Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Klassik Stiftung Weimar

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Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Klassik Stiftung Weimar

In ihrer Rede bei einer Veranstaltung der Klassik Stiftung Weimar zum Thema „Die Macht der Worte: Wieviel Freiheit braucht die Demokratie und wieviel Freiheit verträgt die Demokratie?" sagte Grütters: "Eine Gesellschaft, die das zivilisierte Streiten verlernt, verliert ihre Fähigkeit, Konflikte auszutragen und Kompromisse zu erzielen, und damit ihre demokratische Kernkompetenz".

Mittwoch, 5. Februar 2020 in Weimar

„Bei uns in Weimar gibt es dergleichen wie weite Wege nicht; unsere Größe beruht im Geistigen“, heißt es bei Thomas Mann, in seinem Goethe-Roman „Lotte in Weimar“. Doch Weimars Geistesgrößen, deutsche Dichter und Denker, gibt es heutzutage (dem Devotionalienhandel sei Dank) auch im handlichen Format: zum Beispiel als Salz- und Pfefferstreuer, das Set „Schiller und Goethe - zerstreut“ ab 9,95 Euro, mit Gebrauchsanweisung:

„Salzen Sie mit Schiller und pfeffern Sie mit Goethe!“ Auch eine Prise Humor kann gerade bei heiklen Themen nicht schaden. Deshalb erlaube ich mir den Verweis, dass diese Vermarktung Schillers und Goethes nicht jedem schmecken wird. Literaturliebhaber stellen sich ohnehin eher die gesammelten Werke der Dichterfürsten ins Regal als deren Miniaturen auf den Tisch. Frauenbewegte pochen sicherlich auf die Quote und würzen deshalb vermutlich lieber mit Droste-Hülshoff als Salzstreuerin (oder Salzstreuende?). Verfechter kultureller Vielfalt wiederum finden das kulinarisch wie künstlerisch sicherlich zu deutschtümelnd; statt mit Goethe zu pfeffern, kreuzkümmeln sie dann vielleicht mit dem persischen Poeten Hafis, der Goethe zu seiner Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ inspirierte.

Ja, es ist schwierig geworden, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen – und so gäbe es gewiss einiges einzuwenden gegen die Vermarktung Goethes und Schillers als Salz- und Pfefferstreuer. Aber im Ernst: Bei Tischgesprächen, aber auch im öffentlichen Diskurs würde es zweifellos eine zivilisierende Wirkung entfalten, wenn mehr mit Dichtern (und Dichterinnen!) gesalzen und gepfeffert würde, wenn also geistreich abgewogen statt mit dumpfen Parolen vergiftet würde, worüber geredet, diskutiert und gestritten wird. Deutschland rühmt sich seiner Dichter und Denker; doch seine Debattenkultur ist gegenwärtig kein Ruhmesblatt. „Sprachgewalt“ tritt häufiger in Form verbaler Attacken, in Form sprachlicher Gewalt in Erscheinungen als im eigentlichen Wortsinn: als literarische oder rhetorische Meisterschaft. Gleichzeitig fehlt in beinahe keiner öffentlichen Kontroverse das moralisierende Machtwort, das andere Sichtweisen als illegitim stigmatisiert:  als diskriminierend, rassistisch, islamophob, frauen- oder fremdenfeindlich oder in anderer Weise reaktionär: sei es des Themas oder auch der Wortwahl wegen, oder weil Humor und Ironie im Spiel sind, wo manche keinen Spaß verstehen (… weshalb ich selbst übrigens lange überlegt habe, ob ich mir ironisierende Anspielungen wie die „Salzstreuerin“ oder das „Kreuzkümmeln“ in meiner Rede nicht besser verkneifen sollte … . Ich habe es nicht getan, weil Humor und Ironie vor Fanatismus schützen. Und wer mich kennt, weiß, dass Gleichberechtigung und kulturelle Vielfalt mir ebenso am Herzen liegen wie eine lebendige Debattenkultur.)

