Pressekonferenz des Bundeskanzlers nach dem NATO-Gipfel in Den Haag
Die 32 NATO-Partner haben beschlossen, die Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen, um Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu sichern. Außerdem bekräftigten sie, einander im Verteidigungsfall beizustehen.
- Mitschrift Pressekonferenz
- Mittwoch, 25. Juni 2025

„Artikel 5 des Nordatlantikvertrages gilt“, sagte Kanzler Merz nach dem Gipfel.
Foto: Bundesregierung/Marvin Ibo Güngör
„Das ist ein denkwürdiger Tag, der ganz sicher in die Geschichte der NATO eingehen wird“, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz nach dem Abschluss des NATO-Gipfels in Den Haag. Aber auch für Deutschland, gerade vor dem Hintergrund der 70-jährigen Mitgliedschaft Deutschlands in dem Bündnis. Es sei „ganz entscheidend das Verdienst der NATO“, dass die Menschen seit Jahrzehnten in Frieden, Freiheit und in Sicherheit im euroatlantischen Raum leben könnten, so der Kanzler.
Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sowie Irans illegales Nuklearprogramm gefährdeten die Sicherheit und den Frieden. „Diese Krisen zeigen, was wir an der NATO haben,“ betonte Merz.
Das Wichtigste in Kürze:
- Wirkungsvoll abschrecken: Die NATO-Mitglieder haben beschlossen, künftig 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für militärische Ausrüstung aufzuwenden und 1,5 Prozent für zivile Verteidigung und militärisch genutzte Infrastruktur. Das sei nötig, um Russland wirkungsvoll abzuschrecken und um das Fundament für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu legen. Die zusätzlichen Ausgaben erfolgten im Interesse der eigenen Sicherheit, nicht „um irgendjemanden einen Gefallen zu tun”, betonte Merz.
- Beistandspflicht: Die NATO-Staaten bekräftigten, dass sie einander beistehen werden, wenn eines der Mitglieder angegriffen wird. „Artikel 5 des Nordatlantikvertrages gilt“, so Merz. Das sei ein Zeichen der Stärke und Geschlossenheit gegenüber unseren potentiellen Gegnern.
- Führungsrolle: Die Bundesregierung werde eine Führungsrolle im Bündnis übernehmen. Deshalb sei das Ziel, die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee in der EU zu machen. „Wir tun das für ein sicheres und friedliches Europa in einer starken und geeinten NATO", erklärte der Kanzler.
- Waffenstillstand zwischen Israel und Iran: Die NATO-Staaten begrüßten den Aufruf des amerikanischen Präsidenten Donald Trump zum Waffenstillstand zwischen Israel und Iran. Wenn der Waffenstillstand gelinge, sei dies eine gute Entwicklung, die den mittleren Osten und die ganz Welt sicherer mache, sagte Merz.
- Ukraine unterstützen: Die Mitglieder der NATO werden die Ukraine weiter unterstützen. Dafür werden in diesem Jahr 40 Milliarden Euro bereitgestellt. „Unsere ukrainischen Partner verteidigen nicht nur ihr eigenes Land. Sie verteidigen auch unsere Freiheit”, so Merz. Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stand nicht auf der Tagesordnung.
Lesen Sie hier das gesamte Statement:
Bundeskanzler Friedrich Merz
Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zum Abschluss des heutigen NATO-Gipfels in Den Haag.
Dies ist ein denkwürdiger Tag, der ganz sicher in die Geschichte der NATO eingehen wird. Es ist aber auch für uns ein denkwürdiger Tag; denn dieser NATO-Gipfel findet wenige Tage, bevor wir in Berlin die 70-jährige Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der NATO begehen werden, statt. 1955, vor 70 Jahren, ist Deutschland der NATO beigetreten. Der eine oder andere von Ihnen wird das wissen: Ich bin in diesem Jahr geboren. Seitdem sind in Deutschland drei Generationen groß geworden, die nichts anderes kennengelernt haben als Freiheit, als Frieden, als Mitgliedschaft in der NATO. Millionen Familien leben seit diesem Jahr 1955 in Deutschland und im euroatlantischen Raum in der NATO.
