Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des BDEW-Kongresses am 1. Juni in Berlin

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Sehr geehrte Frau Dr. Wolff
sehr geehrte Frau Andreae,
sehr geehrte Damen und Herren,

„Reden heißt treffen“ haben Sie in Ihrer Einladung zu diesem Kongress gesagt. Ich freue mich, dass Kongresse wie dieser wieder möglich sind!

Vor einem Jahr ging das noch nicht. Damals haben Annalena Baerbock, Christian Lindner und ich Ihnen beim BDEW-Talk zur Energiepolitik online und ohne Publikum Rede und Antwort gestanden. Seitdem ist viel passiert: Annalena Baerbock, Christian Lindner und ich sehen uns jetzt öfter.

Vor allem aber hat sich die Welt in diesem vergangenen Jahr deutlich verändert. Wir erleben tektonische Verschiebungen im Zeitraffer. Zweieinhalb Jahre Pandemie haben tiefe Spuren hinterlassen – gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich. Sie werden uns noch lange beschäftigen. Erstmals seit den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts erleben wir ein Weniger an internationaler Verflechtung, ein Weniger an grenzüberschreitendem Austausch. Von De-Globalisierung ist die Rede.

Als seien diese Herausforderungen nicht genug, hat Russland im Februar einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen. Von einer Zeitenwende habe ich gesprochen. Putin will die Grenzen in Europa mit Gewalt verschieben. Er will zurück in eine Zeit, als große Mächte die Welt unter sich aufteilten. Das berührt uns unmittelbar. Denn damit steht unsere gesamte europäische und internationale Friedensordnung auf dem Spiel, die auf einem fundamentalen Prinzip gründet: auf der Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren.

Deshalb darf Russland nicht gewinnen, und deshalb unterstützen wir die Ukraine - gemeinsam mit der EU und unseren internationalen Partnern und Verbündeten. Wir liefern Waffen. Wir leisten humanitäre Hilfe, vor allem auch medizinische Hilfe. Wir sorgen dafür, dass die Ukraine zahlungsfähig bleibt in dieser dramatischen Lage, zusammen mit den anderen G7-Ländern, und wir kümmern uns um diejenigen, die zu uns fliehen ‑ darunter viele Frauen, Kinder und Ältere, auch Kranke und Pflegebedürftige ‑, damit sie bei uns gut ankommen und eine Perspektive erhalten. Und wir haben weitreichende Sanktionen verhängt, die Russlands Wirtschaft hart treffen, gerade auch im Energiebereich.

Klar ist: Dieser sinnlose Krieg in der Ukraine verändert die Sicherheitslage in Europa grundlegend. Er wird auch unser Land und unsere Volkswirtschaft verändern. Aber wem sage ich das hier im Raum? Sie alle wissen das sehr genau. Wir haben uns zu lange und zu einseitig auf Energielieferungen aus Russland verlassen. Der Krieg zeigt auf brutale Weise: Energiepolitik ist eben nicht nur eine Frage des Preises. Energiepolitik ist Sicherheitspolitik!

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Hamburger Bürgermeister vor einigen Jahren für ein Flüssiggas-Terminal in Norddeutschland geworben habe. Damals hieß es von vielen: Das bringt nichts, wirtschaftlich unrentabel. - Das mag gestimmt haben, wenn man Rentabilität nur in Euro und Cent bemisst. Heute ist der Maßstab ein grundlegend anderer.

Unser Ziel ist ganz klar: Wir müssen unabhängig werden von russischen Energieimporten - so schnell wie möglich, aber auch so sicher wie nötig. Wir müssen in der Lage sein, die Sanktionen, die wir verhängt haben und auch weiter verhängen, über einen längeren Zeitraum durchzuhalten. Es nützt niemandem, nicht der Ukraine und auch nicht uns selbst, wenn wir damit unseren Verbündeten und uns selbst mehr schaden als dem Aggressor. Deshalb geht es jetzt darum, die Abhängigkeit von russischen Energieimporten schnellstmöglich zu reduzieren und zu beenden, ohne dass wir dabei unsere Versorgungssicherheit aufs Spiel setzen. Bei Kohle ist der Lieferstopp ab Herbst bereits beschlossene Sache. Bei Öl und Gas arbeiten wir gemeinsam mit der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten daran, zügig unsere Abhängigkeit von Russland zu reduzieren und Alternativen aufzubauen, all dies auch mit Hilfe und dem Einsatz Ihrer Unternehmen. Und deshalb an dieser Stelle: Vielen Dank dafür!

