Die Macht der digitalen Revolution

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Im Wortlaut: Gabriel Die Macht der digitalen Revolution

"Die Mehrheit will dort dabei sein, wo schon heute die Zukunft stattfindet", so Bundeswirtschaftsminister Gabriel. Die Ausgestaltung der Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung liege dabei in den Händen Europas. Das Urteil des EuGH zum "Recht auf Vergessen" begreift er als Handlungsaufforderung.

  • Ein Beitrag von Sigmar Gabriel
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Vizekanzler.

"Löschen" muss zum Grundrecht des digitalen Zeitalters werden, so Gabriel

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Das Internet ist eine junge Technologie. Wer heute Mitte vierzig oder älter ist, hat als Teenager weder Mails geschrieben noch Facebook benutzt, um sich mit Freunden auszutauschen. Die heute Zwanzigjährigen sind indes hineingeboren in das digitale Zeitalter. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Welt nicht nur politisch fundamental verändert, sondern auch ökonomisch. Globale und mächtige Unternehmen sind in kurzer Zeit entstanden: Amazon wurde 1996 gegründet, Facebook 2004, Youtube 2005, Twitter 2006, und wer die genauen Daten im Gespräch gerade nicht parat hat, muss keine Nachschlagewerke in der Bibliothek aufblättern, sondern klickt ein Stichwort in sein Smartphone und wird bei Wikipedia informiert, der 2001 gegründeten, kollaborativ und unentgeltlich gespeisten Internet-Enzyklopädie mit ihren 30 Millionen Artikeln in 280 Sprachen. Vielen voran, ging Google am Tag der Bundestagswahl 1998 mit seiner Suchmaschine online.

Die Macht der digitalen Revolution liegt darin, dass kein Mensch direkt gezwungen wird mitzumachen. Vielmehr will jeder dabei sein und tut es aus freien Stücken. Die Nutzung dieser Technologie ist inzwischen in der Wirtschaft unvermeidbar. Und im privaten Leben ist sie auch Ausdruck und Bestandteil eines Lebensgefühls von Modernität. Die digitale Welt ist zu der Welt geworden, in der die Mehrheit lebt. Nur Eremiten könnten dem von Hans Magnus Enzensberger in dieser Zeitung erteilten Rat folgen, das Mobiltelefon wegzuwerfen und sich mehr oder weniger freiwillig ins Tal der Ahnungslosen zu setzen. Die große Mehrheit will dort dabei sein, wo schon heute die Zukunft stattfindet.

Es ist also kein äußerer Feind, der mit einer Kolonisierung unserer Lebenswelt droht. Es sind die Emotionen und Identitäten des modernen Menschen selbst, die zur Debatte stehen. Denn die Revolution des Personal Computers, Urahn aller Smartphones, hat dazu geführt, dass der Mensch sich technologisch bereichert und nicht enteignet fühlt. Deshalb geht es auch nicht darum, einer neuen "Maschinenstürmerei" das Wort zu reden.

Gleichwohl hat Evgeny Morozov recht in seinem unerbittlichen Beitrag "Wider digitales Wunschdenken": Wir müssen die Mystifizierungen, die "das Internet" umgeben, entzaubern. Denn so verführerisch glatt, bunt und simpel uns die Nutzeroberfläche des digitalen Wandels entgegentritt, so abgründig und undurchdringlich erscheinen dem durchschnittlichen Nutzer Programmierungen, Rückkopplungen und Abhängigkeiten hinter der glitzernden Fassade des world wide web. Die Aufforderung, in unseren Schulen Programmiersprache zum Pflichtfach zu machen, ist alles andere als absurd. Ihre Kenntnis bestimmt jedenfalls mehr über die persönliche Autonomie im digitalen Zeitalter als die Kenntnis antiker Sprachen.

Es beginnt mit einer Sensibilisierung für Sprache und Begriffe, die uns vom und im Netz angeboten werden. "Cloud" etwa ist eben keine Wolke wie im Werbehimmel, sondern, wie Evgeny Morozov schreibt, ein Bunker in Utah. Es sind gewaltige, stromfressende Rechnerfabriken, denen wir unsere persönlichen Daten überlassen. "Smart" ist ein weiteres dieser Zauberworte. Kleinstcomputer, Telefone, Uhren, aber auch Feuermelder oder Autoelektronik, die als "intelligent" gelten, sorgen zugleich dafür, dass unsere Bewegungen und Handgriffe, unsere Vorlieben und Gewohnheiten als Datenspuren lesbar, speicherbar, vernetzbar und kommerzialisierbar werden.