Um uns herum ist die Welt unsicherer geworden. Russland führt einen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Irans illegales Nuklearprogramm hat eine Eskalation ausgelöst, die im ganzen Nahen Osten und Mittleren Osten widerhallt. Insbesondere der Blick auf Moskau zeigt, was wir an der NATO haben; denn wir dürfen Freiheit, Frieden, Sicherheit nicht einfach als gegeben hinnehmen. Die Bedrohung, die von Russlands militantem Revisionismus ausgeht, müssen wir ernst nehmen, und wir müssen uns auf die Einsicht besinnen, dass wir uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen. Dem folgen jetzt sehr konkrete Taten.
Wir haben auf diesem wohl historischen Gipfel zwischen allen 32 NATO-Partnern vereinbart, dass wir unsere Verteidigungsausgaben in den nächsten Jahren auf insgesamt fünf Prozent des BIP anheben. Wir werden bekräftigen, dass wir einander beistehen, wenn einer von uns angegriffen wird – Artikel 5 des NATO-Vertrages gilt. Das ist ein klares Zeichen der Stärke gegenüber allen unseren potenziellen Gegnern, und es ist ein Zeichen der Geschlossenheit. Ich will an dieser Stelle sagen: Das diplomatische Geschick des Generalsekretärs Mark Rutte hat diesen Erfolg überhaupt erst möglich gemacht.
Ich will auch unseren Gastgebern danken, der niederländischen Regierung und dem Ministerpräsidenten Dick Schoof. Wir werden künftig gemeinsam 3,5 Prozent unseres BIP für unmittelbare Verteidigungsausgaben aufwenden. Das gibt uns die notwendigen Fähigkeiten, um wirkungsvoll abzuschrecken. Weitere 1,5 Prozent werden wir für verteidigungs- und sicherheitsrelevante Ausgaben aufwenden, die für die zivile Verteidigung und die militärisch genutzte Infrastruktur notwendig sind.
Ich habe bei meinem jüngsten Besuch in Washington genauso wie heute Morgen unmittelbar nach Präsident Trump in meinem Beitrag hier gesagt: Diese großen Investitionen tätigen wir nicht, um irgendjemandem einen Gefallen zu tun, sondern wir tätigen diese Investitionen, weil wir sie ausgeben wollen, weil wir sie ausgeben müssen – im Interesse unserer eigenen Sicherheit. Wir leisten sie in unserem eigenen Interesse. Wir investieren in das Fundament unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unseres Wohlstands. Wir sind dabei unverändert dankbar, dass die USA ihren unverzichtbaren Teil zur euro-atlantischen Sicherheit beitragen. Im Gegenzug können unsere amerikanischen Partner darauf vertrauen, dass wir unseren fairen Beitrag leisten.
Wir haben keine Zeit zu verlieren. Umso wichtiger war mir vor dem Gipfel, dass die Bundesregierung eine Führungsrolle im Bündnis übernimmt und dass auch der Aufwuchs der Verteidigungsausgaben im Bundeshaushalt abgebildet wird. Ich habe in meinem Beitrag heute auch noch einmal auf die Änderung des Grundgesetzes Bezug genommen, die wir vorgenommen haben, um genau das zu ermöglichen. Wir wollen die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee in der Europäischen Union machen. Deshalb setzen wir uns für einen starken europäischen Pfeiler des Bündnisses mit einer kraftvollen Verteidigungsindustrie ein.
Ich werde gleich auch noch Präsident Selenskyj treffen. Er weiß, dass wir hier keine neuen Entscheidungen zu treffen haben, dass wir aber unverändert klar und ohne jede Einschränkung an der Seite dieses geschundenen Landes stehen. Von diesem Gipfel geht ein weiteres, erneutes substanzielles Zeichen der Unterstützung aus, für das auch ich mich sehr engagiert habe. In der Schlusserklärung bekennen sich die Mitglieder des Bündnisses allesamt dazu, ihre Unterstützung der Ukraine fortzusetzen. Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben versetzt die Allianz in die Lage, neben den eigenen Streitkräften auch die Ukraine weiter zu unterstützen. Wir haben uns schon im Jahr 2024 darauf verständigt, im Jahr 2025 40 Milliarden Euro für die Ukraine zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, dass uns das auch für das laufende Jahr gelingt. Insofern ist das alles für uns ein gemeinsamer Erfolg.