Meine Damen und Herren, im Kern ist diese energiepolitische Zeitenwende eine Beschleunigung. Die Energiewende zu vollenden, unseren Industriesektor zu stärken und ihn zu dekarbonisieren, Mobilität zu verbessern und dabei klimaneutral zu machen, das waren von Beginn an Prioritäten der Bundesregierung. Wir wollen 2045 als erstes großes Industrieland klimaneutral werden, und zwar auf eine Art und Weise, die unser Leben besser und unsere Wirtschaft leistungsfähiger macht. Wir wollen 80 Prozent des Bruttostromverbrauchs bis 2030 aus erneuerbaren Energien beziehen. Und wir wollen 50 Prozent Wärme bis 2030 klimaneutral erzeugen.

„Jetzt erst recht“ lautet die Devise nach Russlands Angriff auf die Ukraine. Dazu müssen wir drei Dinge angehen:

Erstens: Versorgungssicherheit ist das oberste Gebot. Wir brauchen eine dauerhaft verlässliche Energieversorgung. Für uns als Industrieland ist das ohne Alternative. Erdgas bleibt die zentrale Brücke in die klimaneutrale Zukunft, auch wenn wir kurzfristig womöglich auf Kohle zurückgreifen müssen. Deshalb geht es jetzt darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit wir Alternativen zu russischen Importen zu bezahlbaren Preisen aufbauen. Dabei haben wir deutliche Fortschritte gemacht: Schwimmende Flüssiggasterminals werden kurzfristig zur Verfügung stehen. Mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz aktivieren wir die Errichtung der notwendigen Hafeninfrastrukturen und Anbindungsleitungen. Parallel wird an stationären LNG-Terminals, gearbeitet, um unsere Gasimporte zu diversifizieren. Und bei allem achten wir darauf, dass die neuen Terminals und Leitungen auch in Zukunft genutzt werden können, nämlich für Wasserstoff.

Aber natürlich muss das LNG-Gas irgendwo herkommen, wenn Europa die riesige Menge von mehr als 150 Milliarden Kubikmetern Pipelinegas ersetzen will, das bisher jährlich aus Russland kommt. Das geht entweder über einen massiven Verdrängungswettbewerb auf dem Weltmarkt. Im Ergebnis hieße das: weiter massiv steigende Preise und ganze Länder und Weltregionen, die sich Energie nicht mehr leisten könnten ‑ mit absehbar gravierenden Folgen. Oder aber wir bauen neue Lieferketten und Energiepartnerschaften auf, die perspektivisch auch für grünen Wasserstoff genutzt werden können. Letzteres ist aus meiner Sicht der richtige Weg.

Deshalb sind der Bundeswirtschaftsminister und ich mit zahlreichen Partnern weltweit im Gespräch. Erst letzte Woche habe ich zum Beispiel mit Partnern in Afrika Gespräche darüber geführt, wie wir dort den Aufbau einer Flüssiggas- und perspektivisch einer Wasserstoffinfrastruktur unterstützen können ‑ etwa über die Europäische Investitionsbank oder Fördermittel der KfW. Zusätzlich haben wir Möglichkeiten geschaffen, um im Falle einer Krisenlage schneller und umfassender auf Versorgungsengpässe reagieren zu können ‑ in der berechtigten Hoffnung, dass wir sie nicht nutzen müssen.

Auch auf europäischer Ebene wurden notwendige Weichen gestellt: Die EU-Kommission hat Mitte Mai ein umfangreiches Paket von Initiativen und Vorschlägen vorgelegt, die uns unabhängiger von russischen Importen machen sollen. Unsere Stärke als Europäische Union ist der Binnenmarkt und ist die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Das zeigt die aktuelle Situation sehr deutlich. Das haben wir auch gestern und vorgestern beim Europäischen Rat nochmals unterstrichen. Die Transformation unserer Energieversorgung ist kein nationales Projekt, sondern erfolgt eingebettet in eine europäische Energiewende.

