Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und der Präsidentin des Europäischen Parlaments, Metsola am 22. März 2022 in Berlin

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BK Scholz: Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Roberta Metsola heute zu ihrem ersten Besuch als Präsidentin des Europäischen Parlaments in Berlin begrüßen zu können. Wir haben uns ja vorletzte Woche in Versailles beim informellen Europäischen Rat schon ausführlich unterhalten können und werden uns schon am Donnerstag in Brüssel wiedersehen.

Europa und die Welt haben sich durch den Angriff Russlands auf die Ukraine verändert. Dabei ist und bleibt Europa unser wichtigstes Friedensprojekt. Unsere europäische Einigkeit war gerade in den letzten Wochen entscheidend und bleibt es weiterhin. Auch die enge Abstimmung mit unseren internationalen Partnern ist in diesen Zeiten zentral. Deshalb habe ich für Donnerstag vor dem Europäischen Rat zu einem Treffen der G7-Staats- und Regierungschefs in Brüssel eingeladen.

Für Europa gilt: Wir erreichen nur dann etwas, wenn wir alle ‑ die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten im Rat ‑ auch weiterhin an einem Strang ziehen. Wir haben uns als Europäische Union viel vorgenommen, und dies erfordert ein enges Zusammenwirken der beiden Co-Gesetzgeber Rat und Europäisches Parlament. Deshalb freut es mich sehr, die EP-Präsidentin heute hier in Berlin zu begrüßen. Roberta Metsola und ich wollen uns eng abstimmen.

Wir werden natürlich über die vielschichtigen Herausforderungen sprechen, vor denen wir in der Europäischen Union und natürlich weit darüber hinaus durch den russischen Angriff auf die Ukraine stehen. Lassen Sie mich noch einmal unmissverständlich betonen: Wir fordern Staatspräsident Putin auf, die Kampfhandlungen umgehend einzustellen und seine Invasionstruppen aus dem Land zurückzuziehen. Ein Waffenstillstand ist angesichts des unfassbaren Leids und der Zerstörung dringend erforderlich.

Es wird in unserem Gespräch auch darum gehen, wie wir die Ukraine unterstützen können. Die Menschen dort stellen sich mutig dem Aggressor entgegen. Zu unserer Unterstützung gehört, dass wir uns um die humanitäre Notlage dieser Menschen und um die Kriegsflüchtlinge kümmern, von denen viele bereits bei uns in der Europäischen Union aufgenommen wurden. Dabei werden wir uns als EU-Mitgliedstaaten noch besser koordinieren und auch den anderen Nachbarstaaten der EU noch mehr helfen müssen. Außerdem werden wir uns darüber austauschen, wie wir die EU souveräner und resilienter gestalten, um die Bürgerinnen und Bürger Europas besser zu schützen.

Diese Fragen werden auch im Mittelpunkt der Beratungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Rates am Donnerstag und Frankreich stehen; denn der Krieg in der Ukraine bedeutet eine Zeitenwende ‑ auch für die Europäische Union. Das bedeutet, dass wir als Europäische Union in Energiefragen schneller unabhängig werden müssen. Das ist das gemeinsame Verständnis aller Institutionen und Mitgliedstaaten. Das „Fit-for-55“-Paket ist auch in dieser Hinsicht ein strategisch wichtiges Anliegen, das wir mit Ehrgeiz vorantreiben wollen. Hier weiß ich das Europäische Parlament an unserer Seite.

Eine konkrete Beschwernis für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen in der Europäischen Union sind die gestiegenen Energiepreise. Das höre ich auch in meinen Gesprächen mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus anderen EU-Staaten und in meinem Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat.

Für ein handlungsfähiges Europa müssen und wollen wir auch bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit und bei der Konferenz zur Zukunft Europas eng mit dem Europäischen Parlament zusammenarbeiten. Gerade der Angriffskrieg Russlands zeigt, wie wichtig es ist, unsere Werte nach innen und außen zu schützen. Die Zukunftskonferenz ist nur ein Weg, um die Bürgerinnen und Bürger in die Diskussion über die Weiterentwicklung Europas einzubeziehen; sie kann auch ein wichtiger Rahmen sein, um konkrete Anstöße für Fortschritte in der Europäischen Union zu geben. Hier bin ich auf die Perspektive von Roberta Metsola gespannt. ‑ Und ich freue mich sehr auf unseren Austausch.

P'in Metsola: Guten Tag! Vielen Dank, Herr Bundeskanzler, lieber Olaf ‑ danke für die freundlichen Worte und für den Empfang heute hier.

Als größtes Mitgliedsland der EU hat Deutschland eine besonders wichtige Rolle bei unserer gemeinsamen Gestaltung der europäischen Politik einzunehmen, und ich bin sehr zuversichtlich, dass Ihre Regierung weiterhin konstruktiv und proeuropäisch vorangehen wird. Dafür steht Deutschland ja auch in Europa.

