Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutsch-Japanischen Wirtschaftsdialogforum am 5. Februar 2019 in Tokyo

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Sehr geehrter Herr Schürmann,
sehr geehrter Herr Kempf,
sehr geehrter Herr Nakanishi,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute hier dabei zu sein. Wir sind ja auch mit einer Wirtschaftsdelegation unter der Leitung von Herrn Staatssekretär Nussbaum nach Tokyo gekommen. Dass dies der Ausgangspunkt dieses Wirtschaftsforums und gestern auch eines Treffens mit Premierminister Shinzō Abe war, ist ein gutes Zeichen für die deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen insgesamt. Sie haben nun schon sehr stark gearbeitet; da ist es nicht ganz einfach, wenn man dann am Ende hinzukommt und noch irgendeine politische Rede hält. Ich darf sagen, dass das, was Sie in den zwei Panels erarbeitet haben, sicherlich sehr wichtig ist und dass wir sehr froh sind, dass das EU-Japan-Freihandelsabkommen abgeschlossen wurde.

Es ist ganz interessant: In Deutschland gab es gegenüber Freihandelsabkommen in einigen Teilen der Gesellschaft eigentlich eine ziemlich große Skepsis. Man hat das gemerkt beim Freihandelsabkommen mit Kanada und noch mehr in der Diskussion über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, das ja nicht fertigverhandelt wurde. Seitdem der neue amerikanische Präsident eine doch etwas robustere Handelspolitik betreibt und wir mehr über Zollauflagen als über eine Abschaffung von Zöllen reden, haben Freihandelsabkommen inzwischen Konjunktur und haben sich in den Augen unserer Gesellschaft in etwas Gutes gewandelt.

Ich finde es auch sehr beeindruckend, dass die japanische Regierung nach dem Ausscheiden der Vereinigten Staaten von Amerika aus der TPP einen Teil der TPP gerettet hat und damit auch noch einmal eine wichtige Handelszone geschaffen hat.

Wenn man sich das überlegt – der EU-Japan-Raum umfasst fast 600 Millionen Menschen mit fast 40 Prozent des globalen Handels –, dann weiß man auch: Es geht nicht um irgendein kleineres Abkommen, sondern wirklich um neue Chance in jede Richtung. Ich hoffe, dass wir damit auch Entwicklungen sehen, die wir bisher so nicht gesehen haben und die zu einer Intensivierung unseres Handels in beide Richtungen führen werden.

Es gab eine ganze Reihe von Sorgen auch der deutschen Wirtschaft auf dem Weg zu solchen Handelsabkommen. Das ist ganz normal, denn wir sind ja in einigen Bereichen auch Wettbewerber. Insgesamt hat sich dann aber herausgestellt – das war auch schon unsere Erfahrung mit dem Freihandelsabkommen mit Südkorea –, dass die Handelswege intensiver werden und man sich damit auch besser kennenlernt. Ich erwarte eine ähnliche Entwicklung auch vom EU-Handelsabkommen mit Japan.

Wir als Europäische Union werden durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union kleiner werden. Sie haben heute auch darüber geredet – mit Recht darüber geredet. Auf der einen Seite drängt die Zeit, um Sicherheit für die Wirtschaft zu schaffen. Ich verstehe das, was Herr Kempf gesagt hat – also dass das ein sehr unschöner Zustand ist, zumal wir innerhalb des europäischen Binnenmarkts hochvernetzte Produktionsmechanismen haben, die auf Just-in-time-Lieferung basieren und insofern langwierige Zollkontrollen und ungeregelte Vorgänge nicht ertragen können. Politisch gesehen ist auf der anderen Seite ja immer noch Zeit – zwei Monate sind zwar nicht lang, aber es ist einfach noch Zeit. Diese Zeit soll auch von allen Seiten genutzt werden. Aber dabei wäre es schon sehr wichtig zu wissen, was genau sich die britische Seite hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Europäischen Union vorstellt. Denn von der Zollunion bis hin zu sehr engen Handelsabkommen kann man sich natürlich alles vorstellen.

