Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich der Wiedereröffnung der Staatsbibliothek

Wo lesen wir unsere Bücher? Dieser Frage hat sich Kurt Tucholsky einst in der Vossischen Zeitung gewidmet: In der Bahn beispielsweise gehe es mitunter sehr philosophisch zu, der Bus hingegen eigne sich mehr für die leichtere Kost. 

Mag heute, im Zeitalter des Smartphones, auch mehr Informations-Fast Food konsumiert werden – Tucholskys Conclusio gilt nach wie vor: „Es gibt nur sehr wenige Situationen jedes menschlichen Lebens, in denen man keine Bücher lesen kann, könnte, sollte … .“ Zum Bücherlesen braucht man also keine Bibliotheken. Und doch wecken und nähren gerade sie die Lust aufs Lesen: das Bedürfnis, sich des eigenen Verstandes zu bedienen; die Neugier, dabei über den eigenen Horizont hinauszuschauen; die Bereitschaft, sich auf intellektuelles Neuland zu wagen. Denn hier – in den geistigen Schatzkammern der Menschheit – bekommt man wie nirgendwo sonst einen Eindruck von der (im wahrsten Sinne des Wortes) wundervollen Welt der Bücher, von ihren unendlichen Weiten und ihrer überwältigenden Vielfalt. 

Mehr als zwölf Millionen Bände hütet allein die Staatsbibliothek zu Berlin, darunter Handschriften des Nibelungenlieds und unschätzbar wertvolle Autographensammlungen deutscher Dichter und Denker. Sie zählt damit nicht nur flächenmäßig zu den größten Bibliotheken Europas. Hier wird aufbewahrt, was Menschen an Wissen, Erkenntnis und Fantasie, an Ideen, Geschichten und Kunstwerken hervorgebracht haben – ein gewaltiges Vermächtnis, ein Weltgedächtnis, das die Ergebnisse einer Google-Suche in mancherlei Hinsicht alt aussehen lässt. Einzigartige Kostbarkeiten sind darunter wie die Reisetagebücher Alexander von Humboldts, aber auch Zeitzeugnisse wie Printausgaben der renommierten und traditionsreichen Vossischen Zeitung, in der Kurt Tucholsky 1930 seinen eingangs zitierten Artikel „Wo lesen wir unsere Bücher?“ veröffentlichte.

Solche geistigen und kulturellen Schätze zu bewahren und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gehört zu den Kernaufgaben der Kulturpolitik. Deshalb hat der Bund die Instandsetzung der Staatsbibliothek Unter den Linden komplett finanziert. Bei laufendem Betrieb aufwändig denkmalgerecht zu sanieren, war eine enorme organisatorische und logistische Herausforderung für alle Beteiligten – und eine Geduldsprobe für viele Besucherinnen und Besucher. Umso mehr freue ich mich, dass dieses Jahrhundertbauwerk frisch saniert in neuem Glanz und alter Pracht erstrahlt und endlich wieder ganz denen gehört, für die es gebaut wurde: den Wissens- und Erkenntnishungrigen, die hier geistige Nahrung in Fülle finden. Ich bin sicher: Viele Menschen warten sehnlichst darauf, die Staatsbibliothek neu zu entdecken und hier im spektakulären Allgemeinen Lesesaal Platz zu nehmen, in dem wir heute – leider nur symbolisch – die „Eröffnung“ der pandemiebedingt geschlossen bleibenden Staatsbibliothek Unter den Linden feiern. 

Nicht zuletzt in der elektrisierenden Stille, die in einem solchen Raum unter konzentrierten Geistesarbeitern entsteht, kann man spüren, dass eine Bibliothek viel mehr ist als nur ein Verwahrungsort für Bücher. Sie ist ein für alle offener Denkraum; sie ist Anbahnungsstätte für Gespräche; sie ist ein weltanschaulich neutraler Ort, an dem Menschen sich unabhängig von ihrer Herkunft als Teil einer geistigen Gemeinschaft, als verbunden mit anderen wahrnehmen können. Wie Theater, Konzerthäuser und Museen sind auch Bibliotheken Kulturorte, die das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Austausch und Gemeinschaft stillen. Sie waren die ersten, die in diesem Lockdown schließen mussten; sie dürfen nicht die letzten sein, die wieder öffnen! 

Die einzige Bibliothek, deren Öffnung in ferner Zukunft wir getrost akzeptieren dürfen, ist die „Future Library“, ein auf 100 Jahre angelegtes Kunstprojekt der schottischen Künstlerin Katie Paterson. Jedes Jahr wird eine namhafte Autorin (wie 2014 Margret Atwood) oder ein namhafter Autor (wie 2019 Karl Ove Knausgård) eingeladen, ein Buch dafür zu verfassen, das erst im Jahr 2114 veröffentlicht und gelesen wird. Schöner kann man die Hoffnung, dass es auch in 100 Jahren noch Menschen geben wird, die Bücher lesen, nicht zu Papier bringen. Ich wünsche der Staatsbibliothek Unter den Linden, dass viele dieser Menschen hier ihren liebsten Ort zum Lesen, zur Inspiration, zum Austausch finden und forschend, nachdenkend, diskutierend dazu beitragen, unser kulturelles Erbe zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne: auf eine gute und erfolgreiche Zukunft!