Wir haben uns am Rande des Gipfels natürlich auch über die aktuelle Lage im Nahen und Mittleren Osten ausgetauscht. Den Aufruf des amerikanischen Präsidenten zu einem, wie wir sagen, sequenzierten Waffenstillstand begrüßen wir. Wenn dieser Waffenstillstand nach den notwendigen militärischen Schlägen der israelischen Armee und der USA gegen die iranischen Nuklearanlagen in Fordo, Natans und Isfahan gelingt, dann ist das eine gute Entwicklung, die den Mittleren Osten und die ganze Welt sicherer macht. Ich danke vor allem, dass viele diesem Aufruf jetzt folgen. Das sind nicht nur wir hier, sondern das sind auch Länder wie Katar und andere Staaten der Region. Ich danke diesen Ländern für ihre Vermittlungsrolle, für ihre Besonnenheit und für ihre Mitwirkung in den letzten Tagen und Stunden.
Mit den amerikanischen und den europäischen Partnern werden wir am Rande auch weiter die politische Lage besprechen. Das gilt auch für mich; ich werde heute noch einige weitere Gespräche führen. Wir gehen heute Abend dann gemeinsam nach Brüssel und werden die Diskussionen morgen im Rat der Europäischen Union fortsetzen. Ich denke, es ist eine gute Abfolge, in dieser Woche von Den Haag aus gleich nach Brüssel zu gehen und im Europäischen Rat die weiteren Schlussfolgerungen für Europa daraus zu ziehen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich hatte Gelegenheit, am Rande dieses Treffens auch mit Präsident Trump noch einmal persönlich zu sprechen. Ich habe ihm im Hinblick auf die Lage in der Ukraine noch einmal unseren dringenden Wunsch vorgetragen, dass man auch auf amerikanischer Seite zu weiteren Sanktionen gegenüber Russland kommt. Es wird keine militärische Lösung dieses Konfliktes geben. Wir müssen den wirtschaftlichen Druck auf Moskau erhöhen. Die Europäische Union tut dies. Das 18. Sanktionspaket wird morgen endgültig auf den Weg gebracht. Aber das allein wird nicht reichen. Wir brauchen auch eine stärkere Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika an solchen Sanktionen. Das Paket im Senat wird in den nächsten Tagen möglicherweise zur Abstimmung stehen. Dort gibt es immer eine entsprechende Freizeichnung für den Präsidenten, der eine eigene Entscheidung treffen kann, ob er es in Kraft setzt oder nicht. Aber ich habe Donald Trump noch einmal ermutigt, das zu tun, damit auch Amerika hier einen höheren Druck auf Moskau ausübt, damit Moskau an den Verhandlungstisch zurückkehrt.
Ich habe gerade auch noch ein längeres Gespräch mit Präsident Erdoğan gehabt und ihm dafür gedankt, dass die Türkei bereit ist, eine entsprechende Vermittlerrolle einzunehmen und auch Istanbul oder Ankara als Plätze für ein solches Treffen zur Verfügung zu stellen. Ich habe Präsident Erdoğan auch gebeten, seinerseits auf Russland und den russischen Präsidenten Einfluss auszuüben, an den Verhandlungstisch zu kommen, damit es nach den schrecklichen dreieinhalb Jahren des Krieges und des Blutvergießens in der Ukraine nun endlich zu einer Friedenslösung kommen könnte.
Lesen Sie hier die Fragerunde im Anschluss:
Frage: Spanien nimmt sich sozusagen eine Extrawurst heraus und interpretiert die Erklärung für sich so, dass es sagt: Wir können die Fähigkeitsziele der NATO mit weniger Geld erreichen, also nicht mit den 3,5 Prozent. Fürchten Sie eine solche Debatte in Deutschland, die darauf hinausläuft, dass das neue Ziel in Höhe von fünf Prozent verwässert wird?