Die große Herausforderung besteht darin, dass Großbritannien uns mit seinem Austritt noch ein spezielles Problem mitbringt: Das ist das Problem der Situation zwischen Nordirland als Teil Großbritanniens und der Republik Irland als verbleibendem Mitglied der Europäischen Union. Dazwischen gibt es eine Grenze, die heute, da beide zum Binnenmarkt gehören, keine Grenze ist und nach Maßgabe des „Good Friday Agreements“ auch nach dem EU-Austritt Großbritanniens keine Grenze sein soll, aber bei Verlassen des Binnenmarkts natürlich eine Grenze werden muss. Diese komplizierte Sache erschwert den Austritt Großbritanniens im Vergleich zu jedem anderen Land sehr stark. Aber weil es ein so präzise zu beschreibendes Problem ist und weil Großbritannien ja auch aus der Europäischen Union austreten will, sollte man eigentlich für ein so präzise zu beschreibendes Problem nach menschlichem Ermessen auch eine Lösung finden. Diese Lösung hängt aber eben sehr ab von der Frage zu den zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur Europäischen Union und von der Art des Handelsabkommens, das wir miteinander schmieden.

Wir wollen – das will ich hier ausdrücklich hinterlassen – mit Großbritannien eng zusammenarbeiten – wirtschaftlich, außenpolitisch, sicherheitspolitisch, verteidigungspolitisch. Theresa May hat immer wieder betont: Großbritannien verlässt die Europäische Union, bleibt aber ein europäisches Land. Ich darf Ihnen auch berichten, dass in den letzten zwei Jahren, in denen wir uns ja sehr oft mit dem Verlassen der Europäischen Union durch Großbritannien befasst haben, in vielen Bereichen die Zusammenarbeit enger war als in vielen Jahren zuvor, in denen Großbritannien Mitglied der Europäischen Union war. Das heißt also, die Beziehungen sind eigentlich zum heutigen Zeitpunkt sehr, sehr gut. Und nach meiner Maßgabe sollen sie es auch bleiben.

Ich glaube, unsere beiden Länder haben sehr große Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Sie haben zum Teil gleiche Ausgangsbedingungen: Wir sind Demokratien, wir sind einigermaßen strukturiert organisiert, wir beide haben die Herausforderung des demografischen Wandels. Insofern gibt es eigentlich viele, viele Möglichkeiten der Kooperation. Wir sind herausgefordert sowohl durch die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika, wenn ich an die Hightech-Branchen, Digitalkonzerne und Plattformen denke, als auch durch China, das eben auch sehr affin in Richtung Plattformen und Big-Data-Management ist. Ich glaube, weder sind wir Länder, in denen, so wie in Amerika, der größte Teil der Daten dem privaten Bereich gehört, noch sind wir Länder wie China, wo alles der Staat bekommen soll. Das heißt also, auch die Frage von Datenethik und Datenschutz ist etwas, das beide Länder interessiert.

Deshalb bin ich auch sehr dankbar dafür, dass Shinzō Abe als Gastgeber des diesjährigen G20-Treffens diese Frage der Datenethik und des Umgangs mit Daten auf die Tagesordnung der G20 setzen will. Denn das sind ja Dinge, die wir letztendlich nur international gemeinsam voranbringen können. Wenn da jeder sein eigenes Süppchen kochen würde, dann würde das viel kaputt machen. Und wir merken ja auch: einzeln kommt man nicht allzu weit. Deshalb war es zum Beispiel sehr interessant, dass auch das Weltwirtschaftstreffen in Davos in diesem Jahr die Frage einer zukünftigen internationalen Ordnung in Zeiten der Digitalisierung auf die Tagesordnung gesetzt hat. Der japanische Premierminister hat dort gesagt, dass er genau dies in Osaka auch voranbringen will.