Ich hatte heute bereits die Freude, mich mit Präsident Steinmeier auszutauschen und die Vizepräsidentin des Bundestages Katrin Göring-Eckardt sowie Außenministerin Annalena Baerbock zu treffen, und wir haben die Themen, die Sie eben angesprochen haben, auch in diesen Treffen besprochen.

Der Krieg in der Ukraine bzw. Russlands ungerechtfertigte Invasion der Ukraine hat alles geändert. Putin hat den Frieden in Europa zerstört ‑ etwas, das für uns noch vor wenigen Wochen unvorstellbar war. Als Europäische Union haben wir starke Maßnahmen schnell ergriffen, wir haben nie dagewesene Sanktionen ergriffen. Das ist der richtige Ansatz, aber wir können noch mehr machen. Europa muss Putin und seinen Oligarchen zeigen, dass dieser Krieg einen riesigen Preis haben wird, den er sich gar nicht vorstellen kann.

Lassen Sie mich hier noch einmal betonen, dass das Europäische Parlament für die Zusammenarbeit im Bereich der Konferenz zur Zukunft Europas und auch bei unseren ambitionierten Klimazielen steht. Wir haben da eine große gesetzgeberische Agenda für die nächsten zweieinhalb Jahre im Europäischen Parlament.

Heute möchte ich mich auf ein ebenso wichtiges Thema konzentrieren. Sie haben schon die 3,5 Millionen Ukrainer angesprochen, die aus ihrem Land fliehen mussten. Das ist die größte Flüchtlingsbewegung, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Vor allem Frauen und Kinder fliehen. Sie werden aufgenommen von normalen Bürgern, von Gemeinden vor Ort. Es gibt Bürgermeister in Polen, in der Slowakei, in Rumänien, in Moldau und in Deutschland ‑ überall haben die Menschen ihre Häuser für die Flüchtlinge geöffnet, haben ihre Herzen für unsere Miteuropäerinnen geöffnet. Das zeigt, wofür wir in Europa stehen.

Es ist jetzt an der Zeit, dass wir noch mehr tun, um Unterstützung zu leisten. Solche Zeiten gab es noch nie, wir brauchen also auch neuartige Reaktionen darauf. Ich denke, das werden wir in unserem Treffen noch weiter besprechen, aber auch in den kommenden Tagen in Ihren Gesprächen und beim Europäischen Rat. Die Richtlinie des Rates ist ein guter Anfang, aber wir müssen uns organisieren und sicherstellen, dass es uns gelingen wird, eine Lage zu bewältigen, in der die Menschen weiterhin aus dieser willkürlichen Zerstörung von Putin fliehen.

Die Europäische Union ist stark. Das haben wir auch bei der Flüchtlingsbewegung 2015 gesehen. Wir können das leisten, und wir werden das leisten.

Ich freue mich auf den Austausch.

Frage: Herr Bundeskanzler, Polen hat heute offiziell vorgeschlagen, Russland aus dem G20-Rahmen und auch aus der WTO auszuschließen. Was ist die deutsche Position? Es stehen ja schon bald Treffen an, dann unter indonesischem Vorsitz. Wird man sich mit Russland an einen Tisch setzen, oder befürwortet man, dass Russland wegen des Krieges in der Ukraine nicht mehr mitmachen darf?

Frau Präsidentin, das Europäische Parlament war ja immer Treiber auch der Nationalstaaten gewesen. Ist das bei der Sanktionsfrage genauso?

Ein besonderer Punkt: Ist es bei der Beschlagnahme von Oligarchenvermögen genauso? Denn verschiedene Länder in Europa haben dabei verschiedene Herangehensweisen.

BK Scholz: Der Angriff Russland auf die Ukraine hat Konsequenzen für Russland selbst. Wir haben eine ganze Reihe von Sanktionen auf den Weg gebracht. Wir haben auch eine ganze Reihe von Entscheidungen im Hinblick auf die Mitarbeitsmöglichkeit oder die Mitgliedschaft in internationalen Institutionen getroffen. Das bemerkenswerteste Ereignis in diesem Zusammenhang ist sicherlich die Entscheidung der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die den russischen Angriff massiv verurteilt hat. Es hat nur sehr wenige Unterstützer der russischen Position gegeben.

Im Hinblick auf die Frage, wie es weitergeht mit der Welthandelsorganisation und der G20 ist es aber geboten, diese Frage mit den Ländern zu erörtern, die daran beteiligt sind, und das nicht einzeln und individuell zu entscheiden.

Ganz klar ist: Wir sind im Augenblick mit etwas anderem beschäftigt als zu solchen Treffen zusammenzukommen. Wir brauchen jetzt erst einmal direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die über das hinausgehen, was wir heute haben. Sie wissen, dass sich der ukrainische Präsident dringend wünscht, dass es direkte Verhandlungen zwischen ihm und Putin gibt. Wir alle brauchen sofort einen Waffenstillstand, den Rückzug der Invasoren und die Möglichkeit, miteinander über einen Friedensschluss zu verhandeln.

