liegt, frage ich: Wann machen Sie diese Sache zur Chefsache? Wann machen Sie von Ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch, damit sich hier etwas tut, damit sich Agrarministerium und Umweltministerium endlich auf den Weg in die von Ihnen skizzierte Richtung machen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich bin sehr froh, dass die beiden Ministerinnen sich jetzt über die Düngefragen geeinigt haben. Das war durchaus auf meinem Radar. „Chefsache“ bedeutet ja nicht, dass ich einfach der einen Ministerin recht gebe und der anderen nicht, sondern dass wir in einer Koalition gemeinsame Lösungen finden. Es trifft sich gut: Just heute Morgen habe ich wieder nach der Strategie für die Zulassung von Schädlingsbekämpfungsmitteln, unter anderem Glyphosat, gefragt. Ich bin sehr dicht dran. Ich glaube, dass wir Ihnen spätestens im September eine Lösung präsentieren können.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Tobias Peterka, AfD.

Tobias Matthias Peterka (AfD):

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, es mehren sich ja bekanntlich öffentliche Feststellungen, zuletzt von Ihrem Fast-Vorsitzenden Friedrich Merz, dass sich weite Teile von Polizei und Bundeswehr von Ihrer Politik abwenden. Ja, sie wenden sich richtigerweise der AfD zu.

(Zurufe von der SPD: Ah!)

Wie erklären Sie sich dies, außer durch die Tatsache, dass Ihre Regierung sämtliches konservative Profil verloren hat?

(Beifall des Abg. Jürgen Braun [AfD])

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich will ausdrücklich an dieser Stelle ein klares Wort positiver Art

(Zuruf von der AfD: Wir auch!)

zu der Arbeit unserer Bundespolizisten, unserer Polizisten in Deutschland insgesamt und auch unserer Bundeswehrangehörigen sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Sie erfüllen wirklich ganz klar ihren Auftrag, und wenn wird rechtsextreme Tendenzen feststellen, dann wir dem intensiv und entschieden nachgegangen. Insoweit teile ich die Aussage von Friedrich Merz an dieser Stelle nicht. Wenn wir solche Tendenzen haben, müssen wir klar und hart vorgehen. Aber die überwiegende Mehrzahl unserer Polizistinnen und Polizisten und Soldaten tut diesem Staat einen guten Dienst.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage, Herr Kollege Peterka?

Tobias Matthias Peterka (AfD):

Stimmen Sie mir dann wenigstens zu, dass diese Personenkreise, die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit tragen, ein Warnindikator für die verfehlte Politik in diesem Bereich sind?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein, da stimme ich Ihnen natürlich nicht zu. Ich will Ihnen allerdings noch mal in Erinnerung rufen, dass diese Bundesregierung in unglaublich starker Form deutlich macht – wir haben heute den Bundeshaushalt 2020 im Kabinett verabschiedet –, dass unsere Sicherheitsinstitutionen gute Ausrüstung brauchen, gerade in Zeiten technologischen Wandels, sowohl in der Bundeswehr als auch bei der Bundespolizei. Dem trägt der Bundeshaushalt voll Rechnung. Das wird auch die Motivation derjenigen, die ihren Kopf hinhalten – im wahrsten Sinne des Wortes –, steigern. Gute Ausrüstung gehört dazu. Das ist die Grundvoraussetzung für gute Arbeit in diesem Bereich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Johann Saathoff, SPD, ist der nächste Fragesteller.

Johann Saathoff (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Sie sprechen viel von Verantwortung; ich finde, zu Recht. Wir haben heute viel von Verantwortung für Europa gehört. Ich finde, es geht auch um Verantwortung für die Erde. Sie haben vom Kampf gegen den Klimawandel, gegen Erdüberhitzung gesprochen. Dazu ist das Klimaschutzgesetz natürlich wichtig – das ist überhaupt keine Frage –, aber um das Ziel der Klimaneutralität 2050 zu erreichen, ist es aus meiner Sicht auch wichtig, dass wir uns anschauen, wie viel Strom aus erneuerbaren Energien wir in der nächsten Zeit produzieren. Wir haben uns im Koalitionsvertrag drauf verständigt, mehr Strom aus erneuerbaren Energien produzieren zu wollen, weil zum Beispiel im Verkehrssektor künftig mehr Elektrizität gebraucht wird.

