Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des virtuellen Forums der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2021 (Videokonferenz)

Sehr geehrter, lieber Herr Ischinger,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute bei diesem Forum dabei zu sein, das ja in verschiedener Hinsicht etwas ganz Außergewöhnliches ist – zunächst einmal mit Blick darauf, dass wir in einer Pandemie leben und dass es bisher noch nie notwendig war, anstelle eines physischen Treffens ein solches virtuelles Forum einzuberufen.

Ich will zunächst kurz auf meine Rede vor zwei Jahren zurückkommen, als ich mich auf Alexander von Humboldt berufen habe, der überzeugt war: „Alles ist Wechselwirkung.“ Damit hat er im Grunde schon vor Jahrhunderten darauf hingewiesen, dass das, was wir heute Multilateralismus nennen, nämlich Zusammenarbeit, die Grundlage unserer politischen Tätigkeit sein sollte. Ich denke, dass uns die vergangenen zwei Jahre einmal mehr vor Augen geführt haben, dass das Bekenntnis zum Multilateralismus wichtig und richtig ist.

Die Pandemiebekämpfung zeigt uns das in ganz besonderer Weise. Herr Tedros von der Weltgesundheitsorganisation ist vorhin hier aufgetreten und hat darauf hingewiesen: Wenn nicht alle Menschen geimpft werden, wenn das Virus nicht global besiegt ist, dann ist auch niemand von uns sicher, dann hat niemand die Chance, vor dem Virus wirklich in Sicherheit gebracht zu werden. Wir werden immer wieder Mutationen erleben. Deshalb ist die gleichmäßige und schnelle Versorgung aller Menschen auf der Welt sozusagen eine der Hauptaufgaben. Deutschland hat gerade bei der G7-Sitzung für den ACT-Accelerator und insbesondere für die Impffazilität COVAX zusätzlich 1,5 Milliarden Euro zugesagt. Das heißt, insgesamt haben wir Zusagen in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar für dieses Programm gemacht; und das aus Überzeugung.

Vor großen Herausforderungen wie bei der Pandemiebekämpfung stehen wir natürlich auch mit Blick auf das Klima und die Artenvielfalt, beim Kampf gegen den Terrorismus und – mit noch größerer Dringlichkeit als schon vorher – mit Blick auf die Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele, der SDG-Ziele, bis zum Jahr 2030. All das werden wir nur dann bewältigen und erreichen können, wenn wir unsere Kräfte in allen Bereichen bündeln und den Sicherheitsbegriff – das ist auf der Münchner Sicherheitskonferenz durch Sie, Herr Ischinger, schon vor einigen Jahren immer deutlicher geworden – als einen Begriff der vernetzten Sicherheit, der multidimensionalen Sicherheit verstehen.

Die Zeichen für Multilateralismus stehen in diesem Jahr sehr viel besser als vor zwei Jahren. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass Joe Biden Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika geworden ist. Seine Rede soeben wie auch die ersten Ankündigungen seiner Administration haben uns davon überzeugt, dass nicht nur gesprochen, sondern dass gehandelt wird. Die Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen, die Rückkehr in die Weltgesundheitsorganisation, das Mitwirken im UN-Menschenrechtsrat, die Verlängerung des New-START-Vertrags, auch die Bereitschaft, das Iran-Nuklearabkommen wieder in Gang zu setzen – all das sind wichtige Schritte hin zu mehr multilateraler Zusammenarbeit.

Ich kann nur unterstützen, dass demokratische Länder nicht nur über Freiheit und Werte sprechen, sondern auch Ergebnisse liefern und zu den Erfolgen auf der Welt beitragen. – In Deutschland gibt es das Sprichwort: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ – Das ist die Agenda, vor der wir jetzt stehen. Hierbei spielt die transatlantische Kooperation natürlich eine zentrale Rolle. Was heißt das für Deutschland als ein Land, das die transatlantische Partnerschaft immer unterstützt hat, und auch als Mitgliedstaat der Europäischen Union? – Das heißt, dass wir unser Engagement in allen Bereichen fortsetzen müssen. Wir müssen auch dort handeln, wo man sich anstrengen muss. Sich anzustrengen, das bedeutet manchmal auch, über den eigenen Schatten zu springen. Ich denke, da sind wir auch in den vergangenen Jahren einige gute Schritte vorangekommen.