Sie hatten am Rande des Gipfels Gelegenheit, mit Trump zu sprechen. Hat er Ihnen versichert, dass er nicht an Artikel 5 rütteln wird?
Bundeskanzler Friedrich Merz: Das Letzte zuerst: Das ist auch ihm auch auf dem Gipfel selbst noch einmal sehr klar und sehr deutlich gesagt worden. Ich will nicht sagen, dass ich überrascht wäre, aber ich bin darüber erfreut, dass es in keinem seiner Statements, die er abgegeben hat, vorher, nachher, offiziell, inoffiziell, irgendeinen Zweifel von seiner Seite aus an der Bereitschaft gegeben hat, die Solidarität im Bündnis in vollem Umfang einzuhalten.
Was Spanien betrifft, hätte ich mir eine andere Lösung vorstellen können. Aber solange Spanien die NATO-Ziele und die Fähigkeitsziele, die die NATO aufstellt und die Spanien einhalten will, erreicht, ist das zunächst einmal gut. Wir werden spätestens 2029 in eine Überprüfung gehen. Dann wird sich auch spätestens 2029 herausstellen, ob Spanien seine Zusagen auch mit weniger finanziellem Aufwand einhalten kann.
Wir haben die Entscheidungen in der Bundesregierung schon getroffen. Sie werden auch in unserer Haushaltsplanung abgebildet. Insofern gibt es aus deutscher Sicht keine Besorgnis, dass darüber noch einmal eine Diskussion stattfindet.
Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben heute Morgen und auch eben noch einmal deutlich gesagt, dass Russland die Ordnung in Europa bedrohe, nicht nur die Ukraine. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat dem seinerseits entgegnet, dass Russland nicht stark genug sei, um die NATO zu bedrohen, und er sich eigentlich nur um Wettbewerbsfähigkeit Europas Sorgen mache. Wie Trump auf Russland blickt, wissen wir nicht genau, auch nicht nach dem heutigen Tag, denke ich.
Wie sehr nagt das am Selbstverständnis eines Bündnisses, das am Ende ja darauf angewiesen ist, dass es eine gemeinsame Bedrohungswahrnehmung hat?
Bundeskanzler Merz: Ich will es so beantworten: Ich habe heute wirklich allen 31 Wortmeldungen sehr sorgfältig zugehört. Ich bin jetzt zum ersten Mal auf einem NATO-Gipfel. Ich war überrascht und erfreut zugleich, wie klar und wie einvernehmlich alle Beiträge waren, die wir heute gehört haben. Niemand hat einen Zweifel daran gelassen, dass der Weg, den wir jetzt gemeinsam gehen, richtig ist.
Dass es unterschiedliche Einschätzungen zu Russland gibt, ist bekannt. Das betrifft nicht nur Ungarn. Es betrifft noch mindestens ein weiteres Land in der Europäischen Union. Dass Russland nicht stark genug ist, die NATO als ganze anzugreifen, wissen wir. Aber wir wissen nicht, ob es nicht vielleicht unsere Verteidigungsbereitschaft eines Tages testen wird. Ich habe das in meinem Beitrag auf Englisch so zum Ausdruck gebracht: Es soll bitte niemand wagen, die NATO anzugreifen, und zwar an keiner Stelle.
Ich habe in meinem Beitrag auch noch einmal auf die Litauenbrigade hingewiesen, die wir jetzt aufstellen. Es ist ein singulärer Vorgang, dass innerhalb der NATO ein Mitgliedstaat eine ganze Brigade dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat stationiert. Das ist übrigens in vielen Beiträgen, die wir heute gehört haben, mit sehr viel Zustimmung und Dank verbunden worden.