Längst ist klar: Die von vielen inzwischen als unerlässlich begriffenen Smartphones "beobachten" ständig unsere Bewegungen, dokumentieren unser (nicht nur) kommunikatives Verhalten und messen und übermitteln dies alles an gigantische Rechnerzentren. Die scheinbar harmlose Miniaturmaschine in der Innentasche unserer Anzüge und Jacken hat ein Eigenleben entwickelt. Die "Suchmaschine" Google wird missverstanden: Sie ist kein Instrument, dessen man sich bedient wie eines passiven Werkzeugs der analogen Welt. Sie ist ein Instrument, das selbst aktiv wird, und zwar auf eine für uns unsichtbare Art und Weise. Jedes Mal, wenn wir mit Google suchen, sucht Google uns, nimmt Informationen über uns auf, die für gezielte, personalisierte Werbung verkauft werden können, aber grundsätzlich auch unserer Bank, unserer Krankenkasse, unserer Kfz- oder Lebensversicherung oder bei Bedarf einem Geheimdienst zur Verfügung stehen. Und nichts ist kostenlos, sondern bezahlt wird mit persönlichen Daten - und, wenn wir nicht aufpassen, am Ende auch mit persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit.

Dasselbe Prinzip gilt für "smart driving", "smart home", für "smarte" Kleidung, für die gesamte Durchdringung unserer Lebenswelt. Die Produkte verlieren damit ihre Unschuld. Mit jeder Berührung aktivieren wir ein digitales Echo, eine Rückkopplung mit den unserer Kontrolle entzogenen Datenspeichern, die sich zur lückenlosen Lesbarkeit des Menschen auswachsen. "Ich lese und werde gelesen. Ich kaufe und werde Produkt", schreibt Frank Schirrmacher in seinem Appell an die Adresse der Sozialdemokratie, diese fundamentale Revolution unserer sozialen Welt nicht zu verschlafen. Denn es geht um eine urliberale und eine ursozialdemokratische Aufgabe: den ungezähmten Datenkapitalismus zu bändigen und zu zähmen, ohne ihm seine Innovationskraft und seine individuelle und gesellschaftliche Nützlichkeit zu rauben. Um die Würde des Menschen und seine Freiheit zu bewahren und gleiche Chancen auf Teilhabe und Teilnahme für alle zu schaffen.

Die seit vergangenem Sommer als Reaktion auf Edward Snowden laufende F.A.Z.-Serie zur Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hat sich immense Verdienste erworben um die Aufklärung dessen, was uns in diesem sogenannten Neuland erwartet: technisch, ökonomisch, in unserer Konsum- und Lebenswelt, vor allem aber in unserem Anspruch auf Freiheit und Demokratie; denn genau dieser Anspruch ist durch eine neue Macht von Datenkonzernen und Geheimdiensten in Frage gestellt — vor allem dann, wenn sie miteinander kooperieren. Die Beiträge dieser Serie sind eine Sternstunde des politisch relevanten Feuilletons und haben erstmals seit langem wieder eine politische Zeitgenossenschaft begründet, in der über die existentiellste politische Frage diskutiert wird: Wie wollen wir in Zukunft gemeinsam miteinander leben? Die Debatte umkreist sozusagen "das" wichtigste "Stichwort" der "geistigen Situation unserer Zeit", wie der berühmte Titel des von Jürgen Habermas herausgegebenen Sammelbandes der Gesellschaftskritik Ende der siebziger Jahre lautete.

Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, hat völlig zu Recht die Politik zum Kampf aufgerufen: Entweder wir verteidigen unsere Freiheit und ändern unsere Politik, oder wir werden zu digital hypnotisierten Mündeln der Datenherrschaft. Wie sehr dieser Appell gewirkt hat, zeigen die Beiträge von Juli Zeh, Evgeny Morozov, von Internetavantgardisten wie Sascha Lobo oder Jaron Lanier und anderen in dieser Zeitung. Aber auch ein Verleger wie Mathias Döpfner hat mit beispielloser Offenheit zugegeben: "Wir fürchten diese neue Macht!"

Was ist jetzt zu tun? Die Fragen richten sich immer ungeduldiger an die Politik. Was tut ihr, die ihr dafür gewählt worden seid, die Freiheit des Bürgers zu schützen und die Grundrechte der analogen Welt im digitalen Zeitalter durchzusetzen? Wenn ihr es nicht schafft, wer denn sonst? Wer entscheidet, nach welchen Regeln wir leben? Wer schützt das Recht? Diese Entscheidungsfrage gehört nicht zuletzt auf die Tagesordnung der europäischen Politik. Und dort hat sie Martin Schulz verankert. Sie gehört in die politische Auseinandersetzung um die Zukunft und die Aufgaben Europas. Denn im nationalen Rahmen ist diese Herausforderung nicht mehr zu lösen. Es gibt viele Gründe, an der Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai teilzunehmen; aber diese gehört zweifelsohne zu den wichtigsten.

