Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel zum EU-Westbalkan-Gipfeltreffel am 6. Oktober 2021

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, es hat etwas länger gedauert, was darauf hindeutet, dass wir durchaus intensiv diskutiert haben.

Ich möchte mich zuerst bei den Gastgebern, bei dem Ministerpräsidenten Janez Janša für diese Initiative bedanken, diesen informellen Gipfel für die Kooperation mit den Staaten des westlichen Balkans durchzuführen. Slowenien hat sehr intensiv daran gearbeitet, dass wir hier möglichst gute Ergebnisse erzielen.

Bevor wir aber über dieses Thema sprechen konnten, haben wir gestern Abend miteinander über die Beziehungen der Europäischen Union zu anderen Bereichen der Welt diskutiert - China, Indopazifik, Vereinigte Staaten von Amerika -, ebenso über unsere Beziehungen der Verteidigung und Sicherheit, auch zur Nato. Das war auch eine sehr spannende Diskussion, die noch fortgesetzt wird und dann in verschiedene Dokumente münden wird, zum Beispiel ein EU-Nato-Dokument, das bis Dezember fertiggestellt werden soll und bis Juni 2022 vor dem Nato-Gipfel verabschiedet werden soll.

Heute ging es also um die Region des westlichen Balkans. Wichtig ist, dass wir noch einmal betont haben, dass wir uns verpflichtet sehen, diesen sechs Balkanstaaten eine Beitrittsperspektive zu geben, dass sie also Teil der Europäischen Union sein werden. Das ist unser fester politischer Wille. Das ist hier auch von allen heute deutlich gesagt worden.

Es geht hierbei nicht darum, dass wir den Ländern des westlichen Balkans einen Gefallen tun, sondern es ist nach meiner festen Überzeugung im Kerninteresse der Europäischen Union, was unsere Sicherheit, unseren friedlichen Weg anbelangt und was unsere Prosperität anbelangt.

Wir haben dann natürlich die verschiedenen Aspekte miteinander diskutiert. Hier ist von allen gewürdigt worden, dass neben dem Beitrittsprozess, in dem zwei Länder, Montenegro und Serbien, bereits Beitrittsverhandlungen führen, zwei Länder auf die Beitrittskonferenz, die Eröffnungskonferenz warten, Albanien und Nordmazedonien, und zwei Länder noch gar keinen Antrag gestellt haben. Wir haben also eine sehr unterschiedliche Situation.

Da sind wir die verschiedenen Problemkreise durchgegangen. Hier ist deutlich geworden, dass der nächste Schritt, der getan werden muss, die Übereinkunft zwischen Bulgarien und Nordmazedonien sein muss, damit auch Bulgarien zustimmen kann, dass die Beitrittseröffnungskonferenz stattfindet. Wir haben in verschiedenen Kleineren Runden heute auch darüber gesprochen. Ich hoffe, dass man die Probleme überwinden kann. Sie wissen, dass Bulgarien in den nächsten Tagen wählen wird, sowohl das Parlament als auch den neuen Präsidenten, sodass in diesem Kontext jetzt nicht sofort Entscheidungen möglich sind.

Wir haben dann darüber gesprochen, dass ergänzend zu den Beitrittsfragen auch der sogenannte Berliner Prozess eine Rolle spielt und sich auf die Kooperation der sechs Staaten untereinander sehr positiv ausgewirkt hat. Das neueste Projekt ist das Projekt des gemeinsamen regionalen Marktes. Hier haben noch nicht alle Länder alle Teile vereinbart, aber wir haben heute gerade mit Serbien und Kosovo noch einmal über die Lösung der noch anstehenden Probleme gesprochen. Es ist sicherlich unterschiedlich schwierig, aber es gibt auch hier leichte Fortschritte.

Eines ist klar: Der gesamte Beitrittsprozess dauert jetzt bereits zwei Jahrzehnte; darauf ist heute schon gewiesen worden. Wir haben einiges erreicht, aber es liegt noch sehr viel vor uns. Dieser informelle Gipfel war wichtig, weil er noch einmal betont hat: Trotz all der Schwierigkeiten sind wir uns einig, dass diese Länder zur Europäischen Union gehören und dass wir mit viel Elan daran arbeiten müssen, weil nur dies Stabilität und Frieden auch für die gesamte Europäische Union in der längeren Frist sicherstellt.

