Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Treffen mit Vertretern der Digitalwirtschaft am 25. August 2016

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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Taavi Rõivas,
liebe Kollegen aus dem Kabinett,
meine Damen und Herren,

ich möchte mich ganz herzlich für den freundlichen und freundschaftlichen Empfang in Ihrem Land bedanken, von dem man sagen kann, dass es Tradition und Fortschritt gleichermaßen pflegt.

Als wir gestern einen Gang durch die Altstadt Tallinns gemacht haben, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört, hat man die wunderbare Atmosphäre einer altehrwürdigen Hansemetropole gespürt. Man hat auch gespürt, dass Tallinn eine traditionsreiche, aber eben auch eine geschichtsbewusste Stadt ist, die modern und fortschrittlich ist. Im Showroom der estnischen Regierung konnte ich mir eben einen kleinen Ausschnitt von dem anschauen, was hier alltägliches Handeln ist.

Das beruht darauf, dass Estland sehr frühzeitig die Chancen der Digitalisierung für sich erkannt hat und man mit Fug und Rech sagen kann, dass Estland eines der innovativsten Länder der Welt ist. Das ist insbesondere deshalb so, weil nicht nur im Prinzip digitale Optionen im alltäglichen Leben bestehen, sondern weil sie breitflächig in der gesamten Bevölkerung verankert sind und deshalb zum Alltag gehören. E-government, e-learning oder e-voting – das sind Selbstverständlichkeiten, während wir an anderen Stellen in Europa gerade erst die Voraussetzungen dafür schaffen.

Ich sage ganz offen: Deutschland schaut mit großem Interesse auf diese bereits bestehende Situation hier. Das war auch der Grund, warum wir den Ministerpräsidenten – Dich, lieber Taavi – zur Klausurtagung der Bundesregierung eingeladen haben. Die eine Stunde, die wir ursprünglich ins Auge gefasst hatten, war schnell vorbei. Es gab viele, viele Fragen. Ich hoffe, dass daraus auch viele Handlungen entstehen.

Wie ich schon sagte, waren wir gerade bei der Präsentation zum sogenannten e-Estonia. Das hat mir noch einmal bestätigt, welche Innovationskraft darin liegt. Die konsequente Anwendung digitaler Technologien spart viel Zeit, viel Geld und ist wachstumsfördernd. Wir reden in der Europäischen Union so oft über Wachstum. Hier kann man sich ganz praktisch anschauen, wie das machbar ist.

Nun hat auch Estland das Thema Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge für sich entdeckt. Gemeinsam mit estnischen Partnern engagiert sich die deutsche Botschaft dafür – hierfür möchte ich dem Botschafter sehr herzlich danken –, dass es hier stärkere Kooperationen gibt. Das Industrieland Deutschland mit einer nach wie vor sehr hohen industriellen Wertschöpfung von über 20 Prozent und der digitale Pionier Estland könnten und können viele Dinge gemeinsam machen.

Das Interessante ist – das trifft sich mit den Diskussionen, die wir in Deutschland im Zusammenhang mit der digitalen Wertschöpfung im industriellen Bereich führen –, dass Estland durch die breite Anwendung sehr früh die Gefahren erkannt hat, denen eine IT-basierte Gesellschaft ausgesetzt ist. Deshalb ist das Thema Sicherheit hier von allergrößter Bedeutung. Es werden auch entsprechende Lösungen gefunden.

Deshalb ist es nicht von ungefähr so, dass seit 2008 das NATO Cyber Cooperative Defence Center of Excellence in Estland existiert. Dass wir es gestern besuchen konnten, war für mich eine sehr große Freude.

Wir haben als Staats- und Regierungschefs beim NATO-Gipfel in Warschau bekräftigt, dass wir die Bedrohungen für unsere IT-Systeme, für unsere Infrastruktur insgesamt sehr ernst nehmen. Ich will noch einmal aus dem NATO-Beschluss zitieren. Wir haben beschlossen sicherzustellen, dass „sich unsere Nationen im virtuellen Raum genauso gut verteidigen können wie in der Luft, auf dem Land und zur See“. Das ist ein hoher Anspruch, aber dem wollen wir auch genügen.

Das macht auch noch einmal deutlich, dass wir in jeder Gefahrenlage eng zusammenstehen. Das war das entscheidende Signal, das den Warschauer Gipfel geprägt hat. Es war ein Bekenntnis zur Solidarität, wie sie in Artikel fünf des NATO-Vertrages verankert ist. Gerade für Estland ist dies in seiner exponierten geografischen Lage ein sehr wichtiges Zeichen, nämlich die Sicherheit zu spüren, dass die Allianz sich nicht spalten lässt.