2014 in Wales, als wir über das Zwei-Prozent-Ziel für die Verteidigungsausgaben gesprochen haben, haben wir uns dazu verpflichtet, in diese Richtung hin zu arbeiten. Ich kann sagen, dass wir in diesem Jahr bei 1,5 Prozent angekommen sind, nachdem wir 2014  1,1 Prozent Verteidigungsausgaben hatten. Wir fühlen uns dem Zwei-Prozent-Ziel natürlich weiterhin verpflichtet und werden auch weiter darauf hinarbeiten.

Aber es kommt natürlich auch darauf an, was wir in die transatlantische Partnerschaft einbringen. Ich darf darauf hinweisen, dass Deutschland seit 18 Jahren in Afghanistan an ganz entscheidender Stelle, im Norden Afghanistans, mit dabei ist, Stabilität zu sichern oder zu erzeugen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir jetzt eine Neubewertung des Friedensprozesses in Afghanistan durch die amerikanische Administration haben. Deutschland ist dazu bereit, auch länger in Afghanistan zu bleiben, wenn es der erfolgreichen Mission dient und wenn es uns in eine Position bringt, die auch den demokratischen, den friedliebenden Kräften in Afghanistan wirklich eine Chance gibt. Der Abzug darf nicht darin enden, dass die falschen Kräfte dort die Oberhand gewinnen.

Wir sind Rahmennation in Litauen. Wir sind im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus mit dabei. Wir sind im Irak engagiert.

Deutschland bekennt sich einerseits zur NATO als dem zentralen transatlantischen Pfeiler, andererseits aber auch zur europäischen Verteidigungspolitik. Für uns ergänzen sich die beiden Elemente. Sie stehen nicht gegeneinander, sondern sie ergänzen sich und gehören zusammen.

Es gibt in der Interessenlage der Europäischen Union natürlich Dinge, die für uns von ganz besonderer Wichtigkeit sind. Das ist zum Beispiel unser Engagement in Afrika oder die Zukunft Syriens. Wir müssen ja sehen: Hierbei geht es um Länder, die direkt vor der Haustür der Europäischen Union liegen und deren Entwicklung uns deshalb in ganz besonderer Weise tangiert. Deutschland hat sich in den letzten Jahren sehr viel stärker in Afrika engagiert, auch wenn wir sehen müssen, dass Frankreich hier die allermeisten Lasten trägt. Dennoch: Wir sind bei der UN-Mission MINUSMA und bei der europäischen Mission zur Ausbildung von Streitkräften in Mali und jetzt auch in Niger mit dabei. Wir unterstützen auch die G5-Sahel-Initiative. Und ich würde mich dafür einsetzen, mit den Vereinigten Staaten von Amerika noch einmal darüber zu sprechen, ob wir diesen Ländern im Kampf gegen den Terrorismus nicht dadurch helfen sollten, dass wir gemeinsam ein Kapitel-VII-Mandat der Vereinten Nationen beschließen, denn das würde diesen Ländern noch einmal sehr viel mehr Unterstützung und Hilfe im Zusammenhang mit ihrem wirklich schwierigen Kampf gegen den islamistischen Terrorismus geben. Das Verhältnis zu Afrika ist, glaube ich, von so strategischer Bedeutung, dass es auch ein wichtiges Thema in der transatlantischen Diskussion sein sollte. 

Ein Dreh- und Angelpunkt für die Befriedung des Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus ist auch die Frage: Wie entwickeln sich die Dinge in Libyen? Deutschland hat hierbei mehr diplomatische Verantwortung übernommen. Ich freue mich, dass der UN-Prozess einige Erfolge zeitigt. Wir dürfen da aber auch nicht blauäugig sein, denn die Gefahr, dass Libyen sozusagen Spielball von großen Stellvertretermächten wird und Libyen nicht wirklich den Libyern mit einer politischen Zukunft gehört, ist immer noch groß. Die Europäische Union setzt sich dafür ein, aber ich denke, auch transatlantisch sollten wir uns dafür einsetzen, dass Libyen und seine Zukunft den Libyern gehören.