In kontroversen Debatten geben sprachliche Verrohung einerseits und moralisierende Stigmatisierung durch eine falsch verstandene Political Correctness andererseits den Ton an. Nicht Verständigung ist dabei das Ziel, sondern das Verstummen Andersdenkender. Das ist brandgefährlich. Denn Demokratie ist ebenso auf Verständigung angewiesen wie sie der Freiheit des Wortes verpflichtet ist. Eine Gesellschaft, die das zivilisierte Streiten verlernt, verliert ihre Fähigkeit, Konflikte auszutragen und Kompromisse zu erzielen, und damit ihre demokratische Kernkompetenz. Deshalb soll es heute um die ambivalente Macht der Worte gehen: um Magie und Demagogie; um Sprachgewalt und sprachliche Gewalt; um die Frage, wieviel Freiheit des Wortes Demokratie braucht und wieviel Freiheit des Wortes Demokratie verträgt; um die Frage, welche Grenzen und welche Freiräume es braucht, damit jene Fähigkeit zur Verständigung gewahrt bleibt, die der Demokratie das Überleben sichert. 

Wie dicht beieinander Magie und Demagogie liegen und welch fruchtbare wie auch verheerende Wirkung die Macht der Worte entfalten kann, lässt sich wohl nirgendwo sonst in Deutschland auf so engem Raum nachvollziehen wie in Weimar. Weimar ist die Stadt, in der mit Martin Luther einer der sprachmächtigsten Wortschöpfer gepredigt hat, in der Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller das Deutsche als Literatursprache geprägt und ihre identitätsstiftende Kraft begründet haben. Weimar ist aber auch die Stadt, in der die Nationalsozialisten mit dem monströsen Gauforum Raum für ihre völkische Propaganda schufen.

Weimar ist die Stadt, die als Wirkungsstätte sprachmächtiger Geistesgrößen und als Zentrum des intellektuellen Austauschs dem Geist der Aufklärung und der Humanität zur Blüte verhalf, die Stadt, die als Gründungsort des Bauhauses der visionären Kraft der Kunst und ihrem Potential „zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ (Friedrich Schiller) Auftrieb gab. Weimar ist aber auch eine Stadt, die zu einer Brutstätte der Barbarei und zu einem Vollzugsort des Völkermords wurde: eine Stadt, deren geistiges Klima schon früh deutsch-völkisch geprägt war.

Kurz: Weimar ist die Stadt, die mit dem Vermächtnis insbesondere der „Weimarer Klassik“ Denkmal geworden ist für menschliche Größe - und mit dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald Mahnmal barbarischer Grausamkeit. Jean Améry, einer von weit über 100 Schriftstellern, die in Buchenwald und seinen Außenlagern inhaftiert waren, hat ein Wort geprägt für das, was seine Peiniger ihm unwiederbringlich genommen haben: Er nannte es das „Weltvertrauen“, jenes Vertrauen, ich zitiere, dass der andere (…) meinen physischen und damit auch meinen metaphysischen Bestand respektiert“, jenes grundlegende Vertrauen also, vom anderen als Mitmensch gesehen zu werden. Weimar steht für dieses Weltvertrauen ebenso wie für seine Zerstörung:  weil die humanisierenden Traditionen Deutschlands hier ebenso allgegenwärtig sind wie der Bruch der Deutschen mit eben diesen Traditionen.

Eine Brille, durch die wir im Anderen den Mitmenschen sehen, ist die Sprache; zumindest sollte sie es sein. Deshalb schockiert, empört und beschämt es mich wie viele andere auch, wenn Hass, Hohn und Häme, wenn Verunglimpfungen und Beleidigungen, wenn Schmähungen und Herabwürdigungen, wenn Grobheiten bis hin zu Gewalt- und Morddrohungen jeden Versuch der Verständigung zunichte machen. Längst treffen solche Auswüchse sprachlicher Verrohung nicht mehr allein Prominente, die im öffentlichen Rampenlicht stehen wie die Bundestagsabgeordnete Renate Künast, die mit ihrer Klage gegen Hassposts auf Facebook in zweiter Instanz kürzlich zumindest einen kleinen Teilerfolg erzielt hat, oder den politisch engagierten Pianisten Igor Levit, der eine Morddrohung zum Anlass nahm, umso leidenschaftlicher zum Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aufzurufen.

Auch Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, auch Menschen, die sich ehrenamtlich für Demokratie und ein friedliches Zusammenleben in Vielfalt einsetzen, werden zur Zielscheibe vor allem rechtsextremistischer Hetze, werden massiv bedrängt und bedroht. Wer könnte es Betroffenen verdenken, dass sie sich aus Angst um Leib und Leben, aus Sorge um das Wohl ihrer Familien aus dem öffentlichen Leben zurückziehen? Darunter leidet die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren; schon das zehrt an den Kräften, die unsere Demokratie stützen. Schlimm genug!