Nun ist es aber so, dass die Verhandlungen schon seit Monaten stocken, nicht nur die Verhandlungen über das Klimaschutzgesetz, sondern auch zur Frage des Ausbaupfades für den Bereich der erneuerbaren Energien. Ich gehe davon aus, dass Sie in Ihrer Funktion als Klimakanzlerin – gegen diesen Begriff haben Sie sich ja nie gewehrt – weiterhin zum 65-Prozent-Ziel stehen. Ich frage Sie: Was können Sie konkret tun, damit dieser Verhandlungsblock endlich aufgebrochen wird und wir wirklich einen verlässlichen Ausbaupfad – auch im Sinne der Menschen, die Fridays for Future demonstrieren – auf die Strecke bekommen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, das 65-Prozent-Ziel ist ja das Ziel für 2030, was den Anteil der erneuerbaren Energien an der Energieversorgung anbelangt. Durch die Ergebnisse der Kohlekommission sind wir diesem Ziel schon mal ein ganzes Stück näher gekommen. Wir müssen diesen Ausbaupfad natürlich vorantreiben. Aber ein Hemmschuh im Augenblick ist, dass die Akzeptanz von Windenergieanlagen und deren Ausbau sehr stark nachgelassen hat, insbesondere wenn es um Onshore-Windenergieanlagen geht. Deshalb hat die Koalition eine Arbeitsgruppe gegründet, bei der es auch um mehr Akzeptanz für den Ausbau erneuerbarer Energien geht. Ich wünsche mir, dass die Koalitionsarbeitsgruppe möglichst schnell zu einem Ergebnis kommt. Dazu gehören für mich zum Beispiel auch Abstandsregelungen, mit denen wir wirklich die Belange der Menschen, die das nicht wollen – ich komme aus einer Region, wo Windenergieanlagen gebaut werden –, berücksichtigen.

Wir müssen auch schauen, dass wir Stadt und Land versöhnen. In den Städten ist man sehr froh, Strom aus erneuerbaren Energien nutzen zu können – auf dem Lande muss man ihn produzieren. Wenn wir uns um diese Akzeptanz nicht kümmern, dann wird der Ausbaupfad in Gefahr geraten – nicht weil ich nicht will, dass wir bis 2030 bei 65 Prozent angekommen sind, sondern weil vor Ort so viele Bürgerinitiativen entstehen, die das einfach nicht mitmachen. Und das müssen wir verhindern. Wir müssen beides zusammenbringen, und daran wird diese Koalition weiter arbeiten – mit Ihrer Mithilfe sicherlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Johann Saathoff (SPD):

Gerne.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Kollege.

Johann Saathoff (SPD):

Frau Bundeskanzlerin, der sogenannte Kohlekompromiss war sozusagen die Grundlage der 65 Prozent bis 2030.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Genau.

Johann Saathoff (SPD):

Das heißt, wir sind durch den Kohlekompromiss noch keinen Schritt weiter gekommen, sondern der Ausbaupfad stand unter der Voraussetzung, dass dieser Kompromiss zustande kommt.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Richtig.

Johann Saathoff (SPD):

Ich komme genau wie Sie aus einer Region, wo Anlagen zur Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien, insbesondere Windenergieanlagen, hergestellt werden. Da sind Tausende von Menschen in Arbeit, die sich aus meiner Sicht zu Recht darauf verlassen können, dass die Bundesregierung Antworten für sie hat, wie das in Zukunft weitergeht. Dafür brauchen wir aus meiner Sicht einen verlässlichen Ausbaupfad – sonst brauchen wir eine Strukturwandelkommission für die Regionen, die Windenergieanlagen produziert haben.

Ich frage mich manchmal – vielleicht können Sie mir das beantworten –: Was sagen Sie eigentlich ausländischen Regierungschefs, wenn die Sie auf die Situation der Onshore-Windenergie in Deutschland und auf den Ausbau der letzten sechs Monate ansprechen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, die sprechen mich meistens darauf an, wie wir es schaffen wollen, gleichzeitig aus Kernenergie und Kohle auszusteigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD] und Uwe Kamann [fraktionslos])

Das ist mehr das Thema, auf das ich angesprochen werde.