Insofern macht mir das, ehrlich gesagt, keine Sorgen. Dass wir im Detail an der einen oder anderen Stelle unterschiedliche Bewertungen haben, ist nichts Neues. Das hat es in der NATO schon immer gegeben. Emmanuel Macron und ich, wir saßen heute nebeneinander. Dabei ging mir durch den Kopf, dass es in der Zeit von de Gaulle über mehrere Jahre einen leeren französischen Stuhl gegeben hat. Wenn Sie vor diesem Hintergrund sehen, wie klein unsere Differenzen heute sind, dann gibt es, denke ich, keinerlei Veranlassung, sich irgendwelche Sorgen über die Zukunft der NATO zu machen.
Frage: Herr Bundeskanzler, noch einmal zum Thema der Ukraine: Sehen Sie das, was hier auf dem Gipfel beschlossen wurde, nicht als Rückschritt? Zum Beispiel wurden keine konkreten Hilfszusagen beschlossen. Auch der unumkehrbare Weg der Ukraine in die NATO ist in der Abschlusserklärung nicht mehr enthalten.
Zu Ihrem Gespräch mit Donald Trump: Haben Sie irgendein Signal bekommen, dass er sich doch zu Sanktionen durchringen kann? Sehen Sie in dem, was im Konflikt zwischen Iran, Israel und den USA erreicht worden ist, vielleicht ein Momentum, um auch im Ukrainekrieg weiterzukommen?
Bundeskanzler Merz: Zunächst einmal: Das Thema einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO stand nicht auf der Tagesordnung. Es kann auch gar nicht auf der Tagesordnung stehen, weil die NATO keine Mitgliedstaaten aufnimmt, die zurzeit auf ihrem Territorium einen Krieg austragen. Insofern gab es heute überhaupt keine Veranlassung, über das, was bereits beschlossen ist, noch einmal hinauszugehen und es zu besprechen.
Die Hilfszusagen für die Ukraine werden zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und darüber hinaus koordiniert. Es wird auf Initiative von einigen NATO-Staaten in den nächsten Tagen noch einmal eine Videokonferenz dieser sogenannten Koalition der Willigen geben. Ich will übrigens sagen: Ich habe heute Morgen mit dem neuseeländischen Premierminister gefrühstückt, der vom ganz anderen Ende der Welt aus auch gesagt hat, dass er selbstverständlich auch aus Neuseeland heraus bereit ist, einen finanziellen Beitrag zum Schutz und für die Hilfe der Ukraine zu leisten. Das ist also im Augenblick alles auf einem guten Weg.
Was Trumps Meinungsbildung betrifft, kann ich nichts Neues sagen. Ich habe den Eindruck, dass er intensiv darüber nachdenkt, was er tun kann. Ich habe ihm aus meiner Sicht noch einmal gesagt, dass es jetzt vor allem in seiner Hand liegt, eine entsprechende weitere Hilfestellung zu geben und im, sagen wir einmal, Gefolge dessen, was im Iran in den letzten Tagen geschehen ist, vielleicht auch ein solches Momentum zu nutzen – nicht militärisch, aber handelspolitisch. Ich habe ihm aus meiner Sicht auch noch einmal dargelegt, dass wir hinsichtlich unserer Möglichkeiten, die wir in der Europäischen Union haben, ganz objektiv fast alles ausgeschöpft haben, was wir tun können. Das, was jetzt an Sanktionen in Amerika kommen könnte, also das, was die Gruppe um Lindsey Graham für den Senat vorbereitet, betrifft ja vor allem China und Indien. Das sind Sanktionen, die nur die Vereinigten Staaten von Amerika verhängen können, nicht die Europäische Union. Insofern ist da ein Meinungsbildungsprozess im Gange, der nach meinem Eindruck aber noch nicht abgeschlossen ist.
Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben mit Ihrer Meinungsänderung hinsichtlich der Schuldenbremse, die dann zur Verfassungsänderung geführt hat, ja selbst viel politisches Kapital investiert. Wenn Sie jetzt vier Monate nach der Münchner Sicherheitskonferenz oder auch der Vorführung Selenskyjs im Weißen Haus einmal zurückblicken, sind Sie dann an einem Punkt, an dem Sie sagen, dass die NATO gerettet ist, dass sie für die absehbare Zukunft nicht mehr infrage steht?
