Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung des Theodor-Herzl-Preises am 28. Oktober 2019 in München

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Sehr geehrter Herr Schuster,
sehr geehrte Frau Knobloch,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Markus Söder,
sehr geehrte Mitglieder des bayerischen Kabinetts,
Frau Landtagspräsidentin,
Hoheit,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren,

für die Auszeichnung mit dem Theodor-Herzl-Preis danke ich dem World Jewish Congress von ganzem Herzen. Ich empfinde sie als eine große Ehre.

Besonders danken darf ich Ihnen, lieber Herr Botschafter Lauder, für die Worte, die Sie eben gefunden haben – Worte der Warmherzigkeit und Wertschätzung, aber auch Worte der Besorgnis und Mahnung.

Als Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts sein Buch „Der Judenstaat“ schrieb, träumte er von einer sicheren Heimat für die Juden dieser Welt angesichts eines weit verbreiteten Antisemitismus. Doch trotz aller Diskriminierung und Verfolgung konnte Herzl damals auch in seinen schlimmsten Albträumen nicht ahnen, was gut drei Jahrzehnte später geschehen sollte: der von Deutschland im Nationalsozialismus begangene Zivilisationsbruch der Shoa. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder – wie es der Auschwitz-Überlebende und langjährige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Heinz Galinski einst nannte – dieses „Verbrechen an der Menschheit“ bedeutete einen Bruch mit sämtlichen zivilisatorischen Grundsätzen.

Es erfüllt mich deshalb mit Demut, dass ich heute als deutsche Bundeskanzlerin – also gleichsam stellvertretend für unser Land – den Theodor-Herzl-Preis entgegennehmen darf. Ich verstehe die Preisverleihung daher auch als Zeichen des Vertrauens, das jüdische Gemeinden weltweit und der World Jewish Congress in Deutschland setzen. Für dieses Vertrauen kann ich gar nicht dankbar genug sein.

Es ist und bleibt nicht selbstverständlich und es berührt mich unverändert sehr, wenn Menschen wie zum Beispiel Margot Friedländer, die die Shoa erlebt und überlebt haben, sich nach Jahrzehnten im hohen Alter entschließen, aus dem Exil im Ausland wieder in ihre Heimatstadt Berlin zu ziehen. Knapp 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust zählen die jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder 100.000 Mitglieder. Die Israelitische Kultusgemeinde in München, in der wir heute zu Gast sind, ist eine der größten jüdischen Gemeinden in Deutschland.

Liebe Frau Knobloch, ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie heute Gastgeberin sind und dass Sie das so wunderbar für uns vorbereitet haben. Sagen Sie auch allen Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Dank. Es ist eine ganz wunderbare Atmosphäre hier.

In Ihrem Zentrum kann man erleben, wie vielfältig und lebendig jüdisches Leben in unserem Land ist. Ich konnte mich selbst schon davon überzeugen.

Es werden Rabbinerinnen und Rabbiner in Deutschland ordiniert, jüdische Kindergärten und Bildungseinrichtungen gegründet, Synagogen wieder aufgebaut. Jüdisches Leben, seine Kultur und Geschichte sind Teil der Identität Deutschlands. Jüdisches Leben und jüdische Kultur müssen unterstützt werden. Deshalb hat die Bundesregierung gerade die Mittel für Bauvorhaben erhöht. Ich denke nur an die Beteiligung des Bundes am Neubau einer Synagoge in Dessau.

Jüdisches Leben in Deutschland muss sowohl gefördert als auch geschützt werden. Leider gehört es zur traurigen Wahrheit, betonen zu müssen, wie wichtig gerade auch der Schutz jüdischen Lebens ist. Das wissen wir nicht erst seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober – an Jom Kippur –, der unsere gesamte Gesellschaft ins Herz getroffen hat. Dieses abscheuliche Verbrechen beschämt uns zutiefst. Dass jüdische Menschen in Deutschland auch im Jahr 2019 Bedrohungen ausgesetzt sind, zeigt, dass wir niemals nachlassen dürfen, die Grundwerte unserer Gesellschaft zu verteidigen und ihnen im alltäglichen Leben Geltung zu verschaffen.

Es ist jetzt gut fünf Jahre her, dass wir uns aufgrund vorangegangener antisemitischer Vorfälle im September 2014 am Brandenburger Tor zu einer großen Kundgebung zusammengefunden haben. „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ – So lautete damals das Motto. Ich wünschte sehr, ich könnte heute sagen, dass dieser Aufruf nachhaltig Früchte getragen hätte. Doch das kann ich leider nicht. Der Antisemitismus treibt in Deutschland weiter sein Unwesen. Gerade auch jüngste Entwicklungen – und zwar nicht nur der Angriff in Halle – müssen uns alle mit großer Sorge erfüllen.