Ich komme nicht aus einer Gegend, wo so viele Windenergieanlagen hergestellt werden – allenfalls Plattformen für Offshore-Anlagen –, sondern ich komme aus einer Region, wo Windenergieanlagen aufgestellt werden. Und dort gibt es neue Tendenzen – das wissen Sie ja auch –; deshalb müssen wir doch um die Akzeptanz ringen. Das 65-Prozent-Ziel hängt indirekt mit dem Kohleausstieg zusammen; aber das ist jetzt egal. Wir müssen jedoch gucken, dass wir nicht einen theoretischen Ausbaupfad festlegen, der zum Schluss keine Akzeptanz vor Ort findet. Deshalb wünsche ich mir, dass die Koalitionsarbeitsgruppe jetzt Ergebnisse erzielt, und dann machen wir weiter. Ich bin diesem Ausbaupfad verpflichtet.

Ich sehe, dass wir einen Fadenriss hatten. Aber warum hatten wir einen Fadenriss? Weil sich – das muss ich noch schnell sagen – so viele Bürgergesellschaften für Windenergieanlagen beworben haben, aber die planungsrechtlichen Voraussetzungen überhaupt nicht gegeben waren. Deshalb mussten wir auf andere Art und Weise jetzt einen Zwischenschritt einlegen. Den haben wir auch eingelegt. Weitere Zwischenschritte werden wir aber nur einlegen können, wenn wir auch die Akzeptanz verbessern.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Oliver Luksic, FDP, stellt die nächste Frage.

Oliver Luksic (FDP):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, der Europäische Gerichtshof hat die Infrastrukturabgabe, auch Pkw-Maut genannt, gestoppt. Daraus entstehen jetzt riesige Kosten bei diesem lange umstrittenen Projekt, das ja schon Herr Ramsauer angestoßen hat. Die FDP hat es in der 17. Wahlperiode noch verhindert. Aber Herr Dobrindt und Herr Seehofer haben Druck gemacht, und so hat die Pkw-Maut in der letzten Wahlperiode den Weg ins Bundesgesetzblatt gefunden. Herr Scheuer hat jetzt einen 2-Milliarden-Auftrag vergeben, unterschrieben, ohne das Urteil abzuwarten, wovor die Opposition, aber auch die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich gewarnt haben. Daraus werden jetzt massive Kosten entstehen. Über 50 Millionen Euro wurden schon ausgegeben. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Vertragsstrafen auf uns zukommen. Im Einzelplan des Ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur wird es zu Einnahmeausfällen kommen.

Deswegen meine Frage. Sie haben 2013 zu Recht gesagt: Mit mir wird es diese Maut nicht geben.

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt ja nun auch!)

Hätten Sie an Ihren Bedenken, die Sie damals zu Recht vorgetragen haben, festhalten müssen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein. Wir haben für diese Infrastrukturabgabe eine Lösung gefunden, die das Autofahren in Deutschland nicht verteuert und gleichzeitig eine gerechtere Bepreisung für alle Fahrer, inklusive denen aus anderen Ländern, ermöglicht. Es gab intensive, lange, schwierige Gespräche mit der Europäischen Kommission. Wir sind auf alle Bedenken eingegangen. Wir haben also nicht einfach aus der Lamäng entschieden, sondern unsere Regelung ist von der Europäischen Kommission akzeptiert worden.

Dass der Minister dann, um jetzt nicht ewig Zeit verstreichen zu lassen, die ersten Schritte gegangen ist, ist klar. Er hat den Ausschuss sehr transparent informiert. Heute wird es noch eine Aktuelle Stunde dazu geben. Wir machen uns, wie Sie eben selber gesagt haben, im Augenblick mehr Sorgen über die fehlenden Einnahmen aus dieser Abgabe, die wir schon eingeplant hatten, um bestimmte Straßenprojekte zu realisieren. Das stellt uns in der Tat vor eine große Aufgabe. Ich glaube, wir beide sind einig, dass wir möglichst viel in unsere Infrastruktur investieren wollen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Oliver Luksic (FDP):

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben die Begründung der Bundesregierung ausgeführt. Sie haben selber davor gewarnt, eine europarechtswidrige Regelung zu schaffen. Der CSU ging es ja explizit darum, dass nur Ausländer bezahlen müssen. Genau das ist es ja, was der Europäische Gerichtshof kritisiert hat. Insofern kann ich diesen Punkt nicht ganz nachvollziehen.

