Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor dem Europäischen Ausschuss der Regionen am 13. Oktober 2020

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Sehr geehrter Herr Präsident, Herr Apostolos Tzitzikostas,
sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Ausschusses der Regionen,
meine Damen und Herren,

ich grüße Sie herzlich in Brüssel und in den Regionen und Städten.

Deutschland hat in diesem Halbjahr den EU-Ratsvorsitz inne. Wir können sagen, dass das eine Ratspräsidentschaft ist, die in einer Ausnahmesituation stattfindet. Die Covid-19-Pandemie fordert uns auf allen Ebenen ‑ in Europa, in den EU-Mitgliedstaaten, in den Regionen und in den Kommunen. Ich will es ganz offen sagen: Ich beobachte mit großer Sorge die erneut ansteigenden Infektionszahlen in eigentlich fast allen Teilen Europas. Viele Menschen haben ihr Leben verloren. Ich muss deshalb sagen: Die Lage ist unverändert ernst.

Wir dürfen jetzt nicht das verspielen, was wir in den letzten Monaten durch Einschränkungen erreicht haben. Uns allen sind diese Einschränkungen nicht leichtgefallen. Deshalb ist es umso wichtiger, dafür Sorge zu tragen, dass nicht ein weiterer Lockdown vonnöten sein wird und dass nicht wieder Überforderungen unseres Gesundheitssystems eintreten. Wir müssen zeigen, dass wir unsere Lektion gelernt haben. Und wir müssen die Menschen in Europa bitten, vorsichtig zu sein, die Regeln einzuhalten, Abstand zu halten, Mund-Nasen-Schutz zu tragen und das zu tun, was wir tun können, um das Virus einzudämmen und trotzdem unsere wirtschaftliche Tätigkeit aufrechtzuerhalten.

Sie als Mandatsträger wissen um die Herausforderungen vor Ort ‑ in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Schulen und Kindergärten, in Unternehmen oder auch im öffentlichen Raum. Viele von Ihnen wissen auch um die Bewährungsprobe, die Maßnahmen des Infektionsschutzes für ein Europa ohne Grenzen bedeuten können - für Menschen, die zur Arbeit ins Nachbarland pendeln, für die grenzüberschreitende Kooperation von Behörden und für die Beziehungen unserer Gesellschaften.

Meine Damen und Herren, Ihre Perspektiven auf Europa, Ihre Erfahrungen und Ihr Engagement sind das, was Europa braucht, um diese schwierige Zeit solidarisch durchzustehen und vor Ort Verantwortung zu übernehmen. Ohne Sie können wir als Staats- und Regierungschefs wenig bewegen ‑ genauso wenig wie ohne die Bürgerinnen und Bürger Europas. Deshalb möchte ich allen meinen Dank sagen, die in den Kommunen und Regionen Verantwortung wahrnehmen.

Die Krisenbewältigung ist eine Herkulesaufgabe, die natürlich umso besser gelingt, wenn wir in Europa an einem Strang ziehen. Daher war es überaus wichtig, ein umfassendes Paket zu schnüren, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie einzudämmen. Dazu dienen sowohl europäische Kredit- und Förderprogramme als auch die Beschlüsse des Europäischen Rates zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zum Aufbauinstrument mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro. Wir sind der Überzeugung ‑ und ich bin das auch ganz persönlich ‑, dass in einer solch außerordentlichen Situation auch außerordentliche Maßnahmen notwendig sind.

Nun gilt es aber auch, das Paket auf den Weg zu bringen, damit die Mittel ab Anfang 2021 auch wirklich eingesetzt werden können. Dazu arbeiten wir mit Hochdruck an einer Einigung mit dem Europäischen Parlament. Außerdem brauchen wir die Ratifizierung des sogenannten Eigenmittelbeschlusses in jedem Mitgliedstaat, das heißt, für die Mittel aus dem Recovery Fund. Hierfür bitte ich auch Sie um Ihre Unterstützung vor Ort.

Es geht dabei nicht allein um kurzfristige Krisenbewältigung, sondern auch um Zukunftsvorsorge ‑ darum, dass Europa sich neue wirtschaftliche Chancen erschließt und damit auch weniger krisenanfällig wird und mehr Arbeitsplätze hat. Dafür müssen wir auch bei großen Aufgaben wie Klimaschutz und digitalem Wandel vorankommen. Beide Themen sind Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft.