Unerträglich aber ist, dass mittlerweile aus Worten Taten werden: Taten wie der Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle, Taten wie die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke – um nur zwei Beispiele aus dem vergangenen Jahr zu nennen. Worte fanatischen Hasses waren es, die den Tätern Munition geliefert haben – in einem Land, das solchem Hass nie wieder Raum zu geben versprach. Nie wieder sollten Jüdinnen und Juden in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen. Nie wieder sollte, wer politisch Haltung zeigt, um sein Leben fürchten müssen! Nie wieder sollte Hetze gegen Minderheiten auf das Schweigen der Mehrheit treffen!

Die Wirklichkeit sieht anders aus: nicht zuletzt, weil neue politische Kräfte in unserem Land nationalsozialistische Verbrechen relativieren, nationalsozialistisches Vokabular reanimieren und systematisch eine Radikalisierung des öffentlichen Sprechens betreiben, die darauf angelegt ist, Ängste zu schüren, Ressentiments zu bedienen, den kritischen Geist zu narkotisieren und Empathie auszuschalten. Es ist eine Sprache, wie wir sie in Deutschland schon einmal hatten: die Sprache des Dritten Reiches, der Victor Klemperer, Zeitzeuge und Philologe jüdischer Herkunft, seine 1947 veröffentlichte Analyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ gewidmet hat.

Hier wird fündig, wer eine Antwort darauf sucht, wie die große Mehrheit der Deutschen moralische Errungenschaften und humanisierende Traditionen ihres Landes preisgeben und zu Mitwissern, Mitläufern und Mittätern, zu Handlangern und Vollstreckern einer menschenverachtenden Ideologie werden konnte. Nicht zuletzt, weil seine Sprachanalyse so beklemmend aktuell anmutet, verdient es Klemperer, im Zusammenhang mit der toxischen Macht demagogischer Worte ausführlich zu Wort zu kommen.

Eindringlich beschreibt er die Macht jener Sprache, die die Nationalsozialisten als stärkstes Propagandamittel zu nutzen wussten. „[D]er Nazissmus“, schreibt er,  „glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden. […] Sprache […] denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“ Die Sprache des Dritten Reiches sei, ich zitiere weiter, „ganz darauf ausgerichtet, den Einzelnen […] zum gedankenlosen und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen.“ Klemperer illustriert die Anfänge dieser „Sprache des Massenfanatismus“ anhand zahlreicher Beispiele, so zum Beispiel anhand der inflationären Zunahme des Wörtchens „Volk“ im öffentlichen Sprachgebrauch: „,Volk‘, so notiert er im April 1933 in sein Tagebuch, „,Volk‘ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt … .“

Es ist kein Zufall, dass uns das heute so bekannt vorkommt. Jene Partei, die sich schamlos der Sprache des Dritten Reiches bedient, sitzt mittlerweile in allen Landesparlamenten und im Deutschen Bundestag und führt hier allein durch ihre vor Jahren noch undenkbar scheinende Präsenz vor, wie trügerisch die Hoffnung war, die Keime menschenverachtender, totalitärer Ideologie fänden in Deutschland nie wieder einen Nährboden. Mit Begriffen wie „Lügenpresse“ und „Altparteien“ – einst von den Nationalsozialisten verwendet, um politische Gegner zu diffamieren und Einschränkungen demokratischer Grundrechte zu rechtfertigen - wird Stimmung gegen die Demokratie gemacht.

Mit Worten wie „versifft“ oder „entsorgen“, die an Ekel und Krankheit, an Schmutz und Abfall denken lassen, werden Menschen oder Menschengruppen im wahrsten Sinne des Wortes in den Dreck gezogen. So zielen Rechtspopulisten auch rhetorisch auf die von Björn Höcke geforderte „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“: in der Wiederbelebung des völkischen Denkens, in der Wiederbelebung einer Sprache, die in schrittweiser Radikalisierung schließlich menschenverachtende Formulierungen wie „Endlösung der Judenfrage“ hervorgebracht hat.