Es stellt sich noch eine weitere Frage: Wie geht es jetzt weiter mit diesem Instrument, das auf dem Tisch liegt? Es gibt da ja unterschiedliche Einschätzungen, auch in der Arbeitsgruppe 1 beim Verkehrsministerium. Auch der Verkehrsminister schließt nicht aus, dass man über eine andere Form der Maut nachdenken muss, wie auch immer man sie nennt, Klimamaut oder anders.

Deswegen meine Frage: Möchten Sie heute ausschließen, dass eine andere Form der Maut mit Ihnen eingeführt wird? Oder arbeitet die Bundesregierung weiter und hält es sich offen, eine andere Form der Maut einzuführen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Diese Form, wie wir sie jetzt gewählt hatten, wie sie mit der Europäischen Kommission abgesprochen war, geht nicht mehr; das ist klar. Wir sind jetzt an einer Stelle, wo wir uns die Bepreisung im gesamten Bereich des Ausstoßes von Klimagasen noch mal anschauen. Was die Ergebnisse sein werden, kann ich heute nicht sagen. Deshalb schließe ich nichts ein und nichts aus.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Felix Schreiner, CDU/CSU, ist der nächste Fragesteller.

Felix Schreiner (CDU/CSU):

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wir diskutieren darüber, wie wir die Klimaschutzziele erreichen können. Konkret bedeutet das für den Verkehrssektor, dass wir bei den Treibhausgasemissionen bis 2030 über 40 Prozent einsparen müssen. Mich persönlich würde interessieren: Was sind aus Ihrer Sicht die richtigen Maßnahmen im Verkehrsbereich, um die Klimaschutzziele zu erreichen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Der Verkehrsbereich stellt sich als der komplizierteste dar; denn wir müssen feststellen, dass wir seit 1990 noch keinerlei Einsparungen im Verkehrsbereich hatten. Es gab auch keinen Anstieg. Das heißt, alle Innovationen, die es unbestritten gab, sind im Grund durch ein Mehr an Verkehrsaufkommen wieder aufgefressen worden.

Wir stehen jetzt vor einer Einführung der Elektromobilität in großem Stil bis zum Jahre 2030. Das wird natürlich die Klimaschutzziele befördern. Innerhalb der Europäischen Union gibt es das Ordnungsrecht zu der Einsparung im Flottenverbrauch bis 2030 bzw. schon bis 2020.

Wie wir die Frage der weiteren Reduzierung angehen, kann ich Ihnen nicht sagen, weil wir auch im Zusammenhang mit dem Gutachten, das wir am 12. Juli bekommen, bewerten werden, ob wir zu einer Zertifikatelösung für diesen Bereich kommen werden – so wie ich es eben der Kollegin Weisgerber schon dargestellt habe – oder ob wir individuelle Maßnahmen treffen. Wahrscheinlich wird es ein Mixtum sein. Auf jeden Fall brauchen wir mehr Innovation, auf jeden Fall brauchen wir Anreize. Wir haben in dem strategischen Dialog mit der Automobilindustrie jetzt verabredet, dass wir einen Masterplan für die Ladeinfrastruktur für die Elektromobilität vorlegen. Wir müssen technologieoffen arbeiten. Wir brauchen also eine Vielzahl von Herangehensweisen. Das kann man nicht auf einen Weg reduzieren.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Stefan Liebich, Die Linke.

Stefan Liebich (DIE LINKE):

Danke, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, die Europäische Union hat auf ihrem letzten Treffen erneut die Wirtschaftssanktionen gegenüber der Russischen Föderation verlängert. Die Russische Föderation bzw. deren Regierung hat jetzt die Gegensanktionen beschlossen.

Es gibt Stimmen – aus Ihrer Partei, aber auch aus den Reihen Ihres Koalitionspartners, der SPD; alle Ministerpräsidenten der östlichen Bundesländer –, die warnen, diesen Weg weiterzugehen. Mich würde interessieren: Verstehen Sie die Sorgen der Unternehmerinnen und Unternehmer und vor allen Dingen der Menschen, die in den Unternehmen arbeiten, im Osten Deutschlands? Und: Wie reagieren Sie darauf?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ja. Natürlich wäre es jedem lieb, wenn es keine Sanktionen geben müsste, auch mir. Aber man muss ja fragen: Warum sind diese Sanktionen verhängt worden? Sie sind verhängt worden im Wesentlichen wegen der Annexion von Donezk und Luhansk durch die Separatisten mit russischer Hilfe, wodurch die territoriale Integrität der Ukraine verletzt wurde. Das ist ein ziemlich einmaliger Vorgang in der Nachkriegsgeschichte, zumal die Ukraine von verschiedenen Ländern umfassende Garantien bekommen hat, als sie ihre Nuklearwaffen abgegeben hat.