Nur die Europäische Union hat die Macht, die Politik zu verändern und die Spielregeln neu zu bestimmen. Das Europäische Parlament und die Kommission können den Kampf um die Selbstbehauptung der Demokratie anführen. Denn Europa kann die Größe seines Marktes nutzen, um dem, so Mathias Döpfner, brutalen "Informationskapitalismus" die Stirn zu bieten, dessen Infrastruktur beherrscht wird von einer Handvoll amerikanischer Internetkonzerne, die als globale Trusts nicht nur das Wirtschaftsleben des 21. Jahrhunderts dominieren könnten.

Europa steht für das Gegenteil dieser totalitären Idee, jedes Detail menschlichen Verhaltens, menschlicher Emotionen und menschlicher Gedanken zum Objekt kapitalistischer Vermarktungsstrategien zu machen. Zur Würde des Menschen gehört vor allem sein Selbstbestimmungsrecht auch und gerade über seine persönlichen Daten. Und Marktwirtschaft ist für uns etwas anderes als ein "Halsabschneider -Wettbewerb", bei dem die schier unbegrenzte Marktmacht des einen allen anderen die Bedingungen zur Marktteilnahme vorschreiben kann.

Die europäische Politik ist gefordert und die Aufgabe klar umrissen: Wer diesen Markt in Europa betreten und hier Geld verdienen will, der muss seine "Hausordnung" achten und sich seinen demokratisch legitimierten Gesetzen unterwerfen. Die Europäische Kommission kann, wenn ein klarer politischer Wille sie führt, eine neue Ordnung der Datenökonomie durchsetzen, die für ganz Europa und seine Menschen Datensicherheit und Datenautonomie schafft und damit Augenhöhe und fairen Wettbewerb wiederherstellt.

Deutschland, aber auch alle anderen Partner, die sich dem Diktat der Internetmonopolisten widersetzen wollen, haben ein großes Interesse daran, dass Europa gemeinsam handelt. Denn nur so können wir verhindern, gegeneinander ausgespielt zu werden — mit immer neuen Schlupflöchern, mit Datenschutz- oder Steuerdumping. Europäische Solidarität ist hier wirklich ein Machtfaktor.

Wie stark diese Macht sein kann, hat uns schlagartig das unerwartete Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Google vor Augen geführt: Erstmals wird der Internetgigant dazu verpflichtet, sensible Daten zu löschen. Und nicht nur das. Das Gericht stellt die Souveränität des Rechts wieder her, indem es sagt, dass Google europäische Standards nicht deshalb umgehen kann, weil es seine Daten außerhalb der EU bunkert und verarbeitet. Die Bürger Europas bekommen durch den Richterspruch die Chance, sich zu wehren gegen eine scheinbare ungreifbare Ausbeutung ihrer persönlichen Informationen. Das sollte uns Mut machen und auch die Politik zum Handeln antreiben.

Unsere Aufgabe als Politiker ist es nun, die gelungene gesellschaftliche Debatte in praktisches politisches Handeln umzusetzen. Wir haben vier fundamentale Aufgaben im Kampf um die Freiheit in der digitalen Ära.

Erstens: Wir müssen den Bürgern die Verfügungsmacht über den Gebrauch der digitalen Technologie sichern und, wo sie schon entglitten ist, zurückerobern. Das Demokratiegebot, die Fundamentalnorm jeder freiheitlichen Verfassung, dass jeder selbst über sein Schicksal entscheide, muss auch im Datenzeitalter gelten, wo jeder selbst darüber befinden soll, wie viele Informationen er über sich selbst in Umlauf setzt. Wo diese Freiheit eingeschränkt wird, um zum Beispiel Meldepflichten oder Strafverfolgung zu ermöglichen, muss dies aufgrund eines Gesetzes und in Übereinstimmung mit der Verfassung geschehen. Der Grundsatz bleibt unerschüttert: individueller Besitz und persönliche Verfügung über eigene Daten. Dies gilt besonders für die privatwirtschaftliche und kommerzielle Verwertung unserer Identität. Es muss auch für die "digitale Personalakte" gelten, für das, was der Arbeitgeber über den Angestellten wissen will. Voraussetzung und erster Schritt für die Wiedergewinnung digitaler Autonomie ist die heute weitgehend verlorene Transparenz, wer überhaupt welche Daten der Bürger nach welchen Mustern und zu welchen Zwecken sammelt, speichert und weiterveräußert. Wir brauchen, unter anderem, eine öffentlich regulierte Zertifizierung, eine "Datenschutzampel" für Apps, Software und Social Media. Die Regel heißt: keine Erfassung, keine Verarbeitung und keine Profilbildung, die vom Bürger nicht ausdrücklich autorisiert worden ist.