Jedem muss klar sein: Wenn Rechtspopulisten vom „Volk“ sprechen, ist nicht das Staatsvolk, sind nicht Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit gemeint, unabhängig von der Herkunft ihrer Vorfahren, von ihrer eigenen Biographie, Hautfarbe und Religion. Wenn Rechtspopulisten vom „Volk“ sprechen, sind viele deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ausgeschlossen. Biologische Abstammung entscheidet, wer zum „Volk“ der Rechtspopulisten gehört. Im Namen dieser biologisch begründeten „Volksgemeinschaft“ wird gegen „Volksverräter“ und gegen eine von diesen angeblich betriebene „Umvolkung“ gehetzt – um weitere, dem Nazi-Jargon entliehene, rechtspopulistische Kampfbegriffe zu zitieren.

Im Kern dient die Sprache der Rechtspopulisten der Abgrenzung eines „Wir“ von „Denen“ und damit der Ausgrenzung Andersdenkender, Andersglaubender, Anderslebender. Gefährlich für die Demokratie sind ihre Worte, weil sie wirken „wie winzige Arsendosen“, um noch einmal Victor Klemperer zu zitieren: „sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Diese Giftwirkung zeigt sich heute nicht nur in den Kommentarspalten im Internet. Sie zeigt sich überall dort, wo die Fähigkeit verloren geht, den anderen – unabhängig von seiner Herkunft und seinen Überzeugungen, über alle Unterschiede hinweg – als Mitmenschen anzuerkennen. Sie zeigt sich überall dort, wo mit dem gegenseitigen Respekt die Gesprächsgrundlage verloren geht.

Dass es bisher nicht gelungen ist, gegen die Giftwirkung rechtsextremer und rechtspopulistischer Sprache eine Art diskursive Immunabwehr zu mobilisieren, ist einem gesellschaftlichen Klima geschuldet, das die demokratischen Selbstheilungskräfte – den zivilisierten Streit – verkümmern lässt und es den Feinden der Demokratie gleichzeitig erlaubt, sich mit einem (zum Akt des Widerstands aufgeplusterten) „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ als letzte Hüter der Meinungsfreiheit, als unerschrockene Kämpfer gegen „Gesinnungsterror“ und „Meinungsdiktatur“ aufzuspielen, ja sich gar in die Tradition des Widerstands gegen das SED-Regime in der ehemaligen DDR zu stellen oder zu behaupten (ich zitiere): „Sophie Scholl würde AfD wählen.“

Solche Vereinnahmungsversuche sind nicht nur abstoßend zynisch und geschmacklos. Das Lamento über angebliche Zensur und Diktatur klingt geradezu grotesk aus dem Mund derjenigen, die das demokratische Grundrecht der freien Meinungsäußerung mit Hass und Hetze bis zum Äußersten strapazieren. Dass sie mit solchen offensichtlichen Falschbehauptungen eine von Manchen gefühlte Wahrheit artikulieren, haben jene zu verantworten, die mit moralisierender Stigmatisierung aus falsch verstandener Political Correctness mundtot zu machen versuchen, was nicht mit der eigenen Weltanschauung harmoniert.

Ein Beispiel: Man kann der CDU Stimme und Zustimmung verweigern; man kann gegen die Politik der CDU demonstrieren, und jeder kann dazu im Internet posten, twittern, bloggen oder auch ganze Pamphlete veröffentlichen.

Der Veröffentlichung und Verbreitung des geschriebenen Wortes sind heutzutage wahrlich keine Grenzen gesetzt. Doch wenn eine selbst ernannte „Basisdemokratische Linke“ den ehemaligen Bundesminister Thomas de Maizière daran hindert, aus seinem Buch „Regieren: Innenansichten der Politik“ zu lesen, wie im Oktober 2019 beim Göttinger Literaturherbst geschehen, hat das mit Demokratie nichts mehr zu tun. Solche Interventionen offenbaren – häufig ausgerechnet an Universitäten! – eine Selbstgerechtigkeit und Arroganz, die destruktiv ist, weil sie die kritische Auseinandersetzung verhindert.

Ein weiteres Beispiel: Man kann die Thesen eines Thilo Sarrazin für geistige Brandstiftung halten (das ist im Übrigen auch meine Meinung!), oder den ehemaligen AfD-Politiker Bernd Lucke als Steigbügelhalter einer mittlerweile in weiten Teilen rechtsextremen Partei kritisieren (auch diese Meinung teile ich!): Solche Kritik allerdings sollte in einer Demokratie in Worten vorgetragen werden. Linke Aktivisten, die Debatten durch Interventionen verhindern oder schlicht lautstark überschreien, schaufeln der Demokratie das Grab. Wenn das gesprochene Wort nur noch mit Polizeischutz Gehör finden kann (wie 2019 eine Makroökonomievorlesung Bernd Luckes an der Universität Hamburg), läuft etwas ganz gewaltig schief in diesem Land! „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“: Schönen Gruß von Rosa Luxemburg!