Deutschland leistet einen substantiellen Beitrag zur Rückversicherung des Baltikums. Beim Baltic Air Policing in Estland übernimmt die Bundeswehr gerade wieder für vier Monate Führungsverantwortung. Wir setzen uns weiter gemeinsam mit unseren Partnern für die Sicherheit Estlands ein. Mir persönlich ist dieses Bekenntnis zur Solidarität sehr wichtig.

Ich weiß, dass mein Besuch mit einem bedeutenden Jubiläum in Ihrem Land zusammenfällt. In diesen Tagen erinnert Estland an seinen großen historischen Erfolg, an die erneute Erringung seiner Freiheit und seiner Unabhängigkeit vor 25 Jahren. Wir haben uns vor 25 Jahren mit Ihnen gefreut. Zwei Jahre zuvor hatten die Menschen in Ostdeutschland das Glück, Freiheit zu erfahren. Ich bin ja eine von denen, die damals völlig neue Lebensmöglichkeiten bekommen haben. Das war für die Menschen hier in Estland auch so.

Die singende Revolution – wie sie genannt wurde und wird – steht für den unbändigen Freiheitswillen und den großen Mut der Menschen im Baltikum. Sie bleibt mit eindrücklichen Bildern verbunden. Die lange Menschenkette vom 23. August 1989 war ein solches Zeichen. Esten, Letten und Litauer gingen damals auf die Straßen, fassten einander an der Hand und bildeten auf diese Weise ein Band der Hoffnung und der Sehnsucht nach Freiheit quer durch das ganze Baltikum. Das Ereignis ging unter der Bezeichnung „Baltischer Weg“ in die Geschichte ein. Er war das unübersehbare Signal für das Streben nach Unabhängigkeit. Das wird auch in den Geschichtsbüchern erhalten bleiben.

Das Datum der Aktion hatte seinen Grund, denn der 23. August 1989 war der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts. Ein geheimes Zusatzprotokoll des Pakts sah vor, dass sich die Sowjetunion große Teile des baltischen Territoriums einverleiben konnte. Dass sich erst 1991 dieses Kapitel der Geschichte mit der wiedererlangten Unabhängigkeit der baltischen Staaten geschlossen hat, ist für Deutschland natürlich eine Mahnung – auch für seine Politik in der Zukunft und im Blick auf das, was wir Schreckliches in der Vergangenheit getan haben.

Deutschland hat damals binnen acht Tagen die diplomatischen Beziehungen mit Estland wiederhergestellt. Das war, muss man sagen, ein ziemlich schnelles Handeln des Auswärtigen Amtes und der ganzen Bundesregierung. Damit konnten wir natürlich das Unrecht nicht revidieren, das Ihr Land von deutscher Seite erfahren hat. Aber die rasche Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen war natürlich ein Zeichen: Wir wollen gute Partner sein.

So haben wir uns in den letzten 25 Jahren gegenseitig unterstützt. Deutschland hat Estland auf seinem Weg geholfen, gespeist aus den Erfahrungen der Geschichte, Lehren ziehend aus den grausamen Kapiteln des 20. Jahrhunderts, in denen unendlich viel Leid von Deutschland ausging, auch für die Menschen im Baltikum.

Nun gehören wir längst gemeinsam der europäischen und transatlantischen Familie an. Wir halten wie in einer guten Familie zusammen. Das gilt für gute genauso wie für schwierige Zeiten.

Ich glaube, niemand behauptet, dass die Situation für Europa im Augenblick einfach oder leicht ist. Wir erleben unmittelbar vor unserer Haustür Entwicklungen, die wir uns vor kurzem noch nicht vorstellen konnten. Ich jedenfalls konnte mir nicht vorstellen, dass Russland das Völkerrecht dermaßen missachtet und die Krim annektiert. Wer hätte damit gerechnet, dass Separatisten mit Moskaus Unterstützung den Osten der Ukraine dermaßen destabilisieren?

Mit den Flüchtlingen, die bei uns in Europa Schutz suchen, rücken auch die Krisen, vor denen sie im Nahen Osten und Nordafrika fliehen, immer näher an uns heran. Schreckliche Terroranschläge, wie wir sie in einigen der Mitgliedstaaten erlebt haben, zielen auf das Herz unserer freien Gesellschaft, auf unsere Art zu leben.