P’in Metsola: Vielen Dank. Ich kann bestätigen, dass das Europäische Parlament weiterhin dieser Motor sein wird. Wir haben bei der Verurteilung von Putins Aktion eine Einheit im Europäischen Parlament gesehen, wie wir sie so noch nie gesehen hatten. Das Europäische Parlament hat alle Ressourcen zur Verfügung gestellt, alle Hilfe den Kollegen bereitgestellt, die nicht nur im ukrainischen Parlament, sondern auch in anderen Ländern ganz besonders den Krieg für Europa hier kämpfen.

Die Europäische Union sieht hier einen Krieg, und das Europäische Parlament wird weiterhin darauf hinarbeiten, dass es klare und konkrete Maßnahmen geben wird, damit dieser Krieg endet und damit unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde wissen, dass Europa und auch das Europäische Parlament an ihrer Seite stehen.

Frage: Herr Bundeskanzler, beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag könnte auch noch einmal die Forderung eines Energieembargos gegen Russland auf den Tisch kommen. Sie haben das bisher sehr klar ausgeschlossen. Können Sie sich als Kompromiss vorstellen, dass man die Einfuhr von Kohle und Öl stoppt?

Frau Präsidentin, wie stehen Sie zu einem Energieembargo gegen Russland? Finden Sie, dass der EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag darüber noch einmal beraten sollte?

BK Scholz: Wir beide haben schon betont, dass Europa zusammen mit seinen Freunden die härtesten Sanktionen auf den Weg gebracht hat, die jemals gegen ein so großes Land auf den Weg gebracht worden sind. Sie zeigen ihre Wirkung. Man merkt es an der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands. Es wird jeden Tag noch dramatischer werden, weil wir sie lange, sorgfältig und sehr präzise vorbereitet haben.

Zu den Vorbereitungshandlungen gehörte, sich Instrumente zu überlegen, die diesen Effekt auf den Aggressor haben, die aber gleichzeitig im Hinblick auf die Rückwirkung auf die volkswirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten auch verkraftbar sind. Denn wir müssen ja sehr klar sein. Es kann sein, dass es sich nicht um eine kurze Angelegenheit handelt, sondern um eine längere Auseinandersetzung. Dann müssen wir alle gemeinsam das durchhalten.

Deshalb ist die Position der Bundesrepublik Deutschland zu dieser Frage unverändert. Im Übrigen gilt das auch für viele, viele andere Mitgliedsstaaten, die sehr abhängig von Importen von Kohle, Gas und Öl sind, noch viel mehr als Deutschland. Niemanden darf man in dieser Hinsicht im Regen stehen lassen.

Was wir aber entschieden haben, ist, uns so schnell wie möglich unabhängig von den Importen von Kohle, Gas und Öl aus Russland zu machen. Daran wird mit höchster Geschwindigkeit und größter Intensität gearbeitet. Wenn es gelingt, diese Diversifizierung sehr schnell zustande zu bringen, dann ergibt sich dieser Effekt quasi automatisch. In manchen Fällen sind allerdings noch ein paar sehr intensive Bauarbeiten und natürlich Vertragsschlüsse, die weltweit zustande kommen müssen, nötig. Aber daran wird überall und auch gemeinsam in Europa intensiv gearbeitet.

P’in Metsola: Vielen Dank. Aufbauend auf den letzten Bemerkungen des Bundeskanzlers, will ich sagen: Zunächst einmal haben die Sanktionen Russland sehr hart getroffen. Die Sanktionen sind auch wirklich immer weiter eskaliert, wie auch Putin seine Invasion immer weiter eskaliert hat.

Die Position des Europäischen Parlamentes war von Anfang an klar. Wir müssen vollkommen unabhängig von Russland werden. Das ist letztendlich das Ziel. Wir müssen unsere Energie von Freunden kaufen und nicht von Feinden. Denn letzten Endes bezahlen wir diesen Krieg damit ja auch jeden Tag.

Dabei muss man bedenken, dass wir uns anschauen müssen, welche Mitgliedsstaaten zu einhundert Prozent von Russland abhängen, auch was die Gasperspektive angeht, nicht alle Mitgliedsstaaten. Aber es gibt auch Länder in der Region, die nie da gewesene Flüchtlingsbewegungen sehen, die in ihr Land kommen, und die auch nicht in der Lage sind, heute unabhängig von Russland zu sein.

Da müssen wir als Europäische Union also ansetzen. Es ist jetzt an der Zeit, dass wir eine Führungsrolle einnehmen. Ich denke, wenn wir uns unsere Klimaziele anschauen und auch die Gesetzgebung, die vor uns liegt, dann reden wir gar nicht mehr länger über die grüne Agenda, die nur aus Umweltperspektive oder aus Klimaperspektive gesehen wird, sondern wir sehen das ganze jetzt auch aus einer Sicherheitsperspektive. Das tun wir; das machen wir, und das kombinieren wir mit unseren dauerhaften Bemühungen auch im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas. Unsere strategische Unabhängigkeit als Union gemeinsam mit allen Mitgliedsstaaten wird dann wirklich einen Unterschied machen. Jetzt ist es an der Zeit, genau das zu tun.