Bundeskanzler Merz: Ich bin Ihnen dankbar für die Frage, weil ich mir heute im Laufe des Tages angesichts der Wortbeiträge, die wir gehört haben, mehrfach selbst die Frage gestellt habe, wie wir eigentlich daständen, wenn wir diese Entscheidung nicht getroffen hätten. Was wäre hier heute eigentlich diskutiert worden, wenn der zweitgrößte Mitgliedstaat und Beitragszahler der NATO diese Entscheidung nicht getroffen hätte? Das ist Spekulation, aber der heutige Tag wäre ziemlich sicher anders verlaufen. Sie haben selbst eben noch einmal gesagt, und ich habe es ja auch gesagt, dass ich dafür viel Kredit in Anspruch genommen habe. Aber wir haben mit dieser Entscheidung auch eine gewisse Führungsrolle übernommen, der andere mit ihren Entscheidungen gefolgt sind, nun ihrerseits auch die Beiträge und die Aufwendungen zu erhöhen. Ich will es also nicht überbewerten, aber wenn wir heute so dagestanden hätten, wie wir in den letzten Jahren – im Grunde genommen in den letzten zehn Jahren – unsere NATO-Verpflichtungen behandelt haben, dann wäre dies vermutlich heute anders ausgegangen – sicherlich nicht besser, ziemlich sicher im Streit und wahrscheinlich mit einer erheblichen Schwächung der gesamten NATO. Ich habe mir genau diese Frage immer wieder gestellt: Was hätte ich heute eigentlich sagen sollen, können und müssen, wenn wir eine solche Grundlage nicht gehabt hätten? Ich bin heute noch einmal fester davon überzeugt, dass die Entscheidung, die wir mit der Änderung des Grundgesetzes getroffen haben, die richtige gewesen ist.
Frage: Herr Bundeskanzler, ich habe eine Frage zu den fünf Prozent. Der amerikanische Präsident hat für sich in Anspruch genommen, dass die USA sich nicht daran halten müssten.
Sie haben das diplomatische Geschick des NATO-Generalsekretärs gelobt. Einige sagen auch, es sei devot und nicht diplomatisch, wie er Trump gegenübergetreten ist.
Bundeskanzler Merz: Als devot habe ich das nicht empfunden. Ich habe es mit meinen Worten ein bisschen nüchterner ausgedrückt. Aber wahr ist und bleibt natürlich, dass erst diese amerikanische Administration in Kombination mit dem Krieg in der Ukraine uns überhaupt dazu veranlasst hat, jetzt das zu entscheiden, was wir heute entschieden haben. Insofern bin ich mit dem Ergebnis wirklich sehr zufrieden.
Ich habe an keiner Stelle irgendwo vom amerikanischen Präsidenten eine Forderung gehört, dass er nun im Gegenzug in Zukunft sehr viel weniger leisten will. Im Gegenteil: Er hat noch einmal den Aufwuchs der amerikanischen Verteidigungsausgaben genannt, auch in Zahlen ausgedrückt. Amerika bleibt mit riesigem Abstand vor allen anderen – mit riesigem Abstand vor allen anderen! – das Land mit den höchsten Verteidigungsausgaben, und Amerika bleibt auch das Land, dass an der Schnittstelle zwischen Verteidigungsausgaben und Forschung und Entwicklung am meisten tut. Da hat es ja in Amerika in den letzten Jahrzehnten beziehungsweise schon immer ohnehin eine ganz andere Tradition als in den meisten europäischen Ländern gegeben. Zum Beispiel ist die Frage, welche Entwicklungsaufträge, welche Forschungsaufträge aus dem Pentagon heraus vergeben werden, in Amerika immer anders als in Europa behandelt worden. Das, was zum Beispiel mit Dual-Use-Gütern verbunden ist, ist in Amerika immer anders als in Europa behandelt worden. Ich glaube also, da brauchen sich die amerikanische Regierung und der amerikanische Präsident keine Vorwürfe machen zu lassen. Amerika geht den Weg, den wir hier gemeinsam beschlossen haben, ohne Einschränkungen mit.
Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben ja eben das Risiko angesprochen, dass Russland die NATO zumindest einmal herausfordert. Das wird ja, wenn es der Fall sein wird, vermutlich nicht in dem klassischen Sinne passieren, dass Panzer irgendwo über die Grenze rollen, sondern eher ein bisschen unorthodox, ohne Hoheitsabzeichen und so weiter. Spielt das eigentlich eine Rolle in den Gesprächen, also die Gefahr der hybriden Kriegsführung?
Dann habe ich noch die Frage: Wie gut ist die NATO eigentlich darauf vorbereitet, den Fall zu identifizieren, also festzustellen, ab wann es noch eine Provokation ist und ab wann es ein Kriegsfall wäre, und dann auch schnell Einigkeit herbeizuführen?
Bundeskanzler Merz: Das ist eine extrem wichtige Frage, weil wir, glaube ich, der Öffentlichkeit jetzt noch viel mehr als in der Vergangenheit erklären müssen: Was bedeutet eigentlich Aggression, und was bedeutet eigentlich das Wort Krieg?
Wir werden hier keine digitalen Entscheidungen mehr sehen, so wie wir das jetzt mit diesem Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 sehen. Wir erleben ja tägliche Angriffe, zum Beispiel auf unsere Datennetze. Wir erleben die Beschädigung und Zerstörung von Unterseekabeln in der Ostsee. Wir erleben Fehlinformationen, Fake News, mit KI generierte falsche Nachrichten. Das alles hat auch – nicht nur, aber auch – einen Hintergrund in russischen Trollgruppen, in russischen Nachrichtendiensten, in Gruppen, die von Russland aus gefördert und unterstützt werden. Wir haben deswegen auch eine vierte Teilstreitkraft bei der Bundeswehr, die sich gegen Cyberangriffe wehrt. Das, was wir im 20. Jahrhundert unter Krieg verstanden haben, ist also nicht mehr das, was wir im 21. Jahrhundert unter völlig veränderten technologischen Bedingungen unter Krieg verstehen müssen.
Wir erleben diese Angriffe auf unsere Datennetze, auf unsere Infrastruktur. Wir haben illegale Drohnenüberflüge, es wird ausspioniert, Kasernen werden ausspioniert. Wir haben eine ganz andere Dimension und einen ganz anderen Übergang zwischen Frieden und Krieg. Das ist nicht mehr digital null oder eins, sondern es sind fließende Übergänge, und das findet statt. Das werden wir wahrscheinlich auch politisch noch viel intensiver erläutern und auch an Beispielen belegen müssen, was da im Augenblick stattfindet; wir werden von Russland bereits in diesem Sinne angegriffen. Dagegen müssen wir uns wehren. Deswegen gibt es die Teilstreitkraft Cyber-Verteidigung, und deswegen werden wir auch in diese Instrumente viel mehr investieren müssen.
Vielleicht auch das noch hinzugefügt: Ich biete allen Partnerstaaten in der Europäischen Union wie in der NATO an, dass wir auch auf dem Gebiet der Intelligence, also der Nachrichtendienste, enger zusammenarbeiten, um hier unsere Erkenntnisse zu teilen. Die Zeit, in der wir alles gleichzeitig parallel und für uns alleine machen können, ist vorbei. Deswegen führe ich auch so intensive bilaterale Gespräche. Wir müssen hier zu anderen Formen der Zusammenarbeit kommen, und das betrifft ganz ausdrücklich auch diesen Bereich. Wir müssen unsere Gesellschaften und unsere Freiheit anders und besser schützen, als wir das in den vergangenen Jahrzehnten getan haben, in der die Bedrohung durch Panzerarmeen sichtbar gewesen ist, sichtbar gemacht werden konnte. Das ist heute eine andere Bedrohung, und auf die müssen wir uns einstellen.
Frage: Die niederländische und die deutsche Armee arbeiten eng zusammen. Können wir noch heute erwarten, dass diese Zusammenarbeit intensiviert wird?