Die Preisgabe von persönlichen Daten muss außerdem widerrufen werden können. Der EuGH hat es klargemacht: Die Reversibilität von Entscheidungen ist eine entscheidende Garantie der Freiheit. "Löschen" muss zum Grundrecht des digitalen Zeitalters werden. Dazu gehören nun auch gesetzliche Regeln, die kommerzielle Datenverwerter dazu verpflichten, Informationen über eine Person nicht nur unsichtbar zu machen, sondern vollständig aus den Speichern zu entfernen.

Die Europäische Datenschutzgrundverordnung ist ein scharfes Schwert in diesem Kampf: Einwilligung der Nutzer, Portabilität von Daten, Recht auf Löschen sind Teil des Entwurfs. Das Europäische Parlament hat die Verordnung beschlossen. Jetzt ist der Rat an der Reihe. Damit Deutschland dabei seinen in Teilen besseren Standard, zum Beispiel im Beschäftigtendatenschutz und im öffentlichen Sektor, halten kann, muss den Mitgliedsstaaten nur erlaubt werden, höhere Standards beizubehalten. Das darf aber keine Ausrede für weitere Zeitverzögerungen und kein Einfallstor für Lobbyisten werden, die sich lästige Auflagen vom Hals halten wollen.

Zweitens: Die Wirtschaftspolitik steht vor der fundamentalen Herausforderung, die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft auf die Höhe des digitalen Zeitalters zu bringen. Konstitutive Elemente dieser Ordnung stehen in Frage: Die Vertragsfreiheit und der freie Wettbewerb drohen zur Schimäre zu werden, wo die Ungleichheit zwischen den Wirtschaftssubjekten absurde Ausmaße annimmt, wo in neufeudaler Selbstherrlichkeit auftretende Monopolisten sich rechtsstaatlichen Regeln entziehen und notwendige Informationen verweigern. Der klassische Eigentumsbegriff bekommt Risse, wo Gratisangebote ganze auf bezahlten Gütern fußende Märkte zerstören oder die unautorisierte Kopie und Verfügbarmachung von Inhalten den Urheber enteignet. Ordnungspolitik ist also gefordert, wo nach der Finanzmarktkrise ein weiteres Mal regellose Märkte und maßlose Marktakteure großen Schaden anzurichten drohen.

Das ist kein Hemmnis, es ist die große Chance neuer wirtschaftlicher Kreativität. Im "Informationskapitalismus", in dem Daten zum neuen Goldstandard werden, wird Datensicherheit zum Standortfaktor. Ich bin sicher, wir verfügen in Deutschland und Europa über den wissenschaftlichen Erfindergeist, über die politische und ökonomische Innovationskraft, um Selbstbestimmung, Sicherheit, würdige Arbeit zu unserem Markenzeichen in der Ära der digitalen Ökonomie zu machen. Dabei müssen wir gerade mittelständische Unternehmen bei der Digitalisierung unterstützen. Wir streben ein IT-Sicherheitsgesetz an, das die Unternehmen und den Staat dazu verpflichtet, bessere Schutzvorkehrungen zu treffen. Es kann neue Investitionen auslösen und den Markt für Sicherheit im Internet vergrößern.

Schließlich: Wirtschaftsministerium und Bundeskartellamt prüfen, ob ein Unternehmen wie Google seine marktbeherrschende Stellung missbraucht, um durch die Beherrschung einer "essential facility", einer wesentlichen Infrastruktur, Wettbewerber systematisch zu verdrängen. Eine Entflechtung, wie sie bei Strom- und Gasnetzen durchgesetzt wurde, muss dabei ernsthaft erwogen werden. Sie kann aber nur ultima ratio sein. Wir fassen deshalb zuerst eine kartellrechtsähnliche Regulierung von Internetplattformen ins Auge. Dreh- und Angelpunkt dabei ist das Gebot der Nichtdiskriminierung von alternativen Anbietern, die Platzhirsche innovativ herausfordern.