Wir vertreten die Meinung, dass die Verletzung der territorialen Integrität nicht sein darf und dass die Ukraine wieder Zugang zu ihrem gesamten Gebiet bekommen muss. Deshalb erscheinen uns Sanktionen an dieser Stelle richtig und wichtig, solange wir das Minsker Abkommen nicht umsetzen.

Wir haben hierüber bereits mit dem neuen ukrainischen Präsidenten gesprochen. Die Situation ist einfach so, dass es dort keinen Waffenstillstand und nicht genug Fortschritt gibt, um die Sanktionen aufheben zu können, und deshalb finde ich es richtig, dass sie verlängert wurden.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Stefan Liebich (DIE LINKE):

Ja, gerne. – Wenn wir jetzt in eine andere Region schauen, nämlich in die Türkei und nach Syrien, dann stellen wir fest, dass die türkische Armee das kurdische Afrin auf syrischem Territorium besetzt hat und immer noch besetzt hält. Alle Fraktionen und der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages sind der Überzeugung, dass es sich hierbei um einen Bruch des Völkerrechts handelt.

Mich interessiert: Planen Sie auch dafür Sanktionen, und, wenn nein, warum gibt es hier unterschiedliche Standards?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir als Bundesregierung haben darauf in folgender Weise reagiert: Obwohl die Türkei ein NATO-Partner ist, haben wir unsere Rüstungsexporte in die Türkei eingeschränkt.

Auf der einen Seite gibt es natürlich diese Besorgnisse, die ja auch im Parlament artikuliert wurden, auf der anderen Seite ist die Türkei aber auch in einer sehr schwierigen Lage – denken wir jetzt mal an Idlib und Ähnliches – bezüglich der Flüchtlinge. Die Bundesregierung hat an dieser Stelle aber eben auch durch die Einschränkung der Rüstungsexporte reagiert.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Bundeskanzlerin, multilaterales Denken und Freihandel sind auch wichtig für den internationalen Klimaschutz. Im April haben 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie 300 indigene Gruppen die EU in einem offenen Brief aufgefordert, mit ihrem wirtschaftlichen Gewicht Umwelt- und Menschenrechtsstandards im Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten zentral zu verankern. Letzte Woche haben 340 NGOs einen Stopp der Verhandlungen gefordert, weil sich die Menschenrechtslage und die Umweltsituation in Brasilien unter dem rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro immer weiter verschlechtern. Auch einige EU-Staaten haben sich gegen einen schnellen Abschluss des Abkommens ausgesprochen.

Nun drängen ausgerechnet Sie auf einen schnellen Abschluss dieses Abkommens. Wie erklären Sie das den Menschen in Deutschland und in Europa, die sich auch im Freihandel einen wirksamen Klimaschutz wünschen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Die Motivationen dafür, zu sagen, dass das Mercosur-Abkommen nicht schnell abgeschlossen werden sollte, sind sehr unterschiedlich. Manchmal geht es dabei auch um europäische Interessen. Wir haben uns trotzdem für einen schnellen Abschluss ausgesprochen, weil es nicht nur um Brasilien, sondern auch um andere Länder geht; Mercosur ist ja eine Ländergruppe.

Sie dürfen davon ausgehen, dass ich, genauso wie Sie, das Handeln des neuen brasilianischen Präsidenten mit größter Sorge sehe und dass ich die Gelegenheit wahrnehmen werde, sofern sie sich auf dem G-20-Gipfel jetzt ergeben wird, hierzu ein klares Wort zu sagen, weil auch ich das, was in Brasilien zurzeit geschieht, dramatisch finde.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage? – Frau Hajduk.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Noch einmal, Frau Bundeskanzlerin – auch vor dem Hintergrund Ihrer breiten Erfahrungen –: Sie haben gegenüber der deutschen Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass Schluss sein müsse mit „Pillepalle“ beim Klimaschutz, und gerade Ihre Fraktion betont immer wieder, Deutschland könne zwar Vorreiter sein, aber wir können das Klima nicht alleine retten.

