Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Verleihung des Europäischen Bürgerrechtspreises der Sinti und Roma am 28. April 2021 (Videokonferenz)

Sehr geehrter Herr Präsident Kiska,
sehr geehrter Herr Rose,
Herr Lautenschläger,
Frau Kappler,
meine Damen und Herren,

von Herzen danke ich Ihnen für die Auszeichnung mit dem Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma, die ich als große Ehre empfinde. Mein besonderer Dank gilt natürlich Ihnen, Herr Präsident Kiska, für Ihre freundlichen Worte.

Der Europäische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma ist weit mehr als eine persönliche Würdigung. Der Preis ist mit einer klaren Botschaft verbunden: Wir alle sind dazu aufgerufen, uns für Bürgerrechte und Chancengleichheit für Sinti und Roma starkzumachen; wir alle sind gefordert, uns gegen jede Form von Antiziganismus zu wenden – hierzulande und in ganz Europa. Das ist eigentlich selbstverständlich. Dass Gleichberechtigung und Gleichbehandlung trotzdem noch immer und immer wieder angemahnt werden müssen, wirft kein gutes Bild auf die Gesellschaften in Europa.

Tatsächlich ist die Lage vieler Sinti und Roma mitunter besorgniserregend. Auf dem westlichen Balkan etwa verfügen rund 90 Prozent der Roma über ein Einkommen unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Dort trifft auch die Coronakrise die Roma sehr hart. Und schon seit langem mangelt es gerade auch in dichtbevölkerten Siedlungen nicht selten am Zugang zu sauberem Wasser. Zusätzlich lässt auch der Zugang zu Schulbildung zu wünschen übrig. Dies erschwert in der Folge beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg. Das wiederum führt zu Ausgrenzung und Benachteiligung. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist alles andere als leicht.

Aber wir müssen nicht über die deutschen Landesgrenzen hinausblicken, um zu sehen, dass Sinti und Roma Diffamierung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Ich empfinde das als Schande für unser Land. Wir dürfen darüber nicht hinwegsehen.

Die Grundrechte und Grundwerte, die unsere Gesellschaft einen, sind unvereinbar mit antiziganistischen Auswüchsen aller Art. Das heißt, der Kampf gegen Antiziganismus ist nicht allein eine Aufgabe weniger, sondern eine Aufgabe aller. Ob in der Politik, den Medien oder der ganzen Gesellschaft – gemeinsam müssen wir Herabsetzungen und Anfeindungen gegen Sinti und Roma entschieden entgegentreten – am besten so, dass es erst gar nicht dazu kommt. Deshalb ist auch der Europäische Bürgerrechtspreis so wichtig. Dieser Preis ist kein Preis der Zufriedenheit über Erreichtes. Er ist vielmehr ein Preis, der wachrütteln soll.

Vorurteile und Ausgrenzung überwindet eine Gesellschaft nicht über Nacht. Dazu bedarf es vieler Schritte und, um im Wortbild zu bleiben, auch tatkräftiger Schrittmacher wie etwa Herrn Fabritius, der sich als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange nationaler Minderheiten einsetzt. Für politische Fragen haben wir seit einigen Jahren auch einen Ausschuss. Er bringt Vertreterinnen und Vertreter deutscher Sinti und Roma mit der Bundesregierung, mit Abgeordneten und Landesregierungen zusammen.

Erwähnen möchte ich auch den Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Noch im letzten Jahr haben wir dort einen Maßnahmenkatalog auch zur Bekämpfung von Antiziganismus verabschiedet. Vorgesehen sind unter anderem der Aufbau einer nationalen Kontaktstelle, eine Informationsstelle für rassistische und insbesondere antiziganistische Übergriffe und nicht zuletzt ein unabhängiges Monitoring.

Vor kurzem hat die Expertenkommission Antiziganismus ihren Bericht vorgelegt. Diesen Bericht werden wir Anfang Mai im Bundeskabinett besprechen und ihn dann an den Bundestag weiterleiten. Denn was wir brauchen, das ist eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte, um gegen Antiziganismus erfolgreich vorgehen zu können.

Ob in Deutschland oder anderswo in Europa – Sinti und Roma müssen am öffentlichen Leben ebenso selbstverständlich teilhaben können wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger ihres jeweiligen Heimatlandes. Daher unterstützt Deutschland die gesellschaftliche Integration der Roma auch auf dem westlichen Balkan mit Mitteln der Europäischen Zentralbank und des Stabilitätspakts für Südosteuropa. Im Übrigen ist es mit Blick auf die Wertegrundlage der Europäischen Union nur konsequent, dass auch bei den Beitrittsverhandlungen die Roma-Integration eine Rolle spielt.

So wichtig politisches Engagement auch ist, es braucht mehr, um Vorurteile auszuräumen und Ausgrenzungen vorzubeugen. Vor allem braucht es Begegnung und Dialog. Das sollte man nicht einfach dem Zufall überlassen. Gefragt sind aufgeschlossene Akteure, die Raum und Gelegenheit für gegenseitiges Kennen- und Verstehenlernen bieten, vorbildliche Akteure wie zum Beispiel TernYpe und die Grünbau gGmbH.

TernYpe, das Internationale Roma-Jugend-Netzwerk, vereint nicht nur verschiedene Roma-Jugendorganisationen in Europa, sondern fördert auch Begegnung, Vertrauen und Wertschätzung zwischen Roma- und Nicht-Roma-Jugendlichen.

Die Grünbau gGmbH steht jungen Menschen zur Seite, berät und fördert sie, damit sie ihren Platz im Berufsleben finden. Auch ruft Grünbau außerordentliche Aktionen ins Leben, wie die Spendensammlung für die große Roma-Siedlung in der bulgarischen Stadt Plovdiv. Die Spenden werden über den Roma-Jugend-Club vor Ort an Bedürftige weitergereicht, die unter den Folgen der Pandemie ganz besonders leiden.

Meine Damen und Herren, ich verstehe den Europäischen Bürgerrechtspreis als Aufforderung und Ansporn, für die Belange der Sinti und Roma weiter einzutreten. Wie jede gesellschaftliche Aufgabe kann auch diese nur in großer Gemeinsamkeit gelingen. Deswegen möchte ich das Preisgeld hälftig an TernYpe und Grünbau weitergeben, denn ihr Wirken – das ist für mich klar – ist vorbildlich und verdient deshalb auch Unterstützung. Nun freue ich mich darauf, noch mehr von den beiden Preisgeldempfängern zu hören.

Herzlichen Dank, lieber Herr Rose, lieber Herr Lautenschläger, dass Sie mir diesen Preis verliehen haben. Ich werde versuchen, mich als würdige Preisträgerin zu erweisen und mich in meiner Arbeit auch weiterhin für die uns allen so wichtigen Anliegen zu engagieren.