Drittens: Wir brauchen ein Stoppschild für Steuerdumping. Mindestbesteuerung in Europa ist ein Thema für die Hüter des Wettbewerbs in der digitalen Ära. Es kann doch nicht sein, dass der Internethandel durch aggressive Verlagerung der Gewinne in Steueroasen und Steuerunterbietungsländer radikal der Besteuerung ausweicht, während die normalen Einzelhändler vor Ort, die sich an die Regeln halten, zugrunde gehen. Mit solchen Methoden hat Apple seine Steuern auf im Ausland erzielte Gewinne auf ein Prozent, Google auf drei und Amazon auf fünf reduziert. Europa muss dagegen härter angehen — und das als solidarisches Handeln begreifen. In der digitalen Ökonomie müssen wir sicherstellen, dass der Ort der Wertschöpfung wieder mit dem Ort der Besteuerung übereinstimmt.

Gewinnverlagerungen müssen begrenzt werden: Lizenzzahlungen von global aufgestellten Unternehmen an Briefkastenfirmen in Steueroasen, um ihre Gewinne dort zu konzentrieren, wo kaum oder keine Steuern anfallen, sind einzudämmen. Das wird seit geraumer Zeit sehr bewusst betrieben: Patente liegen bei einer Scheinfirma, und aus den anderen Standorten fließen Gebühren, bis der Gewinn weggerechnet ist. Wir müssen erreichen, dass Lizenzzahlungen nur dann als steuermindernde Betriebsausgabe anerkannt werden, wenn im Zielland eine angemessene Besteuerung erfolgt.

Viertens: Wir müssen eine Ordnung der Arbeit formulieren, in der die "Clickworker" nicht zu den rechtlosen Tagelöhnern der digitalen Moderne werden. Wir sehen, wie Beschäftigte unter einen beispiellosen Überwachungsdruck gesetzt werden können, wenn ihr PC-Bildschirm, die Kamera oder gar Sensoren an ihrem Körper ununterbrochen ihre Produktivität messen und melden. Wir sehen, wie die Arbeit ihren festen Ort, ihre Grenze zur Freizeit, ihre auf Dauer angelegte Vertragsbeziehung zum Arbeitgeber verliert, wie feste Arbeitsplätze durch "Projekte" abgelöst werden, die im Netz ausgeschrieben oder auktioniert werden, damit die schnellsten und billigsten Anbieter von Arbeit zum Zuge kommen, das heißt: Alle arbeiten, aber nur der Gewinner wird bezahlt. Die technischen Möglichkeiten zur Zerstörung menschenwürdiger Arbeit lassen sich beliebig weitertreiben. Die entscheidende Frage ist, ob wir dies zulassen und ob wir in einer solchen Welt leben wollen. Diese Debatte müssen wir mit den Gewerkschaften vorantreiben.

Wenn wir zurückblicken auf den Gründergeist des Silicon Valley, dann können wir daraus die Zuversicht ziehen, dass die digitale Ära, die aus kleinen Anfängen mit einer großen Idee gestartet ist, offenbleibt für innovative Ideen, die das Arbeiten und Leben der Menschen zum Besseren verändern. Und dafür brauchen wir Gründer, die das auszeichnet, was im utopiehungrigen Kalifornien durchaus einmal vorhanden war: das Gespür für die Emanzipation des Menschen aus unwürdigen Abhängigkeiten. Aufgabe der europäischen Politik ist es, mit der Kraft einer kristallklaren Analyse, aber auch mit der Eingriffsmacht eines großen Wirtschaftsraums in der Lage zu sein, die demokratisch legitimierte Rechts - und Marktordnung des digitalen Zeitalters neu zu formulieren und dann durchzusetzen, ja durchzukämpfen, wo es sein muss.

Wir haben die naive und spielerische Phase des Internets hinter uns gelassen. Wir sehen klarer: Die Gefahren der digitalen Revolution liegen zum einen in autoritären oder gar totalitären Tendenzen, die den Möglichkeiten der Technologie selbst innewohnen, zum anderen darin, dass neue Monopolmächte Recht und Gesetz aushöhlen. Es geht also um nicht weniger als die Zukunft der Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung und damit um Freiheit, Emanzipation, Teilhabe und Selbstbestimmung von 500 Millionen Menschen in Europa. Und es ist einmal mehr die Aufgabe von überzeugten Demokraten, den technologischen und wirtschaftlichen mit dem politischen und gesellschaftlichen Fortschritt in Einklang zu bringen. Wenn die Quelle der Gefahr eines digitalen Totalitarismus im Autonomieverlust des Menschen liegt, dann müssen wir von dieser Wurzel her unsere politische Antwort entwickeln. Der Kampf um die Demokratie des digitalen Zeitalters ist der Kampf um die Selbstbestimmung des Menschen.

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