Zur selben Zeit findet ein neues globales Kräftemessen statt. Aufstrebende Wirtschaftsnationen zeigen, welche Potentiale in ihnen stecken.

All dies fordert uns in Europa in großem Maße heraus. Wir müssen entschlossen und geschlossen handeln. Wir brauchen einen europäischen Schulterschluss, um all die Herausforderungen zu bewältigen.

Deshalb sind Taavi und ich der Meinung, dass der Ausgang des britischen Referendums höchst bedauerlich ist. Es ist ein Einschnitt in die europäische Entwicklung, in die jahrzehntelange Erfolgsgeschichte europäischer Integration. Wir haben natürlich dieses Ergebnis zu respektieren. Aber wir müssen uns fragen: Was bedeutet das für uns anderen 27 Mitgliedstaaten? Sind wir stark genug, einen Schritt hin auf ein erfolgreicheres Europa, auf ein besseres Europa zu gehen?

Ich bin überzeugt, es kann uns gelingen, den Entschluss Großbritanniens zu verkraften. Aber dafür müssen wir hart arbeiten. Wir haben einen sogenannten Reflexionsprozess begonnen, also einen Prozess des Nachdenkens, um auszuloten: Wo müssen wir uns vor allen Dingen weiterentwickeln? Wo hindern uns bestehende Regelungen daran, erfolgreich zu sein?

Wir werden uns als 27 Mitgliedstaaten Mitte September in Bratislava treffen, noch nicht, um konkrete Entscheidungen zu treffen, aber um Themen zu definieren, bei denen wir uns voranbewegen müssen. Denn die Arbeitslosigkeit ist hoch, und wir entsprechen nicht dem, was die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 gesagt haben, dass Europa der dynamischste, der erfolgreichste, der wissensbasierteste Kontinent der Welt sein soll, sondern hier haben wir Nachholbedarf. In diesem Geist sollten wir diese Phase des Nachdenkens auch miteinander gestalten.

Das ist etwas sehr Normales. Auch Familien brauchen immer wieder Phasen, in denen man überlegt: Wie können wir etwas gemeinschaftlich tun? Wie können wir es besser machen? Ich hoffe, dass Europa diesen Mut, diese Tatkraft und auch den Teamgeist aufbringt, um erfolgreich zu sein.

Estland geht mit gutem Beispiel voran. Es hat sich aufgrund des britischen Rückzugs bereiterklärt, in der zweiten Jahreshälfte 2017 die EU-Ratspräsidentschaft zu übernehmen. Das ist ein halbes Jahr früher als geplant. Estland beweist damit Flexibilität – das ist sowieso eine estnische Stärke –, aber auch eine tiefe europäische Überzeugung.

Estland bringt vieles von dem ein, was die Voraussetzungen für Erfolg im 21. Jahrhundert sind: Estland wartet mit innovativen Ideen auf und gibt durch seine digitale Pionierarbeit anderen ein gutes Beispiel. Zugleich steht es zu den freiheitlichen Werten und handelt im Bewusstsein der Bedeutung, die die Europäische Union und das transatlantische Bündnis für uns alle haben.

Das sind starke verbindende Elemente. Deshalb sind wir gerne bereit, wenn es gewünscht wird, Estland bei der Vorbereitung der EU-Ratspräsidentschaft zu unterstützen. Wir müssen jetzt schauen – ich werde darauf achten, wenn ich wieder zurück in Deutschland bin –, dass das, was durch unsere Botschaft vorangebracht wird, nämlich die Kooperation im Bereich des Internets der Dinge, der Industrie 4.0 und der digitalen Fähigkeiten Estlands, auch konkrete Ausprägungen bekommt.

So werde ich Unternehmen ermutigen, sich von deutscher Seite stärker auf Estland zu konzentrieren. Aber ich werde auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Administration, in den Bundesministerien ermutigen, einmal den Showroom hier zu besuchen und sich etwas intensiver einzuarbeiten, als ich das jetzt konnte. Ich habe mir das alles angeschaut, damit wir von den digitalen Möglichkeiten der heutigen Zeit schrittweise auch so gut Gebrauch machen, wie das Estland heute bereits tut. Da kann man fast ein bisschen neidisch werden.

Herzlichen Dank, dass ich heute hier bei Ihnen sein darf.