Bundeskanzler Merz: Es gibt kaum zwei Länder in der Europäischen Union und in der NATO, die so eng in einem speziellen militärischen Bereich zusammenarbeiten wie Deutschland und die Niederlande im Bereich der Landstreitkräfte. Die Heeresstreitkräfte der Niederlande sind ja so gut wie vollständig in das deutsch-niederländische Korps mit Sitz in Münster integriert, und gegenwärtig sind sie auch einem deutschen Kommando unterstellt. Dies ist für mich ein Beispiel für eine gute strategische und militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Niederlanden. Ich kann nur dankbar dafür sein.
Es geht übrigens auch weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Beobachtung verloren, was es bedeutet, dass ein Land wie die Niederlande, das im Zweiten Weltkrieg von Deutschland so beschädigt und behandelt worden ist, schon seit vielen, vielen Jahren bereit ist, eine solche Integration der eigenen Landstreitkräfte in die deutsche Bundeswehr zu akzeptieren. Das ist ein Beispiel; aber es wird viele weitere Beispiele geben müssen.
Ich hoffe sehr, dass es durch die Ereignisse, die wir auf der Welt erleben – und das ist das, was ich auch hier von diesem NATO-Gipfel mitnehme – jetzt eine sehr, sehr große Bereitschaft gibt, diese Kooperation auf allen Ebenen zu verbessern, bis hin zu unseren industriellen Fertigungskapazitäten.
Ich werde nicht müde immer wieder darauf hinzuweisen – lassen Sie mich das als abschließende Bemerkung machen: Geld allein löst das Problem nicht. Wir brauchen natürlich mehr finanzielle Mittel, aber wir brauchen auch Personal – das lässt sich durch Geld alleine nicht beschaffen –, und wir brauchen eine sehr viel engere technologische Zusammenarbeit. Wir haben in Europa viel zu viele Systeme, wir haben viel zu kleine Stückzahlen, und in dem, was wir produzieren, sind wir häufig viel zu kompliziert ‑ und damit im Ergebnis zu teuer. Das zu ändern, wird eine Aufgabe der nächsten Jahre sein.
Ich werde allerdings alles tun, und zwar schnell, um dazu einen Beitrag zu leisten, weil ich nicht möchte, dass sich in den alten Strukturen, die wir haben, verfestigt, dass man jetzt unbegrenzt Geld zur Verfügung hat und mit allem, was bisher da war, weitermachen kann wie bisher. Das ist keine Option. Mehr Geld zur Verfügung zu haben, ist der Beginn einer völlig veränderten Strategie in der Verteidigungs- und in der Sicherheitspolitik, und das betrifft alle Bereiche: Personal, Technologie, Stückzahlen, Systemzahlen. Wir sind hier wirklich erst am Anfang, und deswegen ist jede Zusammenarbeit mit jedem Land in Europa herzlich willkommen – auf der militärischen Seite, auf der industriellen Seite, auf der technologischen Seite.
Dies ist für mich heute – wie soll ich das sagen? – auch eine Art Startpunkt. Es ist eine Art Kick-off für das, was wir in den nächsten Jahren gemeinsam in Europa leisten müssen. Ich verbringe auch deshalb so viel Zeit mit diesen Gesprächen, weil ich einfach diese Priorität sehe. Wir müssen jetzt wirklich etwas für unsere Sicherheit, für unsere Freiheit tun.
Mit dem Abschluss des morgigen Europäischen Rates wird natürlich für mich die Innenpolitik, die Wirtschaftspolitik und so weiter wieder eine viel größere Rolle spielen. Ich habe in den ersten sieben Wochen ganz bewusst diese Prioritäten gesetzt – einmal, weil die Konferenzen stattfinden, zum Zweiten aber auch, weil für mich der Rahmen wichtig ist. Das beste Wirtschaftswachstum nutzt uns nichts, wenn unsere Freiheit bedroht ist, und deswegen ist die Priorität für mich genau diese gewesen.
So, vielen Dank. Wir sehen uns möglicherweise noch im Laufe des Tages.