Mit "U-Turn" auf den richtigen Weg

Interview zum Tag der Demokratie Mit "U-Turn" auf den richtigen Weg

Junge Menschen vor einer Radikalisierung bewahren und ihnen die Stärken unserer Demokratie vermitteln: Extremismusprävention ist die Kernaufgabe des Dortmunder Projekts "U-Turn". Wer besonders gefährdet ist und wie sich jeder Einzelne im Alltag verhalten kann, beschreibt Projektleiter Paul Mentz im Interview.

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Symbolfoto zum Thema Demokratie

Demokratie als Wertesystem vermitteln - das ist eines der Ziele des Projekts "U-Turn"´.

Foto: picture alliance / Frank May

"U-Turn" steht für einen 180 Grad-Richtungswechsel. Das Dortmunder Projekt "U-Turn – Wege aus dem Rechtsextremismus und der Gewalt" unterstützt Menschen, die aus der rechtsextremen Szene aussteigen möchten. Eine weitere Aufgabe ist es, insbesondere junge Leute vor einer Radikalisierung zu schützen. "U-Turn" arbeitet eng mit zahlreichen Multiplikatoren und zivilgesellschaftlichen sowie staatlichen Akteuren und Institutionen zusammen. Hinter dem Projekt steht der Verein "BackUp- ComeBack". Paul Mentz ist Projektleiter bei "U-Turn".

Herr Mentz, ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Prävention. Worauf kommt es dabei besonders an?   

Paul Mentz: Demokratievermittlung ist für unsere Arbeit ein ganz zentraler Punkt. Wir sind oft mit einem Problem an Schulen konfrontiert, wenn sich junge Leute radikalisieren. Dann ist es keine einfache Aufgabe, unsere Demokratie als Wertesystem zu vermitteln. Viele dieser Schüler erfahren beispielsweise bei den Klassensprecher-Wahlen die Konsequenz des reinen Mehrheitsverhältnisses. Das ist ja ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie. Die Schüler verstehen dies aber oft als deutliche Niederlage, wenn sie selbst oder ihre Freunde nicht zur Mehrheit, sondern zur Minderheit gehören.

Einige können es nur schwer akzeptieren, dass sie für sich selbst oder ihre Anliegen keine demokratische Mehrheit bekommen. Dann herrscht mitunter die Meinung, dass es in dem Fall besser ist, gleich das ganze System zum Einsturz zu bringen. Diese Denkweise lässt sich natürlich von Erlebnissen im kleinen schulischen Rahmen auf größere Entscheidungen in der Gesellschaft übertragen, beispielsweise bei politischen Wahlen.

Da setzt dann unsere Präventionsarbeit an. Wir klären beispielsweise auf, welche Rechte Minderheiten haben und dass diese Rechte durch unser Grundgesetz geschützt sind. Dieser Schutz und die Freiheit des Individuums sind in unserer Demokratie wahrlich besser gewährleistet als in anderen, beispielsweise diktatorischen Systemen. Das ist eine ganze wichtige Botschaft.

Erkennen die Jugendlichen den Vorteil der Demokratie denn nicht von allein?     

Mentz: Sie nehmen diese Vorteile oft in Anspruch, allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein: beispielsweise, wenn es um die Äußerung der eigenen Meinung geht. In unseren Schul-Workshops machen wir deutlich, dass die Meinungsfreiheit und die anderen Rechte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht got gegeben sind. Und dass jeder von uns in unserer Demokratie diese Rechte Tag für Tag leben und einfordern kann. Im Gegensatz zu autoritären Systemen. Im Gespräch mit den Jugendlichen gehen wir auf die individuellen Lebenslagen ein und beschreiben die großen Vorteile unseres Wertesystems für jeden Einzelnen.

Wer ist denn besonders gefährdet, sich zu radikalisieren?

Mentz: Das ist sehr unterschiedlich und individuell verschieden. Meistens spielen mehrere Aspekte eine Rolle. Eine Gefahr besteht beispielsweise, wenn jemand häufig Vorurteile teilt, die auch im nicht extremistischen gesellschaftlichen Diskurs geäußert werden. Wenn diese Vorurteile dann auch von Rechtsextremen aufgegriffen werden, kann das schon eine Radikalisierung bedeuten.

