Im Wortlaut
Am 22. Juni 2016 jährt sich zum 75. Mal der Überfall deutscher Truppen auf die Sowjetunion. Bei der Eröffnung einer Freiluftausstellung, die diese Gräueltaten dokumentiert, erinnerte Kulturstaatsministerin Grütters an die vielen Opfer. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt sei es umso wichtiger, Lehren für die Zukunft zu ziehen. "Dazu gehört die Einsicht, dass es ohne die Überwindung des Nationalismus keinen dauerhaften Frieden in Europa geben kann."
Es war ein Krieg mit dem Ziel der Vernichtung - ein Krieg, brutaler und barbarischer als je ein Krieg zuvor: Schier unfassbar die Zahl der Menschen, die ihm zum Opfer fielen: 27 Millionen Sowjetbürger, überwiegend Zivilisten - ermordet von Deutschen, verhungert oder erfroren.
"Unternehmen Barbarossa": Unter diesem Decknamen begann in den Morgenstunden des 22. Juni 1941, was der Historiker Joachim Käppner in seinem gerade erschienenen Buch über das Schlüsseljahr 1941 als "Angriff auf die ganze Welt" bezeichnet. "Überall entlang der 1800 Kilometer langen Grenze" -schreibt Käppner, "brüllten die Motoren der Panzer und Lastwagen auf. 3,3 Millionen deutsche Soldaten und Hunderttausende verbündete Finnen, Rumänen, Slowaken und Ungarn stießen nach Osten vor."
Als "Angriff auf die ganze Welt" erweist sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion nicht nur im Rückblick - in der Ausweitung des von den Nationalsozialisten 1939 mit dem Angriff auf Polen entfesselten Krieges zu einem Weltkrieg Ende 1941. Der Eroberungsfeldzug im Osten, den Hitler als seine wahre "Mission" bezeichnete, war - nach den Verbrechen der Wehrmacht und der SS unter anderem in Polen - ein weiterer Angriff auf die Menschlichkeit und damit auf die ganze Welt: ein Angriff, motiviert durch völkisch-nationalistische Großmachtfantasien, rassebiologisch gerechtfertigt als Kampf um "Lebensraum im Osten", wie es die Nazis formulierten, und ideologisch begründet mit dem Ziel der "Zerschlagung des Bolschewismus".
Die Ausstellung, die uns Herr Professor Morsch gleich vorstellen wird, dokumentiert diesen Krieg anhand zahlreicher Fotos und anderer Zeitzeugnisse. Sie erzählen von der unbegreiflichen Grausamkeit der deutschen Besatzer. Sie berichten von den unermesslichen Qualen der etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie lassen das unvorstellbare Leid unschuldiger Menschen erahnen, verursacht durch Terror, Hunger, Seuchen und bittere Kälte - die Auswüchse eines Krieges, an denen so viele Männer, Frauen und Kinder körperlich und seelisch zugrunde gingen.
Dafür steht insbesondere die 900 Tage währende Belagerung Leningrads - des heutigen Sankt Petersburgs -, an die der Schriftsteller Daniil Granin 2014 in seiner bewegenden Rede am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag erinnert hat, ich zitiere:
"Ich (…) konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun."
Was Deutsche, meine Damen und Herren, Sowjetbürgern angetan haben, dürfen wir in Deutschland nie vergessen. Die Erinnerung an die Verbrechen und Gräuel wach zu halten, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind, bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. Dazu gehört auch die Erinnerung an den barbarischen Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion, der bei uns - auch das gehört zur Wahrheit - aus vielerlei Gründen bis heute keinen angemessenen Platz im öffentlichen Bewusstsein hat. Das soll sich ändern, und ich hoffe, dass diese aus meinem Etat finanzierte Ausstellung dazu einen kleinen Beitrag zu leisten vermag - so wie bisher schon das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst, ein einmaliges Projekt deutsch-russischer Erinnerungskultur. Herzlichen Dank Ihnen allen - den Mitgliedern der Ständigen Konferenz der Leiter der NS-Gedenkorte im Berliner Raum -, dass Sie mit dieser Freiluft-Ausstellung vielfach verdrängte Erinnerungen im wahrsten Sinne des Wortes mitten ins Leben, mitten ins Herz der deutschen Hauptstadt, zurückholen!
Hier am Potsdamer Platz, meine Damen und Herren, verlief die Mauer, die infolge des Zweiten Weltkriegs die Spaltung Deutschlands und Europas zementierte. Hier haben wir vor einem Vierteljahrhundert einen der glücklichsten Momente deutscher Geschichte erlebt: Freiheit und Einheit, das Ende des Kalten Krieges, den Beginn der Aussöhnung mit den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Ich empfinde große Dankbarkeit für die Versöhnungsbereitschaft und das Vertrauen, das Deutschland damit - auch von russischer Seite - erfahren hat.
Doch dort, wo 1941 deutsche Soldaten nach Osten vorrückten - dort, wo zahlreiche Bilder der Ausstellung entstanden, die wir heute eröffnen -, dort kann von Frieden und Versöhnung keine Rede sein. In der Ukraine, die schon die nationalsozialistische Terrorherrschaft, die sowjetkommunistische Diktatur und die Verwerfungen nach dem Zerfall der Sowjetunion durchlitten hat, dauern die blutigen Konflikte an, die wir längst überwunden glaubten. Umso wichtiger ist es, aus dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 75 Jahren Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dazu gehört die Einsicht, dass es ohne die Überwindung des Nationalismus, der einst im barbarischen Eroberungsfeldzug Hitlers im Osten gipfelte und der heute vielerorts wieder im Aufwind ist, keinen dauerhaften Frieden in Europa geben kann. In diesem Sinne wünsche ich der Ausstellung viele interessierte Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland! Möge die Erinnerung an das präzedenzlose Leid, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa gebracht hat, der Saat des Nationalismus den Boden entziehen und die Kraft zur Verständigung fördern!