Wir waren uns auch einig, dass man natürlich auf uns schaut, wenn man auf die Europäische Union schaut. Wenn wir uns über den Indopazifik, Russland oder die Vereinigten Staaten von Amerika besprechen und die Probleme vor unserer eigenen Haustür nicht richtig lösen können, dann hat das natürlich auch etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun. Deshalb ist die Frage, wie wir mit dem westlichen Balkan umgehen, eine sehr entscheidende. – So weit von meiner Seite als Ergebnis der Gespräche.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, was würde sich denn aus Ihrer Sicht für die Europäische Union verbessern, wenn sie noch sechs weitere Staaten des Westbalkans aufnehmen würde?

Die zweite Frage: Welche Chancen räumen Sie Armin Laschet ein, jetzt noch Kanzler zu werden?

BK’in Merkel: Zu der zweiten Frage sind ja heute von SPD, FDP und den Grünen Entscheidungen getroffen worden, dass sie Gespräche zu einer Ampelkoalition aufnehmen werden. Armin Laschet hat deutlich gemacht, dass die CDU für Gespräche zur Verfügung steht, aber die CDU nicht das beste Stimmenergebnis hat. Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.

Zweitens: Viktor Orbán hat darauf hingewiesen, dass gemessen am Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union die sechs Balkanstaaten weniger als 1 Prozent ausmachen. Das heißt, dass die Integration im Sinne der ökonomischen Fragen nicht das große Problem ist. Umso wichtiger ist die Integration aber mit Blick auf die sicherheits- und geostrategischen Interessen. Wenn man sich einmal die Landkarte anschaut, dann sieht man, dass man zum Beispiel in Migrationsfragen immer auf Zusammenarbeit dieser Länder angewiesen sein wird: Griechenland, dann die Länder des westlichen Balkans, dann Bulgarien, Rumänien und dann wieder Ungarn. Das heißt, es spricht alles dafür, dieses Gebiet auch in das Gebiet der Europäischen Union zu integrieren - natürlich auf der Basis der sonstigen Kriterien, also Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und vielem anderen mehr. Es gibt also ein immenses geostrategisches Interesse daran, diese Länder zu Mitgliedern der Europäischen Union zu machen, wenn wir ein Gebilde sein wollen, das sich auch mit Sicherheitsfragen und mit Fragen der Verteidigung beschäftigt.

Das andere ist eine Aufgabe, die ökonomisch nicht so schwierig ist wie zum Beispiel die Integration großer Länder wie Polen oder ähnliches. Das muss man sich immer wieder vor Augen halten. Wir haben hier jetzt also nicht einen Erweiterungsschritt von gigantischem wirtschaftlichen Ausmaß.

Frage: Frau Bundeskanzler, noch einmal eine Frage zu den außenpolitischen Themen, die Sie diskutiert haben, speziell zu Gasimporten und Nord Stream 2. Es deutet sich ja an, dass Russland Gaslieferungen über die Ukraine sozusagen nicht zusätzlich bucht, und es wird von Experten darauf hingewiesen, dass das ein Druckmittel sein könnte, um die baldige Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erzwingen. Glauben Sie, dass Russland gerade tatsächlich auf unsere Kosten Machtpolitik mit Gas betreibt?

Gab es schon Gespräche mit den Amerikanern und den Russen darüber? Sie hatten den Amerikanern ja zugesichert, dass es Reaktionen geben werde, falls Russland sich missbräuchlich verhalten sollte.

BK’in Merkel: Wir werden uns beim Europäischen Rat Ende Oktober noch einmal mit den ganzen Energiepreisen beschäftigen. Ich rate aber dazu, hier keine zu einfachen Lösungen zu suchen. Wir müssen uns natürlich alles anschauen. Ich habe mit dem russischen Präsidenten Putin über die Befüllung der Gasspeicher und ähnliches in Deutschland und in der Europäischen Union und natürlich auch über die Gasleitung durch die Ukraine gesprochen. Bei Nord Stream 2 steht jetzt der Zertifizierungsprozess an, Nord Stream 2 ist zurzeit also noch gar keine Kapazität, die sozusagen genehmigt ist.

Die Frage ist ja: Gibt es Bestellungen, die getätigt wurden, die von Russland nicht geliefert werden? So, wie meine Information vor wenigen Tagen war - ich kann das für den heutigen Tag nicht aktuell sagen, aber vor wenigen Tagen war es so -, ist das nicht der Fall. Das heißt, es gibt keine Bestellungen, bei denen Russland gesagt hat: Das liefern wir euch nicht, und wir liefern es auch schon gar nicht durch die ukrainische Pipeline. Russland kann ja nur Gas liefern auf der Grundlage von vertraglichen Bindungen, und nicht einfach so. Deshalb ist die Frage: Wird genug bestellt oder ist der hohe Preis im Augenblick vielleicht auch ein Grund, nicht so viel zu bestellen? Das alles soll bis zum Oktober-Rat in Brüssel analysiert werden, und dann werden wir auf dieses Thema zurückkommen.