Und selbstverständlich – ein drittes Beispiel – kann man auch literarische Werke kritisieren und kontrovers über die Wortwahl von Dichterinnen und Dichtern diskutieren: Doch die Sprache reinigen zu wollen von Begriffen, die – aus heutiger Sicht! - angeblich diskriminierend oder zu wenig genderbewusst sind oder anderweitig Kränkungspotential bergen, legt die Axt an jene Freiheiten, die für eine lebendige Debattenkultur unverzichtbar sind.

Dafür steht die Berliner Alice-Salomon-Hochschule, die das über Jahre ihre Fassade schmückende Gedicht „avenidas“ des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer übermalen bzw. überschreiben ließ, weil die Gedichtzeilen „Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“ nach Auffassung einiger Studierender „unangenehm an sexuelle Belästigung“ erinnerten. Man stelle sich vor, nicht der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Hochschule, sondern die Katholische Bischofskonferenz hätte die Übermalung des Gedichts gefordert - wegen „Gefährdung der katholischen Sexualmoral“ zum Beispiel. Dagegen hätten dieselben Studierenden ganz sicher wütend protestiert - und das völlig zu Recht. Ebenso wenig wie religiöse Vorbehalte einzelner Gruppen können weltanschauliche Vorbehalte oder das subjektiv empfundene Kränkungspotential in einer Demokratie Maßstab des öffentlich Sagbaren sein.

Was es für eine Demokratie bedeutet, wenn Wortbeiträge, um im öffentlichen Diskurs als legitim zu gelten und Gehör beanspruchen zu dürfen, ausgeklügelte Sprachvorschriften erfüllen müssen, was es bedeutet, wenn über gewisse Themen nicht oder nur nach bestimmten Konventionen diskutiert werden kann, lässt sich mittlerweile am kläglichen Zustand unserer Streit- und Debattenkultur besichtigen. „Wo […] die Mitte der Gesellschaft nurmehr der Ort ist, an dem man von beiden Seiten Prügel bekommt, braucht man sich über Hass und Verlust von Umgangsformen nicht zu wundern“, so hat es der Schriftsteller Matthias Politycki, ein bekennender alt-grüner Linker, kürzlich in einer Rede formuliert. Die Lautstärke der Extreme links und rechts im Meinungsspektrum schwillt an; die ausgedünnte, gemäßigte Mitte verstummt, intellektuell wie gelähmt und sprachlich eingehegt. Die selbstgerechte Intoleranz der vorgeblich Toleranten, die geradezu obsessive Beschäftigung mit dem Kränkungspotential von Worten, die reflexhafte Neigung, Andersdenkende an den Pranger zu stellen und sie ohne nähere Auseinandersetzung mit ihrer Position des Sexismus, des Rassismus oder anderer Formen der Diskriminierung zu bezichtigen, hat die Demokratie nicht stärker gemacht, im Gegenteil. Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer - nicht wortgewandt genug fühlen, um sich unfallfrei auf sprachpolitisch vermintem Gelände zu bewegen, bleiben öffentlich lieber stumm als ihre Meinung zu äußern.