Zweitens: Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigen. Es liegt in unserem überragenden öffentlichen Interesse, dass wir in den kommenden Jahren den Turbo bei der Energiewende einlegen. Jedes Windrad, das in Deutschland gebaut wird, jede Photovoltaik-Anlage leistet einen Beitrag, damit unsere Energieversorgung unabhängiger und nachhaltiger wird, sicher ist und bezahlbar bleibt.

Dabei ist unser Ziel, die vielen Bremsklötze beim Ausbau der erneuerbaren Energien, die sich Stück für Stück angesammelt haben, zu lösen. Mit dem Osterpaket haben wir dafür bereits wichtige Grundlagen geschaffen. Wir werden der Photovoltaik Schub geben, sodass bis 2030 über 200 Gigawatt Leistung installiert sein werden. Wir wollen endlich die Handbremse beim Ausbau der Windkraft an Land lösen. Bis 2030 wollen wir 115 Gigawatt installierte Leistung erreichen. Und bei Wind auf See wollen wir bis 2030 eine Erzeugungsleistung von 30 Gigawatt erreichen ‑ mehr als dreimal so viel wie heute.

Das alles ist auch nötig, wenn man beispielsweise bedenkt, dass allein ein Chemiestandort wie Ludwigshafen acht bis neun durchschnittliche Offshore-Windparks benötigt, um künftig mit Strom betrieben werden zu können. Deshalb habe ich erst Mitte Mai gemeinsam mit Ursula von der Leyen und meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden, Dänemark und Belgien in Esbjerg eine Initiative gestartet. Gemeinsam wollen wir aus dem Nordseewind so etwas wie ein riesiges Windkraftwerk machen. Ich finde, das ist wichtig und dringend nötig.

Allerdings wird uns der Ausbau der erneuerbaren Energie nur gelingen, wenn wir bei Planungs- und Genehmigungsprozessen deutlich besser werden. Langwierige Verfahren können wir uns schlicht nicht mehr leisten. Die aktuellen Vorschriften und Abläufe passen nicht zu der Aufgabe, die vor uns liegt: Wir brauchen klare Regelungen, beispielsweise beim Artenschutz, und Fortschritte bei der Akzeptanz vor Ort. Wir brauchen besser ausgestattete Behörden und Gerichte. Wir müssen 2 Prozent der Landesflächen für die Windenergie an Land reservieren. Und der Ausbau der Windkraft muss eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen werden.

Hinzu kommt ‑ davon wurde eben schon gesprochen ‑: Wir brauchen ein Stromnetz, das für die Bedürfnisse der klimaneutralen Zeit fit gemacht wird. Denn moderne, leistungsfähige und digitalisierte Übertragungs- und Verteilnetze sind das Rückgrat unserer Energieversorgung.

Zudem setzen wir jetzt den Rahmen, um den Markthochlauf für Wasserstoff zu forcieren. Dazu entwickeln wir die nationale Wasserstoffstrategie weiter; denn bis 2030 soll es in Deutschland 10 Gigawatt Elektrolyseleistung für die Erzeugung von grünem Wasserstoff geben. Wir werden außerdem Energiepartnerschaften ausbauen und mit Blick auf langfristig verlässliche Lieferländer priorisieren.

Vor allem aber werden wir Märkte für Wasserstoff und grüne Produkte entwickeln, und dazu gehört auch ein vernünftiger regulatorischer Rahmen. Dafür werden wir sorgen, und zwar ‑ auch mit Blick auf manche Überlegung auf europäischer und nationaler Ebene ‑ möglichst unbürokratisch. Dazu werden wir, wo nötig, Wasserstofftechnologien finanziell unterstützen. Aber wir setzen vor allem auf einen marktgetriebenen Ausbau und wollen Anreize für private Investitionen schaffen.