Hier möchte ich Sie nicht nur als Bundeskanzlerin, sondern auch als Naturwissenschaftlerin fragen: Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Klimakrise ein, wenn Hunderte Hektar Regenwald im Amazonasgebiet für mehr Rinderfarmen bzw. für den Export von Rindfleisch nach Europa gerodet werden?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, wir sind uns in der Sache nicht uneinig, aber ich denke, dass der Nichtabschluss des Mercosur-Abkommens keinerlei Beitrag dazu leisten würde, dass in Brasilien 1 Hektar Regenwald weniger gerodet wird. Im Gegenteil! Deshalb glaube ich, dass der Nichtabschluss des Mercosur-Abkommens nicht die Antwort auf das sein darf, was jetzt in Brasilien geschieht.

Ich werde mich mit der Kraft, die ich habe, dafür einsetzen – ohne meine Möglichkeiten zu überschätzen –,

(Lachen des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD])

dass das, was in Brasilien geschieht, möglichst nicht weiter geschieht. Ich glaube aber, dass der Nichtabschluss des Freihandelsabkommens nicht die Antwort auf diese Frage sein darf.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Armin-Paulus Hampel, AfD, stellt die nächste Frage.

Armin-Paulus Hampel (AfD):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzler, es war der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder – unterstützt und maßgeblich getrieben von den Grünen –, der damals den ersten Kriegseinsatz der deutschen Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg befohlen hat, und zwar im von der AfD-Fraktion nach wie vor als völkerrechtswidrig angesehenen Jugoslawienkrieg, der mit der Abspaltung des Kosovo endete. Inzwischen haben wir über 130 000 Soldaten dort unten im Einsatz gehabt, wir beklagen 27 Tote und haben 3,4 Milliarden Euro investiert.

Heute haben wir dort eine ungeklärte Situation; es gibt Streit. Herr Thaci und Herr Vucic waren unlängst bei Ihnen in Berlin. Auch dieses Gespräch ist ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Jetzt gibt es eine Äußerung des kosovarischen Präsidenten Thaci, der sagte – ich zitiere –, dass die EU kein geeigneter Verhandlungspartner sei, um eine Lösung des Konflikts herbeizuführen; dies sei nur durch die Vereinigten Staaten von Amerika möglich.

Frau Bundeskanzler, nach 130 000 eingesetzten Soldaten, Kosten in Höhe von 3,4 Milliarden Euro sowie 27 Toten, die wir auf dem Balkan zu beklagen haben, frage ich Sie: Was würden Sie Herrn Thaci antworten?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Dass ich das anders sehe; das habe ich ihm auch schon geantwortet.

Ich glaube, wir kommen schneller zu Lösungen, wenn wir in der Region gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und nicht gegeneinander arbeiten; das ist allerdings richtig. Ich denke aber, dass die Europäische Union eine ureigene Verpflichtung hat, sich auf dem Balkan einzusetzen und den Ländern eine europäische Perspektive zu geben, weil das in unserem strategischen Interesse liegt. Deshalb glaube ich, dass wir einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Probleme dort leisten können und müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass ich mit einem Präsidenten nicht übereinstimme.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Herr Kollege Hampel, Sie haben eine Zusatzfrage.

Armin-Paulus Hampel (AfD):

Das wird Herr Thaci nach seinen Äußerungen wahrscheinlich anders sehen, und es stellt sich die Frage, welche Einflussmöglichkeiten Sie in Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Ländern noch haben, Frau Merkel, wenn er Ihre Vermittlung gar nicht möchte.

Schauen wir aber weiter auf den Kosovo. Ich hatte unlängst die Möglichkeit, mit dem serbischen Außenminister über dieses Thema zu sprechen. Er hat bitter beklagt, dass die Serben eine Vielzahl der sogenannten Normalisierungsvereinbarungen einhalten und alles tun, um da zu einem erfolgsorientierten Prozess zu kommen, während die Kosovaren – das hat er mir durch Unterlagen belegen können; das sind nicht nur serbische Erkenntnisse, sondern auch Erkenntnisse aus Deutschland, Europa und den USA – extrem mauern und der serbischen Minderheit im Kosovo nicht die entsprechenden Rechte einräumen. Es gibt dort Drogenhandel, Menschenhandel und kriminelle Strukturen; andere sagen, selbst die Regierung sei tief darin verwickelt.