Wir sind hier - das war einhellige Meinung - auch in Konkurrenz zu Asien, zu den gerade sehr gut laufenden wirtschaftlichen Entwicklungen im asiatischen Raum. Die Frage ist aber eben auch: Wie ist bestellt worden und wie sind die Abhängigkeiten? In Deutschland sind sehr, sehr viele Gasverträge auch längerfristiger Natur. Es gibt andere, die sind sehr viel stärker auf die Spotmärkte angewiesen. All das spiegelt sich im Augenblick in diesen Preisfluktuationen wider.

Ich will dann nur noch einmal daran erinnern, dass wir uns natürlich auch an sehr geringe Gaspreise gewöhnt haben. Zum Beispiel konnte das ganze Shale-Gas in den Vereinigten Staaten von Amerika in den letzten Monaten überhaupt nicht mehr gewonnen werden, weil der Gaspreis so gering war, dass sich das überhaupt nicht rentiert hat. Jetzt kommt eine größere Nachfrage, und jetzt muss man sich das wirklich umfassend anschauen.

Frage: Frau Bundeskanzler, vom Ratsvorsitz gab es zum Gipfel den Vorschlag, den Westbalkanländern eine ganz klare zeitliche Perspektive aufzuzeigen und zu sagen: Wenn ihr bis 2030 die Voraussetzungen erfüllt, nehmen wir euch auf. Haben Sie diesen Vorschlag unterstützt, und wenn ja, warum nicht?

BK’in Merkel: Ich habe den Vorschlag nicht unterstützt, weil ich glaube, dass auch diese Aussage nicht sachgerecht gewesen wäre. Montenegro hat schon sehr viele Kapitel geöffnet und kann vielleicht sehr schnell fertig werden. Ich werde Montenegro jetzt nicht sagen: Dann ist die Perspektive aber auch 2030. - Ich halte von diesen Zeitperspektiven nicht so viel, sondern ich halte etwas davon, dass wir unser Wort halten. Wenn die Bedingungen erfüllt sind, dann kann ein Beitritt erfolgen. Bis jetzt könnte kein Beitritt erfolgen, weil noch von keinem der Länder die Bedingungen erfüllt werden.

Richtig ist, dass auch wir uns fragen müssen: Was brauchen wir noch an Vorbereitungen? Wir haben ja in den letzten Jahren eine Sache verbessert, nämlich den Beitrittsprozess noch einmal neu strukturiert. Es wird jetzt nicht mehr Kapitel für Kapitel aufgemacht, sondern es werden solche Cluster gebildet, meinetwegen zur Rechtsstaatlichkeit und allen dazu gehörigen Kapiteln. Das wird die Art des Beitrittsprozesses verändern. Ich habe das neulich mit Aleksandar Vučić besprochen. Aber ich halte nichts von so einer Deadline, die zum Schluss uns unter Druck setzt, egal ob die Bedingungen erfüllt sind oder nicht erfüllt sind. Wir haben ein klares Commitment gemacht. Die Beitrittsperspektive ist da, und haben auch gesagt, was die Voraussetzungen dafür sind. Dann müssen wir vonseiten der Europäischen Union allerdings auch bereit sein, Länder aufzunehmen. Dafür bin ich.

Frage: Hallo, Frau Bundeskanzlerin! Sie fliegen ja heute Abend noch weiter nach Rom, um morgen den Papst und den italienischen Ministerpräsidenten zu treffen. Können Sie kurz sagen, was eigentlich Zweck der Reise ist? Was bedeutet es für Sie, den italienischen Ministerpräsidenten zu treffen, mit dem Sie ja einige Krisen zusammen durchlaufen oder sie gemanagt haben?

Können Sie vielleicht noch einmal ganz kurz rückblickend sagen - - -

StS Seibert: Können wir es bei einer Frage belassen?

BK’in Merkel: Ja, sehr schön!

Zusatz: Ja, okay.

StS Seibert: Danke.

BK’in Merkel: Erstens mache ich meinen Abschiedsbesuch beim Papst. Das ist, glaube ich, auch kein Geheimnis. Zweitens werde ich dann auch bei der Friedensversammlung von Sant’Egidio auftreten. Mit Sant’Egidio habe ich schon viel gemeinsam gemacht und auch schon einmal so eine Friedensversammlung besucht, die in Deutschland stattgefunden hat.