Häufig sind es auch Menschen, die nicht in unsere Gesellschaft integriert sind und die sich als Verlierer und als nicht zugehörig verstehen. Bei ihnen kann der Kontakt zu Extremisten dazu führen, dass ihr Selbstwertgefühl steigt und sie sich sogar als Teil einer ausgewählten Elite begreifen. Andere sind auf der Suche nach Anerkennung und einem Freundeskreis, mit dem sie gemeinsam etwas Aufregendes erleben können. Besonders groß ist das Problem, wenn jemand schon in einer Familie mit extremistischen Ansichten aufwächst. Hier ist es auch für uns schwierig, die Betroffenen aus ihrem sozialen Umfeld hinauszukommen.

Wie gelingt es Ihnen denn, Menschen vor der Radikalisierung zu bewahren?

Mentz: Ich nenne als Beispiel einmal Unterstützung bei der Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit. In einem Fall hat ein junger Mann regelmäßig Kampfsport-Events besucht, die die rechtsextreme Szene organisiert hat. Als wir mit ihm ins Gespräch kamen, wurde schnell klar, dass es weniger um extremistische Ideologien, sondern vielmehr um das Gefühl der Zusammengehörigkeit ging. Deshalb haben wir ihm den Kontakt zu einer Gruppe von Kampfsport-Interessierten aus dem anti-rassistischen Milieu vermittelt. Dort kann er seinen Sport ausüben, erlebt ein Gemeinschaftsgefühl und bekommt dieselbe Anerkennung. Wichtig sind die Veränderung des sozialen Umfeldes und die Befriedigung des gleichen ursprünglichen Bedürfnisses.

Der 15. September 2020 ist der "Internationale Tag der Demokratie". Die Vereinten Nationen rufen dazu auf, die Grundsätze der Demokratie zu fördern und zu verteidigen. Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck und vielen Maßnahmen und Initiativen für Demokratie und gegen Extremismus ein. Ein wichtiger Pfeiler ist das Bundesprogramm "Demokratie leben" des Bundesfamilienministeriums. Hierfür stehen in diesem Jahr mehr als 115 Millionen Euro zur Verfügung. "Demokratie leben" fördert auch das Dortmunder Projekt "U-Turn".        

       
Sie sind natürlich besonders geschult: Doch was kann jeder Einzelne tun, der extremistische Äußerungen im Alltag mitbekommt?

Mentz: Natürlich sollte sich niemand selbst gefährden. Aber den Mund aufmachen und sachlich argumentieren, ist grundsätzlich schon sehr wichtig. Wobei auch nicht jeder dahergesagte Spruch beispielsweise eines Jugendlichen automatisch bedeuten muss, dass dieser später ein Nazi wird. Wenn man aber im öffentlichen Raum auf wirkliche Vorurteile trifft, sollte man dagegenreden. Viele halten das für zwecklos, weil sie der Überzeugung sind, dass sich die Meinung des Gegenübers ohnehin nicht ändern lasse. Das mag in vielen Fällen erst einmal auch so sein. Aber zumindest erfährt derjenige, der das Ressentiment geäußert hat, eine Reaktion. Dadurch fühlt er sich überhaupt erst wahr- und auch ernstgenommen. Mitunter beschäftigt er sich auch langfristig mit den Argumenten desjenigen, der Zivilcourage gezeigt hat.

Dann darf nicht vergessen werden, dass es in der Öffentlichkeit häufig unbeteiligte "stumme" Zuhörer gibt. Das heißt, dass die eigene Position von den Unbeteiligten wahrgenommen wird. Dadurch werden zumindest sie vielleicht auch von den Argumenten überzeugt. Oder sie teilen sie bereits und fühlen sich dadurch ermuntert, künftig in einer ähnlichen Situation selbst das Wort zu ergreifen.

Woher nehmen Sie Ihre persönliche Motivation für Ihre Arbeit?

Mentz: Ich habe oft die Erfahrung gemacht, wie wichtig gerade die Diskussion mit jungen Leuten ist, die stark zu Vorurteilen neigen. Viele von ihnen sind in einem bestimmten Alter dabei, sich ein Bild von der Welt zu machen. Und wenn ich sie dann in der Diskussion abhole, kann ich sie vielleicht nicht direkt überzeugen. Aber wenn sie etwas älter sind, reflektieren sie und fangen an, eigene Aussagen und Inhalte kritisch zu hinterfragen. Oder sie werden im Umgang mit anderen viel empathischer. Wenn man dies dann später mitbekommt, das ist schon motivierend. Und unser Einsatz lohnt sich; sowohl für die Gesellschaft als auch für jeden Einzelnen, den wir vor der Radikalisierung bewahren oder den wir beim Ausstieg aus der Szene helfen.