Wir müssen auch den Verfassungsprozess für Syrien – ebenfalls durch die Vereinten Nationen geleitet – voranbringen, denn auch in Syrien wird es nur dann eine friedliche Lösung geben, wenn die vielen Menschen, die Syrien verlassen mussten, wieder eine politische Zukunft in ihrem Heimatland bekommen. 

Wir werden natürlich auch, was den JCPOA, das Nuklearabkommen mit dem Iran, anbelangt, sehr eng zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass diesem Abkommen eine Chance gegeben werden kann.

Die transatlantische Partnerschaft hat darüber hinaus zwei große Aufgaben, für die wir gemeinsame Strategien entwickeln müssen.

Das betrifft zum einen das Verhältnis zu Russland. Wir sind mit Blick auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine in den letzten Jahren nicht vorangekommen. Der Minsker Prozess ist zwar ein diplomatisches Mittel, aber die Fortschritte lassen zu wünschen übrig. Russland verwickelt immer wieder Mitgliedstaaten der Europäischen Union in hybride Auseinandersetzungen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir eine gemeinsame transatlantische Russland-Agenda entwickeln, die einerseits kooperative Angebote beinhaltet, auf der anderen Seite aber auch ganz klar die Unterschiede benennt. Ich kann dem amerikanischen Präsidenten hier nur zustimmen, was die Frage einer starken Europäischen Union betrifft: Daran arbeitet Russland zurzeit leider nicht.

Das Zweite und vielleicht noch Kompliziertere ist, dass wir eine gemeinsame Agenda gegenüber China entwickeln. China ist auf der einen Seite systemischer Wettbewerber. Auf der anderen Seite brauchen wir China für die Lösung globaler Probleme, etwa im Zusammenhang mit den Themen der Artenvielfalt oder des Klimaschutzes. China hat in den letzten Jahren eben auch an globaler Schlagkraft gewonnen. Dem müssen wir als transatlantisches Bündnis und als Demokratien der Welt dann auch etwas an Taten entgegensetzen. Deswegen ist es zum Beispiel hinsichtlich der Frage der Impfstofflieferung an Entwicklungsländer wichtig, dass jetzt nicht nur aus China und Russland Impfstoffe geliefert werden, sondern wir uns auch fragen: Wie können wir uns über COVAX und auch als multilaterale Gemeinschaft wie die G7 einsetzen, um das Impfen für Entwicklungsländer gerade auch in Afrika voranzubringen? 

Wir müssen außerdem multilaterale Organisationen wie die Weltbank, die Welthandelsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation und den Internationalen Währungsfonds wieder stärken. Überall dort, wo wir schwach waren und wo wir uns nicht schnell genug entscheiden konnten, Veränderungen oder Kapitalerhöhungen vorzunehmen, sind subsidiäre Strukturen oder andere Strukturen im asiatischen Raum, oft unter der Federführung Chinas, entstanden. Wir müssen dem auch etwas entgegensetzen und eben durch Taten überzeugen.

Es geht also darum, dass wir gemeinsam die strategischen Herausforderungen definieren. Ich glaube, die Agenda ist klar; und klar ist auch, dass wir gemeinsame Vorgehensweisen entwickeln müssen. Das bedeutet nicht immer Interessengleichheit – ich mache mir darüber keine Illusionen; man muss auch offen über die Differenzen sprechen. Aber vom Grundansatz, von der Wertebasis, von der Überzeugung, von der Demokratie und ihrer Handlungsfähigkeit her haben wir ein breites, gutes gemeinsames Fundament. Wir müssen zeigen, dass wir Länder nicht in Abhängigkeiten bringen wollen, sondern dass wir Länder von unserer Art, zu leben, und von unserer Art, Politik zu machen, überzeugen wollen. 

Die transatlantische Perspektive ist für mich der Kern dieser Bemühungen. Ich kann nur sagen: Es gibt sehr viel zu tun. Deutschland steht für ein neues Kapitel der transatlantischen Partnerschaft bereit. Und ich freue mich, das hier auf diesem Forum der Münchner Sicherheitskonferenz heute sagen zu dürfen.

Herzlichen Dank.