So mancher Politiker, so manche Politikerin prüft mittlerweile jedes Wort auf Skandalisierbarkeit und redet statt Klartext lieber im Bürokratensprech öffentlicher Verlautbarungen, um sich nur ja nicht angreifbar zu machen. Ja, das Bemühen um Political Correctness nimmt inzwischen bisweilen hysterische Züge an. Mit den teils diffamierenden Bezichtigungen, die auf jeden echten oder vermeintlichen sprachlichen Missgriff folgen, züchtet unsere Gesellschaft, so hat es der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen auf den Punkt gebracht, (ich zitiere) „den Typus des kleinmütigen, sich hinter Phrasen verschanzenden Angstpolitikers, den sie dann verachtet. Selbst unter jenen, die professionell mit Sprache zu tun haben und sich differenziert zu artikulieren wissen, geht die Angst um, mit einer vom Konformen abweichenden Sicht auf die Dinge falsch verstanden zu werden. Ängstlichkeit greift um sich, wo beherzte Rhetorik mit klaren Worte gefragt wäre – zum Beispiel dort, wo es um jene diffusen Ängste vor gesellschaftlicher Vielfalt geht, die Rechtspopulisten erfolgreich für ihre politischen Ziele ausschlachten. „Die Engführung des gesellschaftlichen und politischen Mainstreams hat das rechte Ufer gemacht“, schrieb der Schriftsteller Bernhard Schlink vor einigen Monaten in einem Gastbeitrag für die FAZ, und ich zitiere weiter: „Der Mainstream reagiert darauf. Die Themen, die er nicht diskutiert hat und die von den Rechten usurpiert wurden, sind nun rechte Themen, und als rechte Themen kann der Mainstream sie erst recht nicht mehr diskutieren. Werden sie im Mainstream gelegentlich doch angesprochen, dann nur mit Vorsicht und Vorbehalt […]. Die Erwartung der Verurteilung lässt nicht erst das Interesse, sondern schon die bloße Nähe scheuen.“

Fanatismus herrscht nicht nur dort, wo Sprache verroht. Fanatismus herrscht auch dort, wo man den Sichtweisen, den Ängsten und Sorgen anderer die Legitimation abspricht. Am Fanatismus von rechts und links krankt unsere Debattenkultur. Unter dem Regiment des Fanatismus ist über die Jahre ein gesellschaftliches Klima entstanden, das mit Theodor Fontanes Wortschöpfung „Ängstlichkeitsprovinz“ treffend beschrieben ist: Man hat sich selbstgefällig in seinen Gewissheiten eingerichtet. Man kleidet sich rhetorisch konventionell, den in der eigenen Filterblase herrschenden Erwartungen entsprechend.

Man will – was könnten die Leute denken! – keinesfalls durch Abweichungen auffallen. Man schirmt sich hinter hohen Hecken ab von denen, die anders leben, denken und reden. Man bewirtschaftet den eigenen Vorgarten und wacht pedantisch darüber, dass der wuchernde Strauch des Nachbarn nicht den eigenen gepflegten Rasen beschmutzt, während jenseits der Vorgartenidylle mit einer Agenda und Sprache der Ausgrenzung zum „Volksfest“ eingeladen wird. Jene Linke, die Diskriminierung und Ausgrenzung mit Gendersternchen in Substantiven und mit Sprachschöpfungen wie „PoC“ (People of Color) aus der Welt schaffen wollte und andere wegen vermeintlich verdächtiger Worten wie „Heimat“ oder „Patriotismus“ der falschen Gesinnung bezichtigte, hat nicht die Diskriminierer und Ausgrenzer, sondern die gemäßigte, demokratische Mitte zum Schweigen gebracht und damit dazu beigetragen, die demokratische Immunabwehr gegen totalitäre Anwandlungen von rechts auszuschalten! Was für ein krachendes Eigentor!

Natürlich hat die Freiheit des Wortes in einer Demokratie Grenzen. Eine Demokratie braucht einen „moralischen Cordon sanitaire“, so hat es der Dichter Durs Grünbein formuliert, ich zitiere weiter: „[e]ine Schutzzone […], jenseits derer die Seuchen beginnen, die Propaganda von Hass und Gewalt.“

Doch diese Schutzzone, diese Grenzen sollten nicht weltanschaulich begründet und sprachpädagogisch vorgegeben werden; sie ergeben sich aus unserem Grundgesetz, aus den darin verankerten Grundrechten aller Menschen, und wo notwendig, muss der Gesetzgeber nachjustieren, so wie kürzlich etwa mit dem von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmenpaket gegen Hasskriminalität im Netz.

Den „moralischen Cordon sanitaire“ zu verteidigen und sensibel zu reagieren auf Schlagworte, Phrasen und Parolen, die das Gift menschenverachtender Ideologie verbreiten, ist natürlich auch unser aller Verantwortung – allerdings unter dem Motto „mehr Feingefühl, weniger Political Correctness. Denn unsere Sprache befreien zu wollen von Begriffen wie „Heimat“, „Patriotismus“ oder „Volk“, ermöglicht deren rechtspopulistische Vereinnahmung.

Als Demokraten sollten wir solche Begriffe im Geiste unserer demokratischen Verfassung mit Bedeutung füllen und darüber hinaus der Freiheit des Wortes jenseits des demokratischen „Cordon sanitaire“ größtmöglichen Raum geben.