Damit bin ich bei einer weiteren Gemeinsamkeit unserer Länder: Wir versuchen, eine multilaterale Ordnung zu stärken und aufrechtzuerhalten. Wir wissen, dass bestimmte Institutionen wie zum Beispiel die WTO reformiert werden müssen. Wir wissen, dass die Reformen der internationalen Organisationen oft zu langsam vorankommen. Ich denke dabei zum Beispiel daran, wie lange es gedauert hat, zur neuen Quotenregulierung des IWF zu kommen. Die Weltbank hat es glücklicherweise geschafft, ihr Kapital aufzustocken. Aber die Gefahr, wenn sich diese Organisationen nicht schnell genug entwickeln und reformieren, ist natürlich, dass dann andere auch solche Institutionen gründen. Wenn die Weltbank etwas schneller ihr Kapital erhöht hätte, hätte es vielleicht die AIIB, die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank in China, gar nicht gegeben. Wenn die Quotenreformen auch in Zukunft nicht schnell genug geschehen, dann werden Parallelinstitutionen entstehen. Das kann eigentlich nicht in unserem Interesse sein.

Deshalb sollten wir die multilateralen Organisationen hegen und pflegen. Sie sind letztlich alle als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstanden – das gesamte UN-System und alles, was sich darum herum rankt. Dieses System steht heute unter Druck. Japan und Deutschland sind allerdings zwei Länder, die dieses multilaterale System weiter aufrechterhalten und entwickeln wollen.

Interessant ist, dass Sie sich auch mit dem Bereich der digitalen Landwirtschaft beschäftigt haben, der ja auch ein sehr wichtiger Bereich ist. Wir haben dafür jetzt auch erste Initiativen ergriffen. Unsere Landwirtschaftsministerin hat auf der Grünen Woche in Berlin mit 75 Landwirtschaftsministern ein digitales Forum entstehen lassen, um sich darüber auszutauschen, was man auf diesem Gebiet machen kann.

Wir haben natürlich großen Bedarf, mit Ihnen in den verschiedenen Bereichen über Plattformwirtschaft, künstliche Intelligenz und Big-Data-Management zu sprechen. Da bietet sich der Gesundheitsbereich auf jeden Fall an. Wir sind auch sehr interessiert an der japanischen Vorstellung der Gesellschaft 5.0, die ja sozusagen über die Industrie 4.0 hinaus auch das Leben des Menschen in der Gesellschaft in den Blick nimmt.

Worüber wir uns alle bzw. worüber wir uns in Deutschland – ich weiß nicht, wie es in Japan ist – sehr viele Gedanken machen, ist, wie wir angesichts der Entwicklung der Robotik und angesichts der Entwicklung der künstlichen Intelligenz unsere Bildungsarbeit richtig ausrichten und uns auf die Berufe der Zukunft ausreichend einstellen. Wir haben zum Beispiel einen riesigen Mangel an Fähigkeiten bei der künstlichen Intelligenz. Wir werden in Deutschland daher hundert neue Lehrstühle im Rahmen unserer KI-Strategie an den Universitäten ansiedeln. Wir erleben, dass die, die in der Entwicklung der künstlichen Intelligenz weiter vorne sind, uns mit Freude unsere Talente abwerben – zum Teil ist das auch geradezu ein Run zwischen den bestzahlenden Anbietern. Uns hierüber mit Japan auszutauschen, könnte auch von großem Interesse sein. Von deutscher Seite aus kann und darf ich Ihnen dieses Angebot jedenfalls machen.

Es gibt 450 Firmen aus Deutschland, die sich in Japan engagieren. Ich lade alle Vertreter der japanischen Unternehmen ein, sich auch in Deutschland heimisch zu fühlen. Wir sind ein offener Markt, wir brauchen Sie und wollen Sie. Und wo immer Sie gemeinschaftliche Projekte auch durch diesen Workshop entwickeln konnten, sei es sehr gewünscht.

Ich danke natürlich auch der Kammer, die wahrscheinlich so etwas wie ein Nukleus ist, um all diese Dinge zusammenzuhalten. Und ich danke auch der Botschaft, die auf ihre Art und Weise die deutsch-japanischen Bedingungen und Kooperationsmöglichkeiten stärkt.

Im Grunde liegt zwischen uns geografisch ein großes Land: Das ist Russland. Wir fliegen zehn Stunden lang darüber hinweg. Aber ansonsten sind wir fast Nachbarn, wenn auch mit etwas unterschiedlichen Blickwinkeln auf verschiedene Ozeane. Es gibt jedenfalls gute Gründe für uns, noch enger zusammenzuarbeiten.

Herzlichen Dank dafür, dass Sie das heute hier organisiert haben.