Wie wollen Sie in dieser Situation, in der sich ein Staat zu einem Failing State, zu einem kriminellen Staat, entwickelt hat, wie das im Kosovo der Fall ist, eine politische Konsequenz ziehen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Dass wir strategische Geduld beim Umgang mit diesen Staaten brauchen, zeigt sich ja allenthalben. Das ist nicht nur auf das Kosovo zu beschränken.

Herr Thaci ist der Einladung von Emmanuel Macron und mir gefolgt und war unser Gast. Wir haben uns dort auch sehr interessant und gut unterhalten. Wie Sie wissen, gibt es im Kosovo noch eine zweite politische Kraft, nämlich den Ministerpräsidenten Haradinaj. Um es mal vorsichtig zu sagen: Beide stimmen nicht immer überein. Deshalb müssen wir mit beiden Kräften im Kosovo zusammenarbeiten, um den Ausgleichsprozess mit Serbien voranzubringen.

Ich stimme zu, dass Serbien eine Vielzahl von Dingen eingehalten hat, aber das heißt ja nur, dass wir weiter mit dem Kosovo darüber reden müssen, wie wir diesen Prozess wieder in Gang bekommen.

Nichtstun ist aus meiner Sicht jedenfalls keine Alternative, wenn es darum geht, den Prozess voranzubringen; wir müssen etwas tun. Wir nutzen unsere Möglichkeiten. Ich werde sie das nächste Mal Anfang Juli nutzen, wenn wir uns in Polen mit den Staaten des westlichen Balkans treffen.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. – Als letzte Fragestellerin erhält die Kollegin Eva Högl, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Eva Högl (SPD):

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zu einem nicht ganz alltäglichen Vorgang in der Bundesregierung, nämlich zu dem Wechsel des früheren Beauftragten für die Nachrichtendienste des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, zum Berater des früheren österreichischen Innenministers Kickl.

Herr Fritsche war ja ein hoher Spitzenbeamter in Deutschland, im Verfassungsschutz und zum Schluss im Kanzleramt.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Für den BND.

Dr. Eva Högl (SPD):

Genau. – Deswegen frage ich Sie, Frau Bundeskanzlerin: Wie beurteilen Sie diesen Wechsel als Berater zum damaligen FPÖ-Innenminister auch nach den heutigen Entwicklungen? Wieso waren Sie der Auffassung – das Bundeskanzleramt musste das ja prüfen –, dass keine dienstlichen Interessen betroffen sind?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Uns hat geleitet, dass es ein sehr hohes Interesse daran gibt, zwischen Österreich und Deutschland eine gute Kooperation zu haben, auch zwischen den Innenministerien. Da ich die fachliche Qualifikation von Herrn Fritsche kenne, konnte seine Arbeit in Österreich gerade unter der damaligen Regierung nur Positives bewirken.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank. – Frau Kollegin, Sie haben eine Nachfrage. Diese lasse ich jetzt auch noch zu. Bitte schön.

Dr. Eva Högl (SPD):

Sehr gerne, Herr Präsident. Schön, dass Sie sie zulassen. – Frau Bundeskanzlerin, ich würde gerne fragen, da auch die deutschen Sicherheitsbehörden die Zusammenarbeit mit Österreich nach den letzten Entwicklungen durchaus mit einem Fragezeichen versehen, ob Sie in künftigen Fällen, wenn ein hoher Spitzenbeamter, insbesondere aus sicherheitspolitisch so relevanten Bereichen, in Regierungen als Berater wechselt oder anderweitig zur Verfügung steht, um seine bisherigen Kenntnisse anzuwenden und einzubringen, das nicht kritisch bewerten müssen und ob Sie nicht vielleicht bei künftigen Fällen anders entscheiden würden, wenn etwa zu rechtspopulistischen oder rechtsextremen Regierungen oder Parteien gewechselt wird, die es auch in Europa durchaus gibt.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, in diesem Falle würde ich meine Entscheidung nicht anders treffen. Aber ich gebe natürlich zu, oder ich sage natürlich – da brauche ich gar nichts zuzugeben –, dass wir uns in jedem Einzelfall genau anschauen müssen: Was sind die deutschen Interessen? Können die deutschen Interessen gewahrt werden? Um welche Person handelt es sich? Wie ist der Charakter der Zusammenarbeit? Deshalb gibt es keine Aussage „In jedem Fall würde man das genau so wiedermachen“; in diesem Falle allerdings ja.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Bereitschaft, hier Rede und Antwort zu stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Damit ist die Befragung abgeschlossen.