Dann werde ich auch so etwas wie meinen Abschiedsbesuch - aber ich könnte auch Antrittsbesuch sagen - bei Mario Draghi in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident machen. Ich habe gemeinsam mit ihm Krisen gemeistert, aber in einer vollkommen anderen Rolle. Damals war er Präsident der Europäischen Zentralbank und hat wichtige Schritte zur Sicherung des Euro unternommen. Aber jetzt begegnen wir uns ja in einer ganz anderen Rolle, und deshalb freue ich mich auf diesen Besuch. Er hat mich neulich in Deutschland besucht, und ich finde, unter Mario Draghi mit seiner ja zurzeit sehr inklusiven Regierung ist in Italien manches auf den Weg gekommen. Ich glaube, wir brauchen ein ökonomisch starkes Italien, und Mario Draghi hat dafür schon sehr wichtige Schritte unternommen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich wollte noch einmal nach den Westbalkanstaaten fragen. Sie haben jetzt das geopolitische Interesse der EU beschrieben. Sie haben gesagt, wie der Prozess für diese Staaten abläuft. Frankreich ist ein Land, das sagt, auch die EU müsse sich noch anpassen und müsse beitrittsreif werden. Teilen Sie das? Wo genau muss etwas passieren, oder könnten diese sechs Länder, wenn sie die Kriterien erfüllen, auch einfach so in genau diese EU aufgenommen werden?

BK’in Merkel: Ich hatte ja schon darauf hingewiesen, dass in dem Abschlusskommuniqué auch dieser zweite Aspekt benannt wird. Er ist im Übrigen nicht neu. Früher hat man das die Kopenhagener Kriterien genannt, dafür, dass die Absorptionsfähigkeit auch der Europäischen Union vorhanden sein muss. Ich glaube, dass für Frankreich einfach die Funktionsfähigkeit wichtig ist. Wir diskutieren ja bei der Konferenz für die Zukunft Europas auch einige Fragen: Kann man bestimmte außenpolitische Entscheidungen auch einmal fällen, wenn nicht Einstimmigkeit herrscht? Kann das Mehrheitsprinzip gestärkt werden? - Das sind Aspekte, die ich schon auch wichtig finde; denn je mehr wir sind, umso größer ist natürlich die Gefahr, dass ein einziges Land alles blockieren kann, was eine große Mehrheit will. Das steht im Raum.

Aber meine Haltung ist: Wenn Montenegro morgen oder in wenigen Jahren so weit wäre, beizutreten, dann hätten wir die Pflicht, das zu erledigen und nicht eine weitere Hürde zu nehmen, die dann wieder dazu führt, den Ländern auf eine andere Art und Weise „Jetzt dürft ihr aber nicht beitreten“ zu sagen. So, wie wir es geschafft haben, den Beitrittsprozess neu zu strukturieren, kann man es aus meiner Sicht auch sehr schnell schaffen, diese Beitrittsfähigkeit zu erreichen.

Im Übrigen gibt es ein Thema, auf das ich heute hingewiesen habe und das, glaube ich, noch einmal sehr in Betracht gezogen werden muss - Ursula von der Leyen und die Kommission haben das ja auch im Blick -, nämlich dieses große Investitionsprogramm. Wir werden ja jetzt das ganze Programm „Fit for 55“, die Klimaneutralität 2050 und die Frage diskutieren, welche Ziele dabei bis 2030 zu erreichen sind. Wenn diese Länder in den nächsten Jahren beitrittsfähig sein sollen, dann müssen Sie sich natürlich auch auf diesen Weg begeben, damit sie dann beim Beitritt auch sagen können: Auch wir werden 2050 klimaneutral sein. - Das hat natürlich auch erhebliche Auswirkungen auf die Energieversorgung und die gesamte Einstellung in Richtung des Klimaschutzes. Diesen Aspekt haben wir ja bisher in den Beitrittsverhandlungen mit den Staaten des westlichen Balkans noch nicht so gehabt. Aber man kann ja nicht sechs Länder aufnehmen, die dann zwar die Korruption bekämpft und die Rechtsstaatlichkeit eingeführt haben, aber sagen „Bis 2050 können wir nicht klimaneutral sein“. Deshalb müssen viele der Investitionsmittel, die die Kommission jetzt zur Verfügung stellt, auch genau für diesen Pfad vorbereitet werden.

StS Seibert: Dann sind wir am Ende der Pressekonferenz angelangt. Vielen Dank. Kommen Sie einigermaßen trocken nach Hause!

BK’in Merkel: Ich wusste gar nicht, dass es in Slowenien so viel regnen kann. Das kennt man sonst nur von Deutschland. Kommen Sie auch trockenen Fußes nach Hause!