So nehmen einer Umfrage der Europäischen Grundrechteagentur zufolge 89 Prozent der von ihr befragten Jüdinnen und Juden in Deutschland eine Zunahme des Antisemitismus wahr. Die Zahl antisemitischer Straftaten allein im vergangenen Jahr ist um fast 20 Prozent gestiegen. Antisemitische Äußerungen treten immer offener und ungehemmter zutage – gerade auch im Internet. Diese Entwicklungen sind zutiefst beunruhigend. Sie treffen die jüdischen Menschen in unserem Land, aber beileibe nicht allein. Denn sie richten sich gegen uns alle gemeinsam, gegen jüdische und nicht-jüdische Menschen, gegen alles, was unser Land trägt und zusammenhält, unsere Werte und Freiheiten. Sie treffen den Kern unseres Zusammenlebens, weil sie Ausdruck einer zutiefst demokratiefeindlichen Haltung sind.

Wer die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschriebene Würde des Menschen antastet, der tastet unser aller friedliches und gedeihliches Zusammenleben an. Die Würde des einzelnen Menschen ist unantastbar – dieser Schwur zu Beginn unseres Grundgesetzes ist Verpflichtung. Er gilt für jeden Menschen in unserem Land, unabhängig von Religion, Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung.

Umso schwerer wiegt, wenn wir erleben müssen, dass das Schutzversprechen unseres Staates gegenüber den Juden in Deutschland nicht immer voll erfüllt worden ist – und stattdessen zum Beispiel nur die starke Holztür einer Synagoge vor einem Massaker an den im Gotteshaus versammelten Gläubigen bewahrt.

Wir dürfen uns niemals damit abfinden, dass in Deutschland Menschen aufgrund ihrer Religion Angst haben müssen. Wir müssen vielmehr alles in unserer Macht Stehende tun, dass Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Antisemitismus und Rassismus zeigen sich übrigens nicht erst in Gewalttaten, sondern viel früher, subtiler. Und aufwachen dürfen wir nicht erst, wenn aus Worten Taten geworden sind. Wir müssen vorher ansetzen.

In wenigen Tagen, meine Damen und Herren, erinnern wir wieder an den 9. November, einen so schicksalhaften Tag in der deutschen Geschichte. Zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht durfte ich im letzten Jahr bei der zentralen Gedenkveranstaltung in der Synagoge in der Rykestraße in Berlin reden. Ich möchte daraus einen Gedanken wiederholen, der mir wichtig war und ist. Er befasste sich damit, dass wir Menschen dazu neigen, an wichtigen Gedenktagen wie dem 9. November die Erinnerung ausschließlich auf diese Tage zu konzentrieren, und leicht übersehen, dass sie in der Regel nicht für sich stehen, sondern Teil eines Prozesses sind.

Auch der 9. November 1938 stand nicht für sich. Wir alle wissen, was danach geschah. Doch ihm ging auch etwas voraus. Hass auf die Juden gab es in Europa seit dem Mittelalter, zunächst vornehmlich religiös begründet. Im 19. Jahrhundert, in dem mit der industriellen Revolution die sozialen Fragen drängend wurden und die säkularen Nationalstaaten an Bedeutung gewannen, entstand der, wie es hieß, rassistisch motivierte Antisemitismus. Das alles führte in die Katastrophe, bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoa.

Ich bin überzeugt, dass wir die richtigen Lehren aus den Schrecken der Vergangenheit für uns heute und in Zukunft nur dann ziehen können, wenn wir die Novemberpogrome 1938 als Teil eines Prozesses verstehen, dem mit der Shoa ein schreckliches Danach folgte, dem aber eben auch ein Davor vorausging. Dieses Davor wurde begleitet von dem Wegschauen, dem Schweigen, der Gleichgültigkeit und dem Mitlaufen einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

Heute, meine Damen und Herren, leben wir einmal mehr in Zeiten tiefgreifender technologischer und globaler Veränderungen. In solchen Zeiten ist die Gefahr immer besonders groß, dass diejenigen Zulauf bekommen, die mit einfachen Antworten auf die Schwierigkeiten und Folgen der Umbrüche reagieren – Antworten, die zu häufig auch mit einer Verrohung der Sprache auf den Straßen wie auch im Netz einhergehen. Das ist der Anfang, dem wir ganz entschieden entgegentreten müssen. Und wir – das heißt vorneweg unser Staat. Das sage ich ausdrücklich als Bundeskanzlerin.

Politik und Staat müssen ihre Bürgerinnen und Bürger schützen mit allen Mitteln, die einem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Unser Rechtsstaat darf nicht hinnehmen, dass Menschen angepöbelt, bedroht, angegriffen werden, wenn sie sich als Juden zu erkennen geben. Er darf nicht hinnehmen, wenn eine jüdische Mutter und ihre Kinder mit Steinen beworfen werden. Er darf nicht hinnehmen, wenn das Sicherheitspersonal der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin attackiert wird.

Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Bundesregierung übermorgen ihr Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität beschließen wird. Wir werden eine Meldepflicht für Provider einführen. Die Diensteanbieter sollen dazu verpflichtet werden, den Sicherheitsbehörden Hasskriminalität im Internet zu melden. Beim Bundeskriminalamt werden wir hierfür eine neue Zentralstelle einrichten. Auch härtere Strafen gegen Hetze und aggressive Beleidigung sind geplant. Besonders wichtig ist, dass der Austausch der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Rechtsextremismus gestärkt werden soll, ebenso die Präventionsarbeit im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Wir werden die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, also diejenigen, die sich vor Ort, in den Städten und Gemeinden, engagieren, besser schützen. Dazu werden wir das Strafrecht entsprechend anpassen. Wir setzen mit diesem Maßnahmenpaket alles daran, dass aus Worten keine Taten werden. Gutes und bereits bestehende Maßnahmen bauen wir aus. Und dort, wo wir Lücken haben, bauen wir Neues auf.

Mit Beginn dieser Legislaturperiode, im Mai 2018, wurde zudem das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus geschaffen. Er koordiniert die verschiedenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und hat damit auch seinen Anteil an den Arbeiten für das Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität.

Bei allem leitet uns die Arbeitsdefinition Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken. Diese Arbeitsdefinition wurde unter deutscher Mitwirkung verabschiedet. Die Bundesregierung hat sich ihr 2017 angeschlossen.

Nur am Rande: Es ist zwar richtig, dass die meisten Handlungsfelder zur Bekämpfung des Antisemitismus in die Zuständigkeit der Bundesländer fallen. Doch richtig ist auch, dass wir alle gemeinsam entschlossen sind, uns beim Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus nicht von Zuständigkeitsdiskussionen zwischen Bund und Ländern behindern zu lassen. Deshalb gibt es eine gemeinsame Bund-Länder-Kommission gegen Antisemitismus, mit der wir alle Kräfte bündeln, um gegen rechtsextremistisch und islamistisch motivierten Antisemitismus vorzugehen – und ebenso gegen den Antisemitismus, der sich gegen die Sicherheit und Existenz des Staates Israel richtet.

Dazu ist auch der europäische und internationale Austausch unverzichtbar. Deshalb finden zum Beispiel regelmäßige Konsultationen mit Frankreich und Israel zum Thema Antisemitismusbekämpfung statt. Deshalb wollen wir während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres die europäische Zusammenarbeit gerade auch in diesem Bereich stärken.

Dies ist auch mit Blick auf die Sorgen der jüdischen Gemeinschaft wichtig, die den islamistisch motivierten Antisemitismus durch Zuwanderung und Flucht muslimischer Menschen zu uns betreffen. Es ist gut, dass wir gerade auch hierbei starke und engagierte Partner der Zivilgesellschaft an unserer Seite haben. Ich denke zum Beispiel an Organisationen, die den jüdisch-muslimischen Dialog fördern, an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, die Bildungsprojekte erarbeitet und umsetzt, und auch an die Gedenkstätten, die spezielle Angebote zu den Themen Flucht und Migration entwickelt haben.

Auf internationaler Ebene ist es der World Jewish Congress, der ein weithin gehörter Partner im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus ist. Ich bin dem Word Jewish Congress überaus dankbar für seinen Einsatz für die Belange jüdischer Menschen weltweit.

Meine Damen und Herren, Theodor Herzls Traum von einem jüdischen Staat Israel hat sich mit seiner Gründung 1948 erfüllt. Dass 1965 – 20 Jahre nach dem Menschheitsverbrechen der Shoa – der Staat Israel diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat, gleicht einem Wunder. In jedem Fall war es ein unglaublicher Vertrauensvorschuss, der unserem Land entgegengebracht wurde. Letztes Jahr feierten wir gemeinsam den 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels. Damals wie heute wiederhole ich, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist und bleibt.

Deutschland und Israel verbinden zahlreiche wirtschaftliche, wissenschaftliche und persönliche Beziehungen. Wir freuen uns über einen regen Schüler- und Jugendaustausch. Wir haben viele Städtepartnerschaften und Freundschaftsorganisationen. Die Regierungen beider Länder haben regelmäßige Regierungskonsultationen. Das umfasst auch, dass sich die Bundesregierung trotz aller Rückschläge weiterhin für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt – mit Israel als jüdischem, demokratischem Staat in guter Nachbarschaft mit einem lebensfähigen palästinensischen Staat.

Meine Damen und Herren, nach vorne zu blicken, an eine Vision zu glauben, sie Realität werden zu lassen und auf eine gute Zukunft hinzuarbeiten, mit fester Überzeugung, mit Mut und mit Kreativität – das zeichnete Theodor Herzl aus. Und so sehe ich diesen Preis, den Sie mir heute verliehen haben und der mit seinem Namen verbunden ist, als Verpflichtung an, mich niemals mit Erreichtem zufriedenzugeben, sondern mich gemeinsam mit unseren Partnern für eine gute Zukunft einzusetzen.

Die Anerkennung, die der World Jewish Congress durch die Verleihung des Theodor-Herzl-Preises ausspricht, möchte ich an alle Menschen in Deutschland weitergeben, die sich für Austausch und Verständigung und gegen Antisemitismus und Ausgrenzung engagieren. Ich möchte sie alle ermutigen, weiterhin mit Tatkraft für die Vielfalt und die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland einzutreten. Und dazu will auch ich weiter meinen Beitrag leisten.

Herzlichen Dank.