Die Wettbewerbsfähigkeit Europas wird in zunehmendem Maß davon abhängen, inwieweit es uns gelingt, digital souveräner zu werden und unseren Binnenmarkt auch in dieser Hinsicht zu stärken. Der gemeinsame Binnenmarkt ist die wesentliche Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg Europas und jedes einzelnen Mitgliedstaates. Aber wie schon der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors zu bedenken gab: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Deshalb muss bei allen Diskussionen über die Digitalisierung und Weiterentwicklung des Binnenmarkts immer der Mensch im Mittelpunkt stehen. Genau das macht unser europäisches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aus. Wir denken Wirtschaft und Soziales zusammen. Aber unsere Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, teilen natürlich nicht alle auf der Welt. Und daher sollten wir Europäer gerade auch bei der Digitalisierung selbstbewusst unseren eigenen Weg gehen.

Ähnliches gilt beim Klimaschutz. Ich habe es im Juli vor dem Europäischen Parlament gesagt; und ich sage es heute hier wieder: Ich bin davon überzeugt, dass eine globale Lösung des Klimawandels vor allem dann gelingt, wenn Europa eine Vorreiterrolle übernimmt. Beim Europäischen Rat in zwei Tagen werden wir uns mit den europäischen Klimaschutzzielen befassen. Für die deutsche Bundesregierung kann ich sagen: wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Darüber hinaus bemühen wir uns um eine Einigung im Rat auf ein Europäisches Klimagesetz - und das möglichst noch in diesem Jahr.

Auch in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik wollen wir während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft weiterkommen. Nicht nur, aber gerade auch mit Blick auf Moria ist es offensichtlich, dass wir Europäer unserem humanitären Anspruch besser gerecht werden müssen. Eine gemeinsame Migrationspolitik ist deshalb von entscheidender Bedeutung. Dass wir aber bis heute keinen gemeinsamen Weg gefunden haben, ist eine schwere Bürde für Europa. Daher halte ich den Kommissionsvorschlag für einen neuen Pakt zu Asyl und Migration wirklich für diskussionswürdig. Angesichts verschiedener Interessen ist Kompromissfähigkeit gefragt. Jeder Mitgliedstaat wird seinen Beitrag für eine faire Lösung leisten müssen.

In diese Zeit fällt auch die entscheidende Weichenstellung für unser zukünftiges Verhältnis zum Vereinigten Königreich. Vielfältige Beziehungen, nicht zuletzt auch zahlreiche Städtepartnerschaften, zeigen: ein Abkommen liegt im Interesse aller. Die EU ist geeint im Bestreben, dies in der Kürze der Zeit noch zu erreichen. Aber wir müssen uns leider auch auf den Fall vorbereiten, dass kein Abkommen zustande kommt.

Meine Damen und Herren, so unterschiedlich diese und andere Herausforderungen auch sind, haben sie doch eines gemeinsam: Um sie zu bewältigen, brauchen wir ein starkes Europa ‑ ein Europa mit Institutionen, die gut zusammenarbeiten, und ein Europa mit Mitgliedstaaten, deren Stärke gerade auch aus dezentralen Strukturen erwächst, die den verschiedenen Gegebenheiten in den Regionen, Städten und Kommunen Rechnung tragen.

Gelebte Subsidiarität und europäische Errungenschaften wie die Freizügigkeiten und Freiheiten des Binnenmarkts und Schengenraums kommen uns auch bei der Pandemiebewältigung zugute. Denken wir zum Beispiel an die Aufnahme von Patienten aus anderen EU-Staaten oder an die Versorgung mit kritischen Gütern wie Schutzausrüstung oder Medikamenten.

Allerdings haben wir auch erlebt, dass die europäische Zusammenarbeit sozusagen nicht grenzenlos belastbar ist. Das sage ich durchaus selbstkritisch. Vor allem zu Beginn der Pandemie haben wir uns, in der Rückschau, zu sehr auf deren Bekämpfung in unseren eigenen Staaten konzentriert. Aber auch diese Erfahrung lehrt einmal mehr: wir brauchen einander. Wir brauchen eine enge europäische Zusammenarbeit, um große Herausforderungen zu meistern. Das gelingt nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern und nicht über ihre Köpfe hinweg.

Die Konferenz zur Zukunft Europas wird eine hervorragende Gelegenheit bieten, uns darüber auszutauschen, wie wir Europa gemeinsam gestalten wollen. Wir möchten ‑ sofern es die Pandemielage erlaubt ‑ die Konferenz noch während der deutschen Ratspräsidentschaft starten und damit unserem Motto besonderes Gewicht verleihen: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich jetzt auf Ihre Beiträge.