Wer also gute, zukunftssichere Investments sucht, auch für die Mittel aus den großen Konjunkturprogrammen der Corona-Pandemie: Hier sind die Möglichkeiten, meine Damen und Herren!

Drittens: Das Ganze muss bezahlbar bleiben. Die Energiepreise sind in Deutschland bereits seit einiger Zeit hoch, insbesondere der Strompreis. Der russische Angriffskrieg, die weltweiten Konjunkturprogramme und die gestiegene Nachfrage in den Volkswirtschaften des globalen Südens treiben die Preise zusätzlich in die Höhe. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist das schon jetzt schwierig. Sie merken das Tag für Tag: an der Zapfsäule, beim Einkaufen, an gestiegenen Kosten für Strom und Gas. Wir müssen verhindern, dass das Heizen der Wohnung und das Anstellen der Waschmaschine zum Luxus werden. Bezahlbare Energie ist und bleibt der Antrieb einer modernen Gesellschaft.

Das gilt auch für die Wirtschaft. Gerade energieintensive Unternehmen sind teils schon gezwungen, die Produktion zurückzufahren oder einzustellen, weil die Kosten explodieren. Ich weiß, auch bei den großen Energiekonzernen, den Stadtwerken und den kleineren Versorgern ist die Lage angespannt. Höhere Beschaffungskosten haben nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit von Produktion und Lieferketten. Sie beeinflussen auch ihren Kapitalbedarf und die Liquidität.

Der Staat kann die externen Schocks nicht einfach beseitigen, die zum Preisanstieg führen. Aber er kann die Unternehmen unterstützen, und das tun wir. Wir haben deshalb bereits zwei Entlastungspakete im Umfang von weit über 30 Milliarden Euro aufgelegt, die in den kommenden Wochen und Monaten greifen. Sie alle kennen die Elemente: die Abschaffung der EEG-Umlage schon zum 1. Juli; Zuschüsse und steuerliche Entlastungen vor allem für Gering- und Normalverdiener, auch an der Zapfsäule; Anreize zum Umstieg auf den ÖPNV; und ein Schutzschirm, um Unternehmen bei Bedarf mit Bürgschaften oder KfW-Krediten unter die Arme zu greifen.

Meine Damen und Herren, wir werden ganz unabhängig von all den Dingen, die wir jetzt schon gemacht haben, diese Entwicklung weiter im Blick haben müssen. Deshalb bin ich auch fest davon überzeugt, dass wir nicht Halt machen dürfen, sondern dass wir weiter zusammenarbeiten müssen. Ich habe deshalb heute im Deutschen Bundestag gesagt: Ich werde etwas wiederbeleben, das es in den endenden 60er- und beginnenden 70er-Jahren schon einmal gegeben hat. Und das auch bei der Entwicklung der Energiepreise eine Rolle gespielt hat und wichtig war - nämlich die konzertierte Aktion, in der Arbeitgeber, Gewerkschaften, der Staat und viele andere Verantwortliche miteinander darüber reden: Wie kriegen wir es als Gesellschaft gemeinsam hin, diese Herausforderung zu bewältigen? Und das werden wir jetzt schnell machen.

Meine Damen und Herren, es gibt Jahre, in denen passiert erstaunlich wenig. Und dann gibt es welche, in denen verändert sich die Welt grundlegend. Meine Prognose ist: 2022 wird so ein Jahr. Das sucht man sich nicht aus. Aber es ist dann Aufgabe für alle, die in der Verantwortung stehen, das zu tun, was notwendig ist.

Für uns bedeutet das: unseren Beitrag leisten, damit der Krieg beendet wird und die Ukrainerinnen und Ukrainer in Frieden leben können; unabhängig von Russland zu werden, ohne dass es hier zu drastischen ökonomischen und sozialen Verwerfungen kommt; und die Transformation zur Klimaneutralität noch schneller, noch entschlossener, noch geeinter anzugehen, damit Deutschland und Europa gestärkt aus ihr hervorgehen und wir künftigen Generationen einen lebenswerten Planeten erhalten. Das geht nur als „Wir“. Das geht nur gemeinsam, mit Ihnen in der Energiewirtschaft.

Schönen Dank!