Denn nur in einem Klima geistiger Freiheit und Offenheit gedeihen die Selbstheilungskräfte der Demokratie gegen das Gift rechtspopulistischer Sprache und Erzählungen: Widerworte, Zweifel und der zivilisierte Streit.

Dagegen nehmen Versuche, das Sagbare einzuhegen in Grenzen, die sich aus einer persönlichen Weltanschauung ergeben, dem Wort auch einen Teil seiner heilsamen Macht. Deshalb sollten wir im Rahmen geltender Gesetze die Spannungen aushalten zwischen der Freiheit des Wortes, der Freiheit der Meinung einerseits und den damit möglicherweise verbundenen, persönlichen Kränkungen andererseits – im Bewusstsein, dass Kränkungen ebenso wie Unklarheiten, Missverständnisse und das Umgehen mit sprachlichen Unzulänglichkeiten der Preis für die Freiheit des Wortes sind.

Für den Kampf gegen rechtspopulistische Demokratieverächter bietet sich als Alternative zur paternalistischen Political Correctness das Konzept der „zivilisierten Verachtung“ an, das der 2019 verstorbene Psychologe und Publizist Carlo Strenger, einer der profiliertesten linksliberalen Denker in Israel, Demokraten in seinem gleichnamigen Buch ans Herz legte. Er warnte darin vor den totalitären Gefährdungen der Freiheit und plädierte für mehr Selbstbewusstsein in der Verteidigung unserer Werte der Aufklärung und der Demokratie. Dafür empfahl er eine Haltung, die es erlaubt, zwischen Ablehnung einer Position und Diskreditierung der Person, die sie äußert, zu trennen – die es also ermöglicht, Positionen zu verachten, aber den Gesprächspartner dabei als Mensch zu respektieren und zu achten.

„Zivilisierte Verachtung“, so Carlo Strenger, „ ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren (...), die Fähigkeit, Zivilisationsnormen auch gegenüber jenen aufrechtzuerhalten, deren Glaubens- und Wertesysteme man nicht akzeptiert.“ Dies knüpft er an zwei Bedingungen: Zivilisierte Verachtung muss erstens auf verantwortungsvoller Meinungsbildung, auf der Auseinandersetzung mit relevanten Fakten und Argumenten beruhen. Zweitens muss der Respekt vor der Würde und den grundlegenden Rechten des Gegenübers gewahrt bleiben. Die Fähigkeit, Positionen auf zivilisierte Weise zu kritisieren oder auch zu verurteilen, ist ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Streitgesprächs und damit Voraussetzung für die Verständigungsfähigkeit einer Gesellschaft. Welch verheerende Schäden es dagegen anrichten kann, wenn Fanatiker den Ton angeben und Demokraten verstummen, haben uns (um wieder zum Ausgangspunkt meiner Rede, zu Weimar zurückzukommen) die sprichwörtlich gewordenen „Weimarer Verhältnisse“ vor Augen geführt. Als Gründungsort der ihren Namen tragenden Republik ist Weimar Synonym für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. „Weimarer Verhältnisse“ zu verhindern, war deshalb das Ziel der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes. Sie wollten Lehren aus den Schwächen der ersten demokratischen Verfassung ziehen, mit deren Ausarbeitung die Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung beinahe auf den Tag genau vor 101 Jahren, am 6. Februar 1919, begannen. Die zweite deutsche Demokratie sollte eine wehrhafte Demokratie sein, nachdem die erste deutsche Demokratie an totalitären Entwicklungen zugrunde gegangen war. Eine wehrhafte Demokratie braucht auch wehrhafte Demokraten. Und wehrhafte Demokraten brauchen eine wehrhafte Sprache: eine Sprache, die Klartext ermöglicht, die zu Widerworten ermutigt, die Zweifel und Kritik kultiviert und das mit intellektueller Schärfe und respektvollem Feingefühl geführte Streitgespräch belebt.

„Streitgespräch“ und „Feingefühl“ sind übrigens ebenfalls Worte, die ein deutscher Dichter und Denker geprägt hat: Johann Heinrich Campe, einige Jahre lang Hauslehrer Alexander und Wilhelm von Humboldts in Berlin, widmete sich mit Hingabe der Eindeutschung von Fremdwörtern. Rund 300 seiner Wortschöpfungen fanden Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch, darunter das „Streitgespräch“ für „Debatte“ und das „Feingefühl“ für „Takt“. (Nicht durchsetzen konnte sich der wortmächtige Campe, nebenbei bemerkt, mit „Zwangsgläubiger“ für Katholik und „Freigläubiger“ für Protestant …). Campes Bemühen um Wortneuschöpfungen verdient in diesem Zusammenhang deshalb Erwähnung, weil es den Idealen der Aufklärung verpflichtet war: Er wollte auch Ungebildeten – dem akademischen Sprachniveau nicht gewachsene Menschen, die allein schon deshalb vom politischen Geschehen ausgeschlossen waren – Möglichkeiten eröffnen, ihre Anliegen zu artikulieren: „Politische Teilhabe“ würde man sein Ziel heute nennen. So wie Martin Luther einst auch von den einfachen Leuten verstanden werden wollte und dem Volk „aufs Maul“ schaute, so wollte Campe den weniger Gebildeten helfen, die Macht der Worte zu nutzen, um sich verständlich zu machen. Seine Bemühungen dienten deshalb der Erweiterung, nicht der Begrenzung des Vokabulars.

Damit steht Campe exemplarisch für die Bereicherung demokratischer Debattenkultur durch Dichter und Denker – und natürlich auch durch Dichterinnen und Denkerinnen! Wenn Sprachlosigkeit mit Ohnmacht und Sprache mit Ermächtigung zu tun hat, dann zählen sie zu den „Ermächtigern“ wehrhafter Demokraten, dann können ihre (sprach)schöpferischen Fähigkeiten die Widerstandskräfte gegen totalitäre, fundamentalistische Ideologien stärken, dann können sie Menschen aus der „Ängstlichkeitsprovinz“ holen und vor der Enge des Denkens und Wahrnehmens bewahren: mit klaren Worten, die es erlauben, den eigenen Standpunkt zu artikulieren, ohne sich vergifteter Worte zu bedienen; mit Sprachspielereien, die Altbekanntes in neuem Licht erscheinen lassen; mit Feinsinnigkeit, die der emotionalen Abstumpfung entgegenwirkt; mit poetischer Sprengkraft, die herkömmliche Denk-Routinen und Welt-Anschauungen aufbricht; mit Geschichten, die den Bereich des Vorstellbaren vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts erschließen und eben dadurch unser Feingefühl, unsere Empathie stärken. Sich regelmäßig einen guten Roman zu gönnen, halte ich deshalb für lehrreicher als jede Form der sprachpädagogischen Unterweisung. Lesen erweitert den Wortschatz und das Denken. Und es schützt, nebenbei bemerkt, auch davor, die eigene Weltsicht für das Maß aller Dinge zu halten.

In diesem Sinne will ich zum Schluss noch einen letzten Dichter und Denker zu Wort kommen lassen: den französischen Dramatiker Eugène Ionesco, Meister des Absurden Theaters: „Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“ Mit diesen Worten seines Protagonisten endet das Theaterstück „Die Nashörner“. Ionesco hat darin seine Erfahrungen in den 1930er Jahren verarbeitet, als seine Freunde sich nach und nach von der Sprache des Faschismus infizieren ließen.

Das Stück illustriert auf groteske Weise, wie einer Gesellschaft die Fähigkeit zur Verständigung abhandenkommt: Die Bürgerinnen und Bürger einer Provinzstadt verwandeln sich nach und nach in wutschnaubende, alles zertrampelnde Nashörner. Ihre Präsenz wird zunächst geleugnet, später relativiert und verharmlost und schließlich – je mehr Menschen zu Nashörnern mutieren – gerechtfertigt und legitimiert, bis nur noch einer sagt:

„Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“

So dramatisch muss man die aktuelle Lage nicht sehen. Doch das Wutschnauben ist lauter und bedrohlicher geworden in den vergangenen Jahren, und manchmal scheint es, als hätten wir uns schon an das Herumtrampeln auf den Grundwerten eines menschlichen Zusammenlebens gewöhnt. Deshalb sollte dies unsere Haltung sein: Nicht kapitulieren! Mensch bleiben! Den Menschen auch im Andersdenkenden sehen! Die Menschlichkeit verteidigen! Wir haben dazu die Macht der Worte. Nutzen wir